Sie saßen in der Kirche, auf ihren gewohnten Plätzen. Mary und Robert, Emma mit dem Baby auf dem Schoß und James. Zu Marys Füßen stand die riesige Handtasche, die Emma verabscheute und die immer voll unnützem Krempel war. Ein Sonnenstrahl fiel durchs Fenster, färbte den Staub bunt, den der Luftzug von der Tür aufgewirbelt hatte, und malte Tupfen auf das Chorhemd des Pfarrers, der das Hauptschiff hinabschritt, um die Hände der versammelten Gemeinde zu schütteln, die einander Frieden wünschte. Er streckte die Hand über James hinweg, um Emmas Kopf zu berühren. «Friede sei mit dir, mein Kind.»
Genau so hatte die Sonne auch am Morgen ihrer Hochzeit kurz in die Kirche hineingeschienen. James erinnerte sich daran, wie er in der ersten Reihe auf der Bank gesessen hatte, neben Geoff, dem Kollegen, den er überredet hatte, sein Trauzeuge zu sein. Es hatte einige Überredungskunst gebraucht, dachte er jetzt. Geoff hatte sich zwar gefreut, dass er ihn fragte, aber er war überrascht gewesen und konnte sein Erstaunen nicht verbergen. «Ich würde es natürlich gerne machen. Aber für gewöhnlich macht das doch jemand aus der Familie. Oder ein Freund, mit dem du zur Schule gegangen bist. Jemand, den du schon seit Jahren kennst.» James sagte, da gebe es keinen. Keinen, den er lieber als Trauzeugen hätte als Geoff.
Und so hatte er ganz vorn in der Kirche gesessen, erstaunlich ruhig, in dem sicheren Wissen, dass das, was er tat, genau das Richtige war. Die Musik setzte ein. Nicht der Hochzeitsmarsch. Sie hatten sich dagegen entschieden. Die Ankunft der Königin von Saba. Er wusste, dass Emma jetzt kam, aber er drehte sich nicht um, nicht sofort. Er wartete ein paar Takte ab, bevor er sich umwandte. Und genau in dem Augenblick kam die Sonne hervor, warf das Blutrot des Buntglasfensters auf den elfenbeinfarbenen Satin von Emmas Kleid. Sie fing seinen Blick auf und lächelte nervös, und plötzlich dachte er, dass alles sich zum Besten gewendet hatte, wie am schmalzigen Ende eines Liebesromans. Der Tod seines Vaters, die Schande und der Skandal, alles, was dann gekommen war, all das mündete in diesen Moment, in dem er diese wunderschöne junge Frau zu der Seinen machte.
Das Gefühl blieb nur kurz so überwältigend. Die Prozession – Emma am Arm ihres Vaters, zwei kleine Brautjungfern, die vor Aufregung fast platzten – bewegte sich auf den Altar zu, und er musste sich darauf konzentrieren, bei dem Ritual alles richtig zu machen. Und doch hatte er eine Zuversicht daraus geschöpft, die unerschütterlich gewesen war. Bis zu dem jüngst geschehenen Drama.
Als er jetzt in der Kirche saß, die Sonne durchs Fenster schien und der ältliche Pfarrer ihm die Hand gab, kehrte die Zuversicht zurück. Schließlich gab es doch nichts, weswegen er sich Sorgen machen müsste. Die Widrigkeiten der vergangenen Wochen würden vorübergehen, und alles würde wieder in seinen gewohnten Gang kommen. Er würde weiterhin Schiffe sicher den Fluss hinaufbringen und dann nach Hause gehen zu Frau und Kind. Nichts würde das Gleichgewicht ihres Lebens stören.
Er hatte nicht erwartet, dass sich Robert und Mary dem Gedränge rund um die Kaffeetafel im Gemeindesaal aussetzen würden, und tatsächlich blieben sie einen Moment lang im Kirchenportal stehen.
«Möchtest du lieber gleich heimgehen?», fragte Robert seine Frau. James hatte ihn immer für einen starken, verlässlichen Mann gehalten. Einen Mann, der seine Familie zusammenhält. Und unmittelbar nach Christophers Tod hatte es so ausgesehen, als würde er diese Rolle auch weiterhin ausfüllen. Aber heute kam er ihm unschlüssig vor, zaudernd. Er wollte, dass Mary entschied, was zu tun sei.
