KAPITEL 4 

WENN DER WILLE SCHWACH WIRD

Wer Mann sein will,

der muss das Königreich

in sich beherrschen.

Als Souverän muss er dort

seinen Thron auf dem

bezwungnen Willen baun,

die Anarchie aus Hoffnungen

und Ängsten unterwerfen

und ganz er selber sein.

 

Percy Bysshe Shelley

Ehe wir zur Wissenschaft der Entscheidungen kommen, wollen wir mit einer politischen Übung beginnen. Stellen Sie sich vor, Sie sind ein verheirateter Mann und Gouverneur eines großen Bundesstaates im Nordosten der Vereinigten Staaten. Nach einem langen Tag im Büro entspannen Sie sich im Internet. Zufällig – vielleicht auch nicht ganz so zufällig – stoßen Sie auf eine Seite, die sich selbst »beliebtester internationaler Vermittlungsdienst für Menschen mit höchsten Ansprüchen« nennt. Der Name des Anbieters ist Emperors Club VIP.

»Es ist unser Ziel, Ihr Leben friedlicher, ausgeglichener, schöner und sinnvoller zu gestalten«, so besagter Club. Zu diesem Zweck präsentiert er auf seiner Website Fotos von leicht bekleideten jungen Frauen, die mit Diamanten bewertet wurden. Gegen eine bescheidene »Vermittlungsgebühr« steht Ihnen jede dieser Frauen für gemeinsame Freizeitaktivitäten zur Verfügung. Sie stehen vor einer schwierigen Wahl. Welche der folgenden Optionen bringt mehr »Ausgeglichenheit« in Ihr Leben:

  1. Besuchen Sie ein Museum und bewundern Sie impressionistische Gemälde in Begleitung von Savannah, »Künstlerin und kreative Schönheit«, für 1 000 Dollar pro Stunde, zahlbar in bar.

  2. Verabreden Sie sich zu einem Abendessen mit Renee, einem »italienisch-griechischen Model«, das »Weine aus der Toskana, schwarzen Espresso und den herben Duft der Männlichkeit schätzt«, für 1 500 Dollar pro Stunde, zahlbar in einer anonymen Geldanweisung.

  3. Buchen Sie einen Abend in einem Hotelzimmer mit Kristen, einer 23-jährigen Schönheit mit »viel Tiefe und vielen Schichten« sowie einer lateinischen Tätowierung, für 1 000 Dollar pro Stunde, zahlbar durch eine Überweisung von Ihrem privaten Bankkonto.

  4. Verbringen Sie einen Tag mit Maya, die mit sieben Diamanten bewertet wird, »eine unvergleichliche Schönheit von elektrisierender Präsenz« für 31 000 Dollar, zahlbar per Anweisung aus Ihrem Spesenkonto unter dem Betreff »persönliche Balance-Beraterin«.

  5. Fragen Sie den Chef Ihres Beraterstabs, welche Frau für Sie die beste Wahl ist.

  6. Verlassen Sie die Website, schalten Sie einen Nachrichtensender ein und nehmen Sie eine kalte Dusche.

Eigentlich keine Frage, oder? Aber warum fiel Eliot Spitzer67, dem damaligen Gouverneur des Bundesstaats New York, die Entscheidung so schwer? Er entschied sich für c – und reihte sich damit in die lange Liste von Politikern und Managern ein, die ihre Karrieren mit unerklärlichen und dummen Entscheidungen ruiniert haben. Spitzer, der sich in seiner Zeit als Staatsanwalt die Verfolgung der Prostitution auf die Fahnen geschrieben hatte, traf sich nicht nur mit Kristen, sondern bezahlte das Schäferstündchen mit einer Überweisung von seinem privaten Konto, die sich jederzeit nachvollziehen ließ. Er wusste, dass er als Gouverneur keine Sekunde lang unbeobachtet war und kannte die Risiken der Prostitution. Während seiner langen politischen Karriere hatte er sich einen Ruf für politische Klugheit, strenge Disziplin und moralische Aufrichtigkeit erworben. Warum war er plötzlich, am Ziel seiner Träume, von diesem Kurs abgekommen? Hatte ihm die Macht die Sinne so weit vernebelt, dass er sich unverwundbar fühlte? Oder war er schon immer ein Narziss gewesen? Fühlte er sich im Grunde unwürdig? Oder hatte er nach den vielen Privilegien, die er in seiner Machtposition genoss, ganz einfach das Gefühl, dass ihm alles zustand, was er wollte?

