Michael wusste, dass es zu nichts führen würde, wenn er Vera Stanhope jetzt aufsuchte. In seinem Kopf ging es drunter und drüber, die Gedanken jagten einander und wurden immer abstruser, aber er besaß noch genug Verstand, um sich darüber im Klaren zu sein, dass sie sich mit Theorien und Anschuldigungen nicht zufriedengeben würde. Sie würde nur einen durchgeknallten alten Mann voller Groll in ihm sehen. Warum sollte sie ihm zuhören?
Eilig verließ er die Bibliothek, nahm sich kaum die Zeit, um sich bei Lesley zu bedanken, und blieb auch nicht stehen, um in Ruhe seinen Mantel anzuziehen, sondern stopfte ihn sich nur unter den Arm. Auf dem Platz hatten die Männer die Dekorationen fertig angebracht und probierten nun die Lichter aus. Da ist überhaupt nichts Magisches dran, dachte Michael. Er verstand nicht, weshalb so ein Aufwand getrieben wurde. Die Arbeit eines ganzen Vormittags, wofür? Die Glühbirnen waren auch nicht größer als die, die man zu Hause benutzte, aber sie hatten schreiende Farben, Pink, Grellgrün und Schwefelgelb. An einem Draht, der zwischen zwei Laternenpfählen gespannt war, hing ein Schneemann aus billigem Styropor. Er grinste die Vorübergehenden anzüglich an. Michael fand das schiefe Lächeln beunruhigend. Es verfolgte ihn die Straße hinunter bis zu Val’s Diner, wo er eine Tasse Kaffee trank und versuchte, Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Er musste sich einen Plan zurechtlegen, was als Nächstes zu tun war.
An der Bushaltestelle standen zwei Frauen, die aus Elvet in die Stadt gefahren waren, um ihre Einkäufe zu erledigen. Schon von weitem hörte er sie schnattern. «Nur noch ein Monat bis Weihnachten. Es geht doch immer schnell.» Sie trugen beide die gleichen kleinen Lederstiefel mit Pelzbesatz, und auf dem Bürgersteig um sie herum standen unzählige weiße Tragetüten, jede von ihnen war auf ihrer eigenen kleinen Plastikinsel gestrandet. Michael kannte sie. Wenn er sich einen Augenblick Zeit genommen hätte, wären ihm auch die Namen eingefallen. Sie waren mit Peg befreundet gewesen. Aber er jagte immer noch seinen Gedanken hinterher, die vor ihm davonzulaufen schienen, und alles andere war ihm bloß lästig. Er stellte sich hinter sie, in einer ordentlichen Schlange, und merkte plötzlich, dass er angesprochen wurde.
«Michael, das ist ja nett, Sie mal unter Leuten zu sehen. Auch in der Stadt gewesen, um was zu erledigen?» Es war die Kleinere von beiden, mit dem krausen weißen Haar. Er sah sie misstrauisch an, versuchte zu ergründen, ob in ihrer Frage etwas Bedrohliches lag. Es kam ihm sogar kurz in den Sinn, dass sie eine Spionin für Mantel sein könnte, so ausufernd war seine Angst geworden. Dann sagte er sich, dass seine Phantasie mit ihm durchging. Er hatte zu lange nur vor sich hin gebrütet. Dennoch konnte es nicht schaden, vorsichtig zu sein.
«Nein. Ich war nur in der Bücherei.»
«Dann haben Sie nichts gefunden, was Ihnen gefällt?»
«Bitte?»
«Bücher. Sie haben gar keine Bücher dabei.» Sie sprach ganz langsam und schaute dann mitleidig zu ihrer Nachbarin.
«Nein. Ich wollte mir nichts ausleihen. Ich wollte etwas im Lesesaal nachschlagen.»
«Wie schade», sagte sie. «Eine gute Lektüre kann so heilsam sein.»
Da kam der Bus, spuckte seine Abgase in die kalte Luft und enthob ihn der Notwendigkeit einer Antwort. Michael zahlte den vollen Fahrpreis, weil er sich nie um einen Seniorenpass gekümmert hatte, und die Hälfte der Heimfahrt musste er es über sich ergehen lassen, dass die beiden Frauen ihm erklärten, wie man es anstellte, einen zu beantragen. Sie stiegen alle vor der Kirche aus, und Michael blieb noch einen Augenblick stehen, bis die Frauen weggegangen waren.