«Nein», sagte sie. James merkte, dass Springhead House der letzte Ort auf Erden war, an dem sie jetzt sein wollte. «Wir trinken erst einen Kaffee, ja?»
Im Gemeindesaal fühlte sie sich in der Rolle des Gastes offenbar unbehaglich und war drauf und dran, in die Küche zu eilen, sich eine Schürze zu suchen und den Abwasch in Angriff zu nehmen.
«Setzt euch», sagte James. «Ich bringe euch was zu trinken.» Er stellte sich in die Schlange und sah zu den beiden hinüber, die sich über den Resopaltisch hinweg an den Händen hielten und schwiegen. Sie sahen alt aus. Um sie herum kreisten die Gemeindemitglieder wie Raubvögel über einem Tierkadaver, begierig darauf, sie anzusprechen, ihr Beileid zu bekunden. Neuigkeiten zu erfahren.
Emma war noch in der Kirche geblieben, nachdem der Rest der Gemeinde schon gegangen war. Sie hatte James am Ende des Gottesdienstes zugeflüstert, dass sie etwas Zeit für sich brauche. Das respektierte er. Sie war noch so jung und hatte schon so viel erlitten. Jetzt kam sie in den Saal, ohne die mitfühlenden Blicke wahrzunehmen, ihr Gesicht war bleich und still, ausdruckslos. Er hatte noch nie in sie hineinsehen können, und nach Christophers Tod hatte sie sich noch weiter von ihm entfernt. Zwar mochte er es nicht, wenn Gefühle lautstark zur Schau gestellt wurden – als er noch jung war, hatte er zu viel Geschrei und Streiterei, zu viele Tränen miterlebt –, doch jetzt fragte er sich, ob er sie zum Weinen hätte ermutigen sollen. Ob er, als sie gefragt hatte, ob sie miteinander reden könnten, es ihr hätte leichter machen sollen, sich ihm anzuvertrauen.
Er stellte seinen Schwiegereltern die Kaffeetassen hin. Zwei Frauen hatten ausreichend Mut zusammengerafft, um sie anzusprechen, und im Lichte ihrer Aufmerksamkeit waren Roberts Lebensgeister offenbar zurückgekehrt. James ging zu Emma hinüber, die am Fenster stand und auf den Kirchhof hinausschaute, wobei sie eine Strähne ihres Haars um den Finger wickelte.
«Ich würde Robert und Mary gern zum Mittagessen einladen», sagte er. «Hast du was dagegen?»
«Nein.» Sie wirkte überrascht, dass er sie fragte, als hätte er ihre Meinung in solchen Dingen sonst nicht eingeholt. Und vielleicht hatte er das ja auch nicht, dachte er. Seit sie verheiratet waren, war sie so unbeteiligt geblieben, dass er ihr Einverständnis immer voraussetzte. War er etwa mehr wie ein Vater zu ihr gewesen als wie ein Liebhaber?
Im Captain’s House bestand er darauf, selbst zu kochen. Er bat Mary und Robert, im Wohnzimmer Platz zu nehmen, und warf ein paar Holzscheite in die Glut im Kamin. Die Scheite waren trocken, und die Rinde fing sofort Feuer, kräuselte sich vom Holz ab und schickte Funken den Rauchfang hoch. Die beiden starrten in den Kamin wie hypnotisiert und bewegten sich erst, als er ihnen einen Sherry reichte. Noch immer sagten sie nichts. Emma war oben und brachte Matthew ins Bettchen, für den Mittagsschlaf. Wenig später hörte er sie herunterkommen. Er dachte, sie würde zu ihren Eltern gehen, doch stattdessen kam sie in die Küche. Sie stellte sich hinter ihn und küsste ihn auf den Nacken.
«Danke, dass du so nett zu ihnen bist.»
Sie huschte davon, bevor er antworten konnte, und er hörte ihre Stimme, nicht lauter als ein Murmeln, im Nebenzimmer.
Genau das bin ich, sagte er sich. Ein netter Mann, der sich um seine Familie kümmert. Vielleicht sogar ein guter Mann. All das ist keine Lüge.