Wir wollen Spitzer nicht auf die Couch legen. Wir wollen nur auf einen weiteren Faktor hinweisen, der in seinem Fall sicher eine Rolle spielte, genau wie bei so vielen anderen Ausrutschern, mit denen Führungspersönlichkeiten ihre Karrieren und Familien zerstörten. Als sich Spitzer mit einer Prostituierten einließ, der Gouverneur von South Carolina in Buenos Aires heimlich seine Freundin traf und Bill Clinton sich von seiner Praktikantin verwöhnen ließ, wurden sie Opfer eines typischen Berufsrisikos von Entscheidern. Das Problem der Entscheidungsmüdigkeit68 beeinträchtigt alles Mögliche: die Laufbahn von Politikern und Managern genauso wie die Urteile von Richtern und anderen Menschen, denn es schlägt sich im Verhalten nieder. Leider sind sich die wenigsten dessen auch nur bewusst. Auf die Frage, ob Entscheidungen ihre Willenskraft schwächen, würden die meisten von uns vermutlich mit Nein antworten. Aber die Entscheidungsmüdigkeit erklärt, warum ansonsten vernünftige Menschen plötzlich Kollegen und Angehörige anschreien, Geld zum Fenster hinauswerfen, sich mit Junkfood vollstopfen und sich vom Autohändler überreden lassen, die vollverzinkte Karosserie zu wählen.

Auf diese Gefahr stieß Jean Twenge, Postdoktorandin in Baumeisters Labor, die sich in das Thema Selbstdisziplin einarbeitete, während sie ihre Hochzeit plante. Während sie sich in das Radieschen-Experiment vertiefte, erinnerte sie sich an eine kräftezehrende Erfahrung, die sie kurz zuvor gemacht hatte. Sie hatte nämlich einen Hochzeitstisch organisiert, diese sonderbare Tradition zur Erpressung von Freunden und Verwandten. Eigentlich dürfen sich nur Kinder Geschenke wünschen, und auch nur vom Christkind, aber der Hochzeitstisch ist eine Ausnahme, weil er angeblich alle Beteiligten entlastet. Die Gäste müssen nicht lange nach Geschenken suchen und das Paar muss nicht befürchten, am Ende 37 Suppenschüsseln und keine einzige Schöpfkelle zu bekommen. Ganz stressfrei ist die Angelegenheit trotzdem nicht, wie Twenge erkennen musste, als sie und ihr Zukünftiger sich eines Nachmittags mit der Hochzeitsfachverkäuferin einer Kaufhauskette zusammensetzten, um ihre Wunschliste zusammenzustellen. Wollten sie ein gemustertes Geschirr? Wenn ja, welches Service sollte es sein? Welches Besteck? Welche Sauciere genau? Welche Handtücher? In welcher Farbe?

»Am Ende hätte ich alles genommen«, gestand Twenge ihren Kollegen im Labor. An diesem Abend hatte sie am eigenen Leib erlebt, wie es sich anfühlt, wenn die Willenskraft erschöpft wird. Zusammen mit anderen Psychologen dachte sie sich einen Test aus, um ihre Erlebnis wissenschaftlich zu beschreiben. Sie erinnerte sich, dass ein Kaufhaus in der Nähe des Labors einen Räumungsverkauf veranstaltete, und kaufte so viele Geschenke, wie es das Laborbudget hergab – keine edlen Hochzeitsgeschenke, eher Glasperlen für die Studenten.