Er schaute über die Straße zum Captain’s House und konnte erkennen, dass im Wohnzimmer ein Kaminfeuer brannte. Emma Bennett kam heraus und schloss die Tür hinter sich. Sie blieb kurz stehen und ging dann die Straße hinauf. In ihrem langen schwarzen Mantel sah sie sehr chic aus, und er fragte sich, wo sie wohl hinging. Das Baby hatte sie nicht dabei, also musste James zu Hause sein. Es wäre verlockend, einfach an die Tür zu klopfen und ihn mit den Fragen zu konfrontieren, die Michael sich stellte. Allein um sie aus dem Kopf zu kriegen. Aber James hatte ihn schon immer eingeschüchtert, auch als sie noch zusammengearbeitet hatten. Also war das nicht der richtige Weg. Den Bungalow konnte Michael jetzt nicht ertragen, und er machte sich auf den Weg aus dem Dorf hinaus, in Richtung Meer.
Als er noch mit Peg auf der Landspitze gewohnt hatte, war er an manchen Abenden vom Anchor zu Fuß nach Hause gegangen. Nicht weil er zu viel getrunken hatte. Damals ließ sich ja nur alle Jubeljahre mal ein Polizist in Elvet blicken, anders als heute. Seit dem letzten Mord war jeder Zweite, den man sah, ein Fremder, und man erkannte die Polizisten sofort, auch wenn sie Zivil trugen. Nein, damals war er zu Fuß gegangen, weil es ihm Freude gemacht hatte. Ein schöner Abend und der Bauch voll Bier, dann der Spaziergang die Landspitze hinunter, mit dem Fluss auf der einen Seite und dem Meer auf der anderen, in dem Wissen, dass Peg in dem großen, weichen Bett auf ihn wartete. Nur der mit Sternen übersäte Himmel und die Vorfreude. So war es damals doch gewesen, oder nicht? Er konnte den Gedanken nicht ertragen, dass seine Erinnerung ihm vielleicht einen Streich spielte.
Er war zu Fuß losgegangen, weil er sich von der Bewegung Erleichterung erhofft hatte, doch der Weg war länger und beschwerlicher, als er ihn in Erinnerung hatte, und von Süden her blies ihm eine steife Brise ins Gesicht. Aber das half ihm auch, klarer zu denken, und auf einmal wusste er, was er jetzt tun sollte. Er würde mit Wendy sprechen, der Steuerfrau auf dem Lotsenboot. Sie war von Anfang an gut Freund mit James Bennett gewesen, noch bevor er die Zulassung für den Humber bekommen hatte, bevor er nach Elvet gezogen war. Bevor er geheiratet hatte. Michael hatte sogar gemutmaßt, dass zwischen den beiden mehr war als nur Freundschaft, aber das hatte er nicht mehr herausfinden können. Er hatte nur ein paar Wochen lang mit Wendy gearbeitet, in der Zeit der Übergabe, ehe er in Ruhestand ging. Wenn James Bennett, der sonst immer so steif und reserviert war, irgendjemandem etwas über seine Vergangenheit anvertraut hätte, dann wäre es Wendy.
Als er die Lotsenstation erreichte, war es schon später Nachmittag, und das Licht war am Schwinden. Stan, der Zweite Steuermann, hatte Bereitschaft. Er saß am Schreibtisch, die Füße ausgestreckt, las Zeitung und trank Tee. Als Michael hereinkam, hätte man meinen können, Stan hätte ein Gespenst gesehen. «Mensch, alter Knabe, was machst du denn hier?»
Es war schon viele Jahre her, dass ihn jemand «alter Knabe» genannt hatte.
«Habe mir nur ein wenig die Beine vertreten», sagte Michael. «Wie ich sehe, hast du jede Menge zu tun.»
«Noch eine halbe Stunde, dann fahre ich raus und hole einen Lotsen.»
«Wen denn?»
«Einen Neuen, heißt Evans. Du wirst ihn nicht kennen.»
«Weißt du, ob Wendy da ist?»
«Sie hat heute frei. Sie wird im Cottage sein, wenn sie sich nicht irgendwo rumtreibt.»
«Treibt sie sich denn oft rum zurzeit?»
«Mehr als früher. Ich glaube, es gibt einen neuen Mann in ihrem Leben, aber sie verrät nichts.»
Michael ging wieder nach draußen, bevor Stan fragen konnte, was er hier wollte. Der massige graue Rumpf eines Schiffes schob sich den Fluss herauf und näherte sich der Mündung. Es hatte angefangen zu tröpfeln.