Am Esstisch fand Robert wieder mehr zu sich selbst, er lebte auf, sprach das Tischgebet und lobte James für dessen Kochkünste. Er trank mehr als sonst, und James fühlte sich daran erinnert, wie Christopher das letzte Mal hier im Haus gegessen hatte. Er hatte immer gedacht, dass Vater und Sohn nicht viel miteinander gemein hätten, doch jetzt konnte er eine Ähnlichkeit feststellen. Einen tragischen Charakterzug. Die Neigung zur Maßlosigkeit.
«Warum bleibt ihr nicht über Nacht?», fragte Emma. Mary fuhr nicht gern mit Roberts Wagen, und James sah Emma an, dass sie meinte, ihr Vater habe schon zu viel getrunken. «Ihr könnt doch morgen früh zurückfahren.»
«Nein», sagte Robert. «Ich muss nach Hause. Ich möchte morgen zur Arbeit gehen.»
«Ist das denn klug?» James hatte Roberts Entscheidungen noch nie zuvor in Zweifel gezogen und kam sich ziemlich mutig vor. «Ich bin mir sicher, dass sie es verstehen, wenn du noch etwas Zeit brauchst. Du könntest mindestens bis Weihnachten freihaben. Für die paar Wochen wieder hinzugehen lohnt doch kaum.»
«Ich würde aber lieber arbeiten gehen. Zu Hause grübele ich zu viel vor mich hin.» Trotzdem griff Robert zur Weinflasche und füllte sein Glas nach.
«Und außerdem», sagte Mary plötzlich, «wenn ich heute nicht wieder nach Hause gehe, werde ich es nie mehr können.» Sie sah, dass alle furchtbar erschrocken waren. «Ich weiß, dass das töricht ist, aber so empfinde ich es nun einmal. Ich könnte nie wieder durch die Tür treten.»
«Dann bringe ich euch heute Abend nach Hause», sagte James. «Erst mal bleibt ihr noch eine Weile hier, ruht euch aus, trinkt noch etwas. Und morgen früh hole ich als Erstes Robert ab, und er kann sein Auto wieder mitnehmen.»
Emma lächelte ihm zu und strich mit den Fingerspitzen über seinen Handrücken.
Später lief im Fernsehen ein alter Film. Im Zimmer war es heiß. Robert und Mary schliefen beide ein. Marys Mund stand ein Stück weit offen, und sie schnarchte von Zeit zu Zeit. Matthew lag bäuchlings auf dem Teppich, umgeben von Spielsachen.
«Ich glaube, der Arzt hat ihnen was zur Beruhigung gegeben», sagte Emma. «Sie wirken ein bisschen weggetreten, findest du nicht? Vor allem Dad. Aber wenigstens auch etwas entspannter.»
Als die beiden aufwachten, machte sie Tee, und James toastete vor dem Feuer Crumpets auf. Er hockte vor dem Kamin und streckte den Arm lang aus, weil die Glut noch so heiß war.
«Was zum Naschen», sagte Emma. Sie sah zu, wie Mary einen Bissen hinunterschluckte und sich dann die Butter von den Fingern leckte. Jetzt sieht Emma genauso aus wie neulich, dachte James, als sie Matthew zum ersten Mal dazu gebracht hat, einen Löffel Brei zu essen.
«Wir sollten uns auf den Weg machen.» Robert erhob sich. Das Teetablett stand noch am Boden, die Gabel zum Auftoasten lag auf dem Kamin. «Bist du so weit, Liebling?»
Draußen, auf der anderen Straßenseite, wartete jemand im Bushäuschen.
«Da wird er aber noch lange stehen», sagte James in der Hoffnung, die Stimmung aufzuheitern. «Am Sonntag fahren keine Busse. Meint ihr, ich sollte ihm das sagen?»
Der Mann drehte sich um und starrte sie an, obwohl er nicht verstanden haben konnte, was James gesagt hatte. Der orange Schein einer Straßenlaterne fiel über sein Gesicht.
«Das ist ja Michael Long», sagte Robert. James hatte ihn im gleichen Moment erkannt. «Vielleicht sollten wir ihn besser in Ruhe lassen.»