Im ersten Experiment wurde den Versuchsteilnehmern ein Tisch gezeigt, auf dem die verlockenden Waren aufgebaut waren. Twenge sagte ihnen, dass sie am Ende des Experiments einen Gegenstand behalten durften. Dann sollten einige der Teilnehmer Fragen beantworten, von denen sie annahmen, dass sie in Zusammenhang mit dem Produkt standen, das sie am Ende mitnehmen durften. Sie mussten eine Reihe von Entweder-oder-Entscheidungen treffen: Wollten sie lieber einen Stift oder eine Kerze? Eine Kerze mit Vanille- oder Mandelduft? Eine Kerze oder ein T-Shirt? Ein schwarzes oder ein rotes T-Shirt? Die Kontrollgruppe – nennen wir sie die Nicht-Entscheider – durfte sich währenddessen an den Waren sattsehen, ohne Entscheidungen treffen zu müssen. Sie sollte lediglich ihre Meinung zu den Produkten abgeben und angeben, wie oft sie welches in den zurückliegenden sechs Monaten benutzt hatte. Danach wurden sämtliche Teilnehmer einem klassischen Test zur Selbstdisziplin unterzogen und mussten ihre Hand so lange wie möglich in eiskaltes Wasser stecken. Das ist eine unangenehme Erfahrung, und die Teilnehmer verspüren den Impuls, die Hand wieder herauszuziehen, weshalb Selbstbeherrschung erforderlich ist, um sie im Wasser zu lassen. Dabei stellte sich heraus, dass die Entscheider deutlich schneller aufgaben als die Nicht-Entscheider. Die vielen Entscheidungen hatten offenbar an ihrem Willen gezehrt.

In einer Abwandlung des Versuchs mussten die Studenten ein Vorlesungsverzeichnis durchgehen und Kurse auswählen, die sie belegen wollten. In einem weiteren Experiment sollten die Teilnehmer eines Psychologiekurses über das restliche Kursprogramm entscheiden: Welche Filme wollten sie sehen, wie viele Wissenstests wollten sie noch ablegen? Nachdem sie diese Entscheidungen getroffen hatten, sollten sie mathematische Aufgaben lösen. Einigen teilten die Kursleiter mit, sie müssten einen Intelligenztest lösen und könnten ihre Werte verbessern, wenn sie eine Viertelstunde lang übten; dazu wurden sie in einen Raum gebracht, in dem ihnen nicht nur Übungsmaterial zur Verfügung stand, sondern auch Zeitschriften und Videospiele. Wieder und wieder zeigte sich, wie Entscheidungen an der Willenskraft der Studenten zehrten. Entscheider gaben deutlich schneller auf als Nicht-Entscheider, und statt ihre Zeit zur Vorbereitung zu verwenden, verschwendeten sie sie lieber auf Zeitschriften und Videospiele.

Um ihre Theorie im wirklichen Leben zu überprüfen, suchten die Forscher die archetypische Entscheidungsarena von heute auf: das Einkaufszentrum. Besucher einer Mall wurden zu ihrer Erfahrung in den Geschäften befragt und sollten danach einige einfache Rechenaufgaben erledigen. Die Wissenschaftler baten sie höflich, so viele Aufgaben wie möglich zu lösen, wiesen sie jedoch darauf hin, dass sie jederzeit aufhören konnten. Wie zu erwarten gaben die Einkäufer, die bereits zahlreiche Entscheidungen in den verschiedenen Geschäften getroffen hatten, am schnellsten auf. Wenn Sie einkaufen bis zum Umfallen, dann fällt Ihre Willenskraft mit um. Praktisch gesehen zeigte das Experiment die Gefahren des Marathon-Shoppings. Aber auf theoretischer Ebene warf es eine neue Frage auf: Welche Entscheidungen zehren am meisten an unserer Willenskraft? Welche Entscheidungen sind die schwierigsten?

Warum Entscheidungen so schwierig sind

Psychologen unterscheiden zwei grundlegende mentale Prozesse: unbewusste und bewusste. Unbewusste Prozesse laufen automatisch ab und kosten keine Anstrengung. Wenn Sie jemand fragt: »Was ist 4 mal 7?«, dann kommt Ihnen vermutlich unwillkürlich die Antwort 28 in den Kopf. Sollen Sie dagegen 26 mit 30 multiplizieren, ist vermutlich ein gewisser Aufwand erforderlich, denn Sie werden einige Rechenschritte durchführen, um zum Ergebnis 780 zu gelangen. Schwierige mathematische Berechnungen und andere logische Denkoperationen erfordern die Befolgung systematischer Regeln, und dazu benötigen Sie Willenskraft. Wenn Sie Entscheidungen treffen, führen Sie oft ähnliche Operationen durch – Psychologen sprechen vom Rubikon-Modell69 der Handlungsphasen, benannt nach dem Fluss, der im Römischen Reich die Grenze bildete zwischen Italien und der seinerzeitigen Provinz Gallien, die auch das heutige Norditalien umfasste. Als Julius Cäsar an den Rubikon gelangte, war ihm bewusst, dass ein Feldherr, der nach Rom zurückkehrte, seine Truppen hier zurücklassen musste. Würde er den Fluss mit seinen Legionen überqueren, dann bedeutete das den Bürgerkrieg. Während er am gallischen Ufer seine Ziele und Möglichkeiten erörterte und Kosten und Nutzen gegeneinander abwog, befand er sich in der »Vorentscheidungsphase«. Nachdem er diese abgeschlossen und den Rubikon überquert hatte, gelangte er in die »Nachentscheidungsphase«, für die er ein berühmtes Bild fand, als er erklärte: »Der Würfel ist geworfen.«