Es fühlte sich merkwürdig an, an der Tür des Cottage zu klopfen, in dem er so viele Jahre ein und aus gegangen war. Oben brannte Licht, und man hörte Musik, also musste sie da sein. Er klopfte noch einmal, lauter. Schließlich regte sich etwas im Haus, Wasser lief durch ein Abflussrohr, jemand polterte die Treppe herunter, und sie machte ihm die Tür auf. Sie hatte einen Bademantel an, und ihre Haare waren in ein Handtuch gewickelt. Sie erkannte ihn sofort und war überrascht. Wenn ich jemand anders wäre, dachte er, würde sie sich über die Störung ärgern. Es hat auch sein Gutes, wenn man in Trauer ist. Die Leute meinen, sie müssten freundlich zu einem sein.
«Bitte entschuldigen Sie», sagte sie. «Ich war in der Wanne.»
Sie war barfuß, und er konnte nicht aufhören, ihre Füße anzustarren und die glatte Haut ihrer Beine, die in dem Frotteemantel verschwanden. Er stellte sich vor, wie sie in der Badewanne lag und sich die Beine rasierte. Auf den Zehennägeln trug sie silbernen Nagellack. Wer konnte das zu dieser Jahreszeit sehen? Es war nicht gerade das Wetter für Sandalen.
«Kann ich Ihnen helfen, Michael?», fragte sie und versuchte, ihre Stimme nicht ungeduldig klingen zu lassen. Ihm wurde klar, dass sie auf eine Erklärung wartete, weshalb er hier war.
«Vielleicht komme ich besser herein. Sie holen sich noch den Tod, wenn Sie weiter in der offenen Tür stehen.»
Sie nickte, fügte sich ins Unvermeidliche. «Dann warten Sie doch kurz. Ich ziehe mir nur schnell was an.»
Sie führte ihn in die Küche und ließ ihn dort stehen. Zu Pegs Zeiten hätte er sich die Schuhe ausgezogen, bevor er eingetreten wäre, aber heute schien das kaum nötig zu sein. Er hätte die Küche nicht wiedererkannt. Er ahnte, dass sich unter der ganzen Unordnung nicht viel geändert hatte. Es waren bestimmt noch die gleichen Schränke und Bänke, die Peg sich damals ausgesucht hatte. Doch alles lag voller Zeug. Aus einem Korb quoll die schmutzige Wäsche, Schuhe und Stiefel waren auf einen Haufen geworfen, dreckige Töpfe standen herum, auf einem lila Plastikteller vertrocknete Katzenfutter. Er wusste nicht, was er davon halten sollte, und versuchte, Entrüstung darüber aufzubringen, sagte sich, dass Peg Zustände bekommen würde, wenn sie das sehen könnte, dann aber dachte er, dass es im Grunde nicht wichtig war. Als Wendy wieder hereinkam, in einer Trainingshose und einem Top, an den Füßen Hausschuhe, die zu groß für sie waren, räumte sie ein paar Kleider von einem Stuhl und setzte sich.
«Also, Michael, was kann ich für Sie tun?» Nicht unfreundlich, aber kurz angebunden, um ihm klarzumachen, dass sie ihm nicht viel Zeit widmen konnte. Sie bot ihm auch keinen Tee an, und nach dem Fußmarsch war er am Verdursten.
Er war sich nicht sicher, wie er anfangen sollte. Auf dem Weg hierher hätte er darüber nachdenken sollen, wie er es am besten anpacken würde. Er hätte nicht in die guten alten Zeiten abschweifen dürfen.
«Es geht um James», sagte er. «James Bennett. Wie gut kennen Sie ihn?»
«Wieso, tratschen die Leute?» Sie verengte die Augen, schien sich in ihren Stuhl hineinzuducken wie eine Katze, die zum Sprung bereit war.
«Nein. Nicht so was.»
«Sie wissen doch, wie das ist. Wenn eine Frau mit lauter Männern arbeitet, denken sich die Leute alles Mögliche aus.»
«Nein», sagte er. «Ich dachte bloß, er hätte vielleicht mit Ihnen gesprochen, das ist alles.»
«Worüber denn?»
«Über seine Kindheit, wo er aufgewachsen ist. So was.»
«Wieso wollen Sie das denn wissen?»
Er spürte, wie die Küche sich um ihn drehte, während er verzweifelt nach einer Erklärung suchte, die sie zufriedenstellen würde. «Ich dachte, ich hätte ihn gekannt, als er noch ein Junge war.»