Bei Springhead House angekommen, ging James mit ihnen hinein. Er hatte das Haus schon immer gemocht, trotz seiner Macken und Unannehmlichkeiten. Hier war Emma aufgewachsen, und überall gab es Erinnerungen an sie. Schulfotos, Bücher, in denen ihr Name stand, ihre Gummistiefel gleich hinter der Tür. Doch jetzt, als er betreten in der Küche wartete, während Robert und Mary an den Lampen herumfummelten, fragte er sich, wie die beiden die düstere Wandfarbe ertragen konnten, die abgetretenen Teppiche, die Stapel modriger Bücher. Es machte ihn ganz kribbelig, dass sie die nötigen Reparaturarbeiten nie in die Wege geleitet hatten.
«Wollt ihr eigentlich hier wohnen bleiben?», fragte er. «Wollt ihr nicht vielleicht umziehen?»
«Auf gar keinen Fall!», sagte Mary, als hätte er etwas völlig Undenkbares vorgeschlagen. «Wo sollen wir denn hin?»
«Ich weiß nicht. Ihr könntet euch was Kleineres suchen. Vielleicht im Dorf. In Emmas Nähe und bei den Geschäften …» Er brach ab, als er ihre Reaktion sah.
«Kommt nicht in Frage», sagte sie.
«Ich meine ja nur, weil es vorhin so klang, als wolltet ihr nicht hierher zurück …»
«Es tut weh. Aber dieser Ort hier ist alles, was uns noch mit Christopher verbindet.»
Danach sagte sie nichts mehr, und er dachte, er hätte sie gekränkt. Aber als er auf dem Hof gerade in seinen Wagen stieg, kam sie, noch in Hausschuhen, einen Mantel über die Schultern geworfen, zu ihm herausgelaufen.
«Danke für heute Nachmittag. Für das Essen. Dafür, dass du dich so gut um uns kümmerst.»
Er fragte sich, ob die Wirkung der Beruhigungsmittel schon nachgelassen hatte, denn sie kam ihm verstört vor, fast schon besessen.
«Kein Problem. Ihr seid immer willkommen, das wisst ihr.»
«Ich möchte auch etwas für euch tun. Für dich und Emma. Sie hat heute so blass ausgesehen, fandest du nicht?»
«Es ist eine schlimme Zeit für euch alle.»
«Ich möchte Matthew für einen Abend nehmen. Dann könnt ihr mal ein bisschen Zeit zu zweit verbringen. Vielleicht was trinken gehen. Das würde ich sehr gern tun. Wenn ihr mir das zutraut.»
«Natürlich trauen wir dir das zu. Du kannst ihn zu dir nehmen, wann immer du möchtest.»
«Dann morgen. Bringt ihn einfach her.»
Sie eilte zurück ins Haus, und James fragte sich, ob Robert überhaupt bemerkt hatte, dass sie weg gewesen war.
Als James beim Captain’s House ankam, stand Michael Long immer noch am Bushäuschen, die Hände in den Taschen, fest in seinen Mantel gewickelt. Er sah zu, wie James aus dem Auto stieg, erwiderte seinen Blick, als wollte er ihn herausfordern. Die Entfernung war zu groß, als dass James ihm etwas hätte zurufen können, und er schickte sich an, über die Straße zu ihm zu gehen. Die Kirchturmuhr schlug die volle Stunde. Michael blieb einen Moment wie angewurzelt stehen, dann huschte er in Richtung seines Bungalows davon.
Im Haus war Matthew schon im Bett, und Emma räumte die Geschirrspülmaschine ein.
«Meinst du, sie kommen klar?», fragte sie.
«Ich denke schon. Sie sind nur so unnahbar. Schwer einzuschätzen.»
«Ich dachte immer, dass du das an ihnen so bewunderst.»
«Vielleicht ist es ja nicht immer das Richtige.»
«Können wir schlafen gehen?», fragte sie.
Er fühlte sich nervös, als wäre es das erste Mal. Er hatte Angst, etwas falsch zu machen, etwas zu tun, was sie aufregen und die Stimmung verderben würde.
«Natürlich.»
Er war vor ihr im Schlafzimmer und wollte die Vorhänge zuziehen. Michael Long hatte seinen Posten im Bushäuschen wieder bezogen. Er sah zum Fenster hoch.