Im Prinzip könnte der gesamte Prozess eine Willensanstrengung erfordern, aber welcher Teil kostet am meisten Kraft? Sind es vor allem die Überlegungen vor der Entscheidung? Zu diesem Zeitpunkt waren Twenge und einige ihrer Forscherkollegen durch das lange laufende Projekt recht erschöpft, doch für die Entscheidung, ob die Arbeit in der führenden Fachzeitschrift publiziert werden würde, beharrten die Herausgeber auf weiteren Antworten. An dieser Stelle nahm die als »Vollstreckerin« bekannte Kathleen Vohs die Zügel in die Hand. Sie entwickelte ein Experiment mit der Website von Dell Computers, auf der sich Kunden einen Computer ganz nach ihren individuellen Wünschen zusammenstellen können. In dem Experiment sollten die Teilnehmer auf der Website die Größe der Festplatte, die Art der Bildschirms und so weiter auswählen und sich ihren Wunschcomputer bauen, ohne allerdings am Ende einen Kauf zu tätigen.

Die Teilnehmer wurden nach dem Zufallsprinzip in drei Gruppen eingeteilt. Die einen sollten sich einen Überblick über die Optionen und Preise verschaffen und sich eine Meinung bilden, aber keine Wahl treffen. Hier sollte es lediglich darum gehen, die Vorentscheidung zu simulieren, aber ohne eigentliche Entscheidung.

Die Teilnehmer der zweiten Gruppe erhielten eine Liste mit bereits ausgewählten Eigenschaften und sollten den Computer zusammenstellen. Schrittweise mussten sie in der Vielfalt der Optionen die entsprechenden Eigenschaften ausfindig machen und anklicken, bis der Computer vollständig zusammengestellt war. Sie sollten mit anderen Worten all das tun, was in die Nachentscheidungsphase fällt, in der die Entscheidung umgesetzt wird.

Die Angehörigen der dritten Gruppe schließlich mussten entscheiden, aus welchen Teilen ihr Computer zusammengebaut werden sollte. Sie hatten sich also nicht nur einen Überblick über die Möglichkeiten zu verschaffen oder die Entscheidungen anderer umzusetzen, sondern sie mussten selbst würfeln. Das erwies sich als die anstrengendste Aufgabe von allen. In einem anschließenden Ausdauertest, in dem die Teilnehmer Anagramme lösen sollten, gaben die Entscheider eher auf als die Angehörigen der beiden anderen Gruppen. Die Überquerung des Rubikons bedeutet geistige Schwerstarbeit – egal ob wir über die Zukunft eines Weltreiches entscheiden oder über die Größe einer Festplatte.

Aber was, wenn die Optionen leichter und attraktiver sind als der Beginn eines Bürgerkrieges oder das Innenleben eines Computers? Was, wenn Sie den Auswahlprozess als angenehm empfinden? Zehrt er auch dann an Ihrer Willenskraft?

Dieser Frage gingen Wissenschaftler mit einer Abwandlung des Hochzeitstischs nach, nur dass diesmal die Teilnehmer die unterschiedlichsten Einstellungen zu ihrer Aufgabe mitbrachten. Einige der jungen Männer und Frauen widmeten sich der Auswahl ihrer Hochzeitsgeschenke mit deutlich mehr Begeisterung als Twenge. Vorher gaben sie an, dass sie sich darauf freuten, ihre Geschenke auszuwählen, und auch nachher erklärten sie, das Erlebnis genossen zu haben. Andere Teilnehmer des Experiments gaben dagegen an, sie hätten nur wenig Lust darauf, sich zwischen verschiedenen Geschirrservice, Bestecken und Haushaltsgeräten zu entscheiden.