«Aha.»
Wieder dieser panische Strudel. «War er auf der Trinity House School?»
«Nein, war er nicht.»
«Aber er ist doch von hier?»
«Ich glaube nicht, dass er je was darüber gesagt hat. Er ist keiner, der viel redet. Er erzählt nicht viel von sich … Michael, worum geht’s hier überhaupt?»
«Wie gesagt, ich dachte, ich kenne ihn. Bin auf ein altes Foto gestoßen. Das ist ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. Aber damals hat er sich nicht Bennett genannt. Shaw, so hieß er. Ich habe mich gefragt, ob er vielleicht mit Ihnen darüber geredet hat.» Er merkte, dass er nuschelte. Sie sah ihn an, als wäre er ein verrückter Alter, der Obhut der Gemeinschaft überlassen, der zeternd vor sich hin brabbelt, während er die Straße entlanggeht. Er fragte sich, ob er so enden würde, wie an dem Tag, an dem er auf dem Friedhof mit Peg gesprochen hatte. Vielleicht war er ja auch schon so.
«Warum sollte er seinen Namen ändern?» Was Wendy sagte, klang vernünftig. «Sie müssen sich geirrt haben. Bei einem alten Foto kann man das doch nie so genau wissen. Warum fragen Sie ihn nicht einfach selbst, wenn es Ihnen solches Kopfzerbrechen bereitet?»
«Er muss doch was über seine Familie erzählt haben, darüber, was er vor dem Lotsendienst gemacht hat. Sie wissen doch, wie man ins Reden kommt, wenn man auf ein Schiff wartet.»
«James redet nicht viel», sagte sie. «Er ist immer nett und höflich, aber er legt Wert auf seine Privatsphäre. Genau wie ich.» Sie stand auf, und er merkte, dass er nun gehen musste.
«Es tut mir leid, wenn ich Sie belästigt habe. Sie haben recht. Ich muss mich geirrt haben. Bitte entschuldigen Sie. Ich bin momentan nicht ganz bei mir.»
Da empfand sie wieder Mitleid mit ihm. «Wie sind Sie eigentlich hierhergekommen? Wenn Sie kurz warten, bringe ich Sie zurück ins Dorf.»
«Nein, ich will Ihnen keine Mühe machen. Stan hat gesagt, dass er einen Lotsen holt. Mit dem fahre ich dann zurück.»
Sie standen verlegen im Flur. Wendy trat beiseite, um ihn hinauszulassen. In dem Moment hörte man von oben ein Geräusch, ein leises Knarren. Schon zu seiner Zeit war eine der Dielen im Schlafzimmer lose gewesen. Sie sah, dass er es gehört hatte.
«Das muss die Katze sein», sagte sie.
«Aye.» Obwohl er wusste, dass es keine Katze gewesen war. Es war nicht nur das Geräusch von oben, das von mehr Gewicht zeugte, als selbst die schwerste Katze aufbringen konnte. Es war die Art, wie sie geschaut hatte – so, als hätte sie etwas zu verbergen, und gleichzeitig aufgeregt, wie bei einem geheimen Spiel. Nachdem sie die Tür hinter ihm geschlossen hatte, blieb er in dem kleinen Garten stehen und blickte nach oben, wo das Licht gebrannt hatte, doch nun waren die Vorhänge zugezogen, und er konnte rein gar nichts sehen. Das Auto, das hinter dem Cottage parkte, erkannte er als Wendys Wagen.
Das Lotsenboot war noch draußen, und er wartete neben der Station, bis es zum Anlegesteg zurückkam. Er hatte das Gefühl, nicht einfach hineingehen zu können. Das Boot bewegte sich langsam durch die Dunkelheit, und er verspürte einen nostalgischen Stich, den er eigentlich im Haus erwartet hätte. Später sah er mit Stan auf den Fluss hinaus, während der Lotse bei der Leitstelle anrief.
«Mit wem hat sich Wendy da eingelassen? Mensch, du wohnst direkt neben ihr. Du wirst ihn doch mal gesehen haben.»
«Nicht ein Mal. Das muss der Große Unsichtbare sein.»
«Und was sagen die Leute? Ich weiß doch, wie der Klatsch hier die Runde macht.»
«Eins liegt auf der Hand.» Stan tippte sich mit dem Finger an den Nasenflügel. «Er ist verheiratet. Warum sonst sollte sie ihn geheim halten?»