Wie zu erwarten, waren diejenigen, die den Prozess als angenehm empfanden, am Ende weniger erschöpft – aber auch ihre Willenskraft hatte ihre Grenzen. Wenn die Teilnehmer eine kurze Liste erhielten, die sie in vier Minuten abarbeiten konnten, dann stellte dies für die begeisterten Geschenkeaussucher noch keine Anstrengung dar, während sich die Hochzeitstisch-Verächter bereits nach dieser kurzen Übung ermattet zeigten. Aber als die Liste länger wurde und der Test sich über zwölf Minuten hinzog, erwiesen sich am Ende beide Gruppen in Ausdauertests als gleichermaßen ausgelaugt. Ein paar angenehme Entscheidungen treffen wir mühelos, aber langfristig hat offenbar jede Entscheidung ihren Preis – zumindest, wenn wir sie für uns selbst treffen.

Entscheidungen für andere zu treffen, scheint dagegen weniger mühsam. Während Sie über der Auswahl Ihrer eigenen Couchgarnitur schwitzen, kostet Sie die Dekoration des Wohnzimmers eines Bekannten kaum Mühe. Es mag Ihnen zwar schwerfallen, den Sesselbezug für einen Menschen auszuwählen, dessen Geschmack Sie nicht kennen, aber diese Schwierigkeit wird offenbar dadurch wettgemacht, dass Ihnen das Resultat weniger wichtig ist – Sie müssen schließlich nicht mit dem rosa Velours leben. Das andere Ufer des Rubikons wirkt weit weniger bedrohlich, wenn Sie wissen, dass jemand anders dort stehen wird.

Das Richterdilemma

Unlängst stellten vier Männer, die Haftstrafen in israelischen Gefängnissen absaßen, Antrag auf vorzeitige Haftentlassung. Die Entscheidung darüber wurde von einem Gremium mit einem Richter, einem Psychologen und einem Sozialarbeiter getroffen, die auf einer ganztägigen Sitzung über ihre und ähnliche Anträge befanden. Jeder der vier Antragsteller war Wiederholungstäter und hatte bereits zu einem früheren Zeitpunkt eine Haftstrafe für ein anderes Delikt verbüßt. Jeder hatte zwei Drittel seiner neuen Haftstrafe abgesessen, jeder wollte nach seiner Entlassung an einem Resozialisierungsprogramm teilnehmen. Es lagen allerdings auch einige Unterschiede vor, weshalb das Gremium nur zwei der vier Männer vorzeitig aus der Haft entließ. Sehen Sie sich die folgende Liste an und raten Sie, welche Männer freikamen und welche hinter Gittern blieben:

 

Fall 1 (8:50 Uhr):

Araber mit einer 30-monatigen Haftstrafe wegen Betrugs.

 

Fall 2 (13:27 Uhr):

Jude mit einer 16-monatigen Haftstrafe wegen Überfalls.

 

Fall 3 (15:10 Uhr):

Araber mit einer 16-monatigen Haftstrafe wegen Überfalls.

 

Fall 4 (16:25 Uhr):

Jude mit einer 30-monatigen Haftstrafe wegen Betrugs.

 

Die Entscheidung des Ausschusses weist ein Muster auf, aber es hat nichts mit der ethnischen Zugehörigkeit, dem Vergehen oder der Dauer der Haftstrafe zu tun, wie Sie vielleicht meinen könnten. Das Muster befeuert vielmehr einen Streit um die Frage der Gerechtigkeit. Traditionelle Juristen beschreiben das Gesetz als ein Regelwerk, das unparteiisch zur Anwendung gebracht wird; ihr Bild ist die Justitia mit den verbundenen Augen. Eine andere Gruppe von Juristen ist dagegen der Meinung, die Urteile seien vor allem ein Produkt menschlicher Vorurteile und nicht abstrakter Regeln. Diese Realisten, wie sie sich selbst nennen, definieren Gerechtigkeit als »das, was der Richter zum Frühstück gegessen hat«.

Diese Behauptung überprüfte ein Psychologenteam unter der Leitung von Jonathan Levav von der Columbia University und Shai Danziger von der Ben Gurion-Universität. Die beiden Wissenschaftler untersuchten mehr als tausend Urteile, die israelische Bewährungsrichter70 über einen Zeitraum von zehn Monaten gefällt hatten. Die Richter berieten sich mit Psychologen und Sozialarbeitern und entschieden dann, ob ein Häftling vorzeitig auf Bewährung entlassen wurde oder nicht. Wenn die Richter die Haftverkürzung gewährten, taten sie natürlich den Häftlingen und deren Familien einen Gefallen und entlasteten den Staatssäckel, aber sie gingen auch ein gewisses Risiko ein. Denn wenn ein Häftling nach einer vorzeitigen Entlassung ein weiteres Mal straffällig wurde, dann warf dies ein schlechtes Licht auf den Richter. Und wenn es ein besonders schweres Verbrechen war, das in der Öffentlichkeit große Aufmerksamkeit erregte, konnte dies den Ruf des Richters langfristig beschädigen.

Durchschnittlich gewähren die Richter nur jedem dritten Häftling eine vorzeitige Haftentlassung. Doch hier entdeckten die Wissenschaftler ein interessantes Muster: In den Verhandlungen am frühen Vormittag wurden 70 Prozent der Häftlinge begnadigt, aber in den Verhandlungen am späten Nachmittag waren es nur 10 Prozent. Das heißt, Häftling 1, dessen Fall um 8:50 verhandelt wurde, hatte gute Karten und wurde tatsächlich vorzeitig entlassen. Und obwohl Häftling 4 dieselbe Strafe für dasselbe Delikt verbüßte, standen seine Chancen deutlich schlechter, als er (an einem anderen Tag) um 16:25 vor dem Richter erschien. Wie die meisten Häftlinge, deren Fall am späten Nachmittag verhandelt wird, wurde sein Gesuch abgelehnt.

Der Übergang vom Vormittag zum Nachmittag verläuft allerdings nicht fließend. Über den Tag hinweg ergeben sich weitere interessante Muster. Kurz vor halb elf macht das Gremium in der Regel eine kurze Pause und die Richter essen belegte Brote oder Obst. Damit wird dem Blut wieder frische Glukose zugeführt. (Erinnern Sie sich an die Kinder, die ohne Frühstück zur Schule kamen und nach einem Pausenbrot plötzlich aufmerksam wurden?) Von den Häftlingen, die als letzte vor der Pause aufgerufen wurden, kamen nur 15 Prozent frei, nach der Pause waren es 70 Prozent.

Zur Mittagspause wiederholte sich das Spiel. Wer unmittelbar vor dem Mittagessen aufgerufen wurde, hatte eine 10-prozentige Chance, freizukommen, wer unmittelbar danach drankam, dagegen eine 60-prozentige. Häftling 2 hatte das Glück, dass sein Fall nach dem Mittagessen verhandelt wurde, und kam frei. Häftling 3, der dieselbe Strafe für dasselbe Delikt absaß, war jedoch in einer unterzuckerten Phase um 15:10 an der Reihe, sein Bewährungsgesuch wurde prompt abgeschmettert.

Rechtsprechung ist harte Arbeit. Während die Richter ein Urteil nach dem anderen fällen, verbrennen ihre Körper den Willensbaustein Glukose. Ganz unabhängig von ihren persönlichen Überzeugungen – egal ob sie als Richter Gnadenlos bekannt waren oder für Resozialisierung eintraten – hatten sie weniger mentale Ressourcen zur Verfügung, um ihre Entscheidungen zu treffen. Also neigten sie offenbar zu der Option, die für sie weniger riskant war. So unfair das für die Häftlinge ist – warum sollten sie weiter im Gefängnis schmachten, nur weil der Richter noch kein zweites Frühstück zu sich genommen hat? –, stellt diese Form der Urteilsverzerrung keinen Einzelfall dar. Im Gegenteil, sie ist überall zu finden. Die Beziehung zwischen Willenskraft und Entscheidung ist keine Einbahnstraße: Entscheidungen zehren an Ihrer Willenskraft, und wenn diese erschöpft ist, sehen Sie nicht mehr klar. Wenn Sie den ganzen Tag über Entscheidungen zu treffen haben, sind Sie irgendwann ermattet und wollen Kräfte sparen. Sie suchen nach Entschuldigungen, eine Entscheidung zu vermeiden oder aufzuschieben. Oder Sie wählen die einfachste und sicherste Option, und die ist oft der Status quo: Der Häftling bleibt hinter Gittern.

Dem Häftling die vorzeitige Haftentlassung zu verweigern, mag dem Richter auch deshalb attraktiver erscheinen, weil es ihm mehr Möglichkeiten bietet: Er kann den Häftling später immer noch begnadigen und sich die Option offenhalten, ihn heute sicher hinter Gittern zu lassen. Die Angst vor Entscheidungen hat oft damit zu tun, dass wir uns keine Optionen nehmen wollen. Je mehr wir beim Entscheiden aufgeben, umso größer die Furcht, dass es sich dabei um etwas Wichtiges handeln könnte. Wenn sich Studenten für ein Doppelstudium entscheiden, dann oft nicht, weil sie sich und anderen etwas beweisen wollen oder weil sie eine geniale Berufsidee vor Augen haben, in der sich Biologie und Ägyptologie miteinander verbinden lassen. Oft können sie sich einfach nicht dazu durchringen, eine der beiden Optionen aufzugeben. Sich für ein Fach zu entscheiden, bedeutet automatisch, sich von dem anderen zu verabschieden, und genau das fällt uns schwer, auch wenn es besser für uns wäre. Wir sind umso weniger bereit, Optionen aufzugeben, je ausgelaugter unser Wille ist. Da bei Entscheidungen unsere Willenskraft gefordert ist, suchen wir bei Erschöpfung Möglichkeiten, Entscheidungen aufzuschieben oder ganz zu vermeiden.

In einem Experiment sollten sich Teilnehmer verschiedene Waren ansehen und entscheiden, ob sie etwas kaufen wollten, und wenn ja, was. Teilnehmer, deren Willenskraft zuvor geschwächt worden war, gingen der Entscheidung öfter aus dem Weg und kauften nichts. In einem anderen Versuch sollten sich die Probanden vorstellen, sie hätten 10 000 Dollar auf dem Konto, die sie nicht benötigten, und erhielten ein Angebot, dieses Geld risikolos zu überdurchschnittlichen Zinsen anzulegen. Teilnehmer mit normaler Willenskraft wollten das Angebot wahrnehmen, doch die ermatteten Versuchspersonen ließen ihr Geld lieber, wo es war. Finanziell war diese Entscheidung wenig sinnvoll, da sie auf ihrem Girokonto keine Zinsen bekamen, aber es war leichter, keine Entscheidung zu treffen.

Dieses Phänomen der Entscheidungsmüdigkeit erklärt auch, warum so viele Menschen die wichtigste Entscheidung ihres Lebens vor sich herschieben: die Partnerwahl. Mitte des 20. Jahrhunderts heirateten die meisten Menschen in ihren frühen Zwanzigern. Doch dann ergaben sich für Männer und Frauen neue Möglichkeiten. Viele entschieden sich für ein Studium und für Berufe, die eine längere Ausbildung erforderten. Dank der Pille und der veränderten gesellschaftlichen Werte mussten sie nicht heiraten, um Geschlechtsverkehr haben zu können. Je mehr Menschen in die Städte zogen, umso größer wurde die Auswahl der potenziellen Partner, und umso größer natürlich auch die Zahl der Optionen, die sie möglicherweise verloren, wenn sie sich für eine von ihnen entschieden. Für eine Kolumne, die John Tierney im Jahr 1995 schrieb, untersuchte er ein typisches New Yorker Phänomen: Intelligente und attraktive Einwohner der Stadt klagten fortwährend, es sei unmöglich, einen Partner zu finden.

Was hinderte die New Yorker daran, Beziehungen einzugehen? Tierney verglich eine Auswahl von Kontaktanzeigen aus Stadtmagazinen71 in Boston, Baltimore, Chicago, Los Angeles und New York. Dabei stellte er fest, dass die Singles aus New York, der größten Stadt, nicht nur die größte Auswahl, sondern auch die größten Ansprüche hatten. Im Stadtmagazin New York zählten die Partnersuchenden durchschnittlich 5,7 Eigenschaften auf, die ihr Wunschpartner mitbringen müsse – deutlich mehr als im zweitplatzierten Chicago, wo es nur 4,1 waren, und etwa doppelt so viele wie in den anderen Städten. Eine Frau in New York brachte es auf den Punkt, als sie schrieb: »Sie wollen keine Kompromisse machen? Ich auch nicht!« Sie behauptete, sie liebe alles, was New York zu bieten habe, aber davon ausgeschlossen waren offenbar alle Männer, die nicht attraktiv, erfolgreich, über 1,70 Meter groß und zwischen 29 und 35 Jahren alt waren. Eine andere New Yorkerin suchte gar einen Mann, der mindestens 1,75 Meter groß sein und Polo spielen müsse. Ein Anwalt erklärte erst, er sei »erstaunt«, dass er noch immer Single sei, nur um dann ganze 21 Eigenschaften aufzulisten, die seiner »Prinzessin« nicht fehlen dürften.

Unlängst haben Psychologen diese extrem wählerische Haltung auch mit wissenschaftlichen Methoden untersucht72 und Zehntausende Menschen in Online-Kontaktbörsen oder Speed-Dating-Veranstaltungen beobachtet. In den Kontaktbörsen im Internet mussten die Teilnehmer lange Fragebögen zu ihren persönlichen Eigenschaften ausfüllen. Rein theoretisch hätten diese detaillierten Profile die Suche nach dem Traumpartner erleichtern müssen, aber in Wirklichkeit erzeugten sie derart viele Informationen und Optionen, dass die Teilnehmer geradezu absurd wählerisch wurden. Die Wissenschaftler Günter Hitsch und Ali Hortacsu von der University of Chicago sowie Dan Ariely von der Duke University stellen fest, dass Online-Dater in der Regel weniger als 1 Prozent der Menschen kennen lernen, deren Profile sie sich ansehen. Mehr Glück haben die Liebessuchenden in der Regel beim Speed-Dating, das meist auf ein oder zwei Dutzend Teilnehmer beschränkt ist. Jeder Teilnehmer erhält die Gelegenheit, sich einige Minuten lang mit den möglichen Kandidaten zu unterhalten. Dann geben sie eine Art Zeugnis ab, auf dem sie eintragen, wen sie gern wiedersehen würden, und bei gegenseitigem Interesse wird ein Kontakt hergestellt. Durchschnittlich treffen sich die Teilnehmer mit einem von zehn Personen, die sie auf diese Weise kennen lernen, und in einigen Untersuchungen betrug das Verhältnis sogar 1 zu 5 oder 1 zu 3. Angesichts der übersichtlichen Optionen und des Entscheidungsdrucks wählen Speed-Dater ihre Partner rasch aus. Die Online-Kunden, die so viele potenzielle Partner zur Auswahl haben, kommen dagegen nie über die Suche hinaus, so Ariely.

»Bei so vielen Kriterien und so vielen Auswahlmöglichkeiten suchen sie das Perfekte«, meint er. »Sie wollen sich mit niemandem einlassen, der nicht in Größe, Alter, Religion und 45 anderen Dimensionen ihrem Ideal entspricht.«

Ariely untersuchte diese Furcht, sich von Optionen zu verabschieden, mit Hilfe eines Computerspiels, in dem die Teilnehmer Geld gewinnen konnten. Dazu mussten sie Türen zu verborgenen Räumen öffnen, in denen sich Bargeld befand. Die beste Strategie bestand darin, die drei Türen zu öffnen, die lukrativste Belohnung zu finden und in diesem Raum zu bleiben. Doch selbst nachdem die Spieler diese Strategie durchschaut hatten, fiel es ihnen schwer, in dem Raum zu bleiben, sobald das Spiel eine Wende nahm: Wenn sie sich eine gewisse Zeit lang in dem Raum aufgehalten hatten, schloss sich die Tür und verschwand schließlich. Viele Spieler reagierten derart besorgt, dass sie in einen Raum liefen, um die Tür offen zu halten, obwohl sie auf diese Weise ihren Gesamtgewinn verringerten.

»Wenn sich eine Tür schließt, wird das als Verlust erlebt. Viele sind bereit, einen hohen Preis zu bezahlen, um diese Verlusterfahrung zu vermeiden«, erklärt Ariely.73 Gelegentlich kann das sinnvoll sein, aber oft sind wir so versessen, uns möglichst alle Optionen offenzuhalten, dass wir nicht sehen, welchen Preis wir – oder andere – langfristig dafür bezahlen. Wenn Sie sich nicht für einen Partner entscheiden, der nicht hundertprozentig perfekt ist, dann bleiben Sie allein. Wenn Eltern am Arbeitsplatz nie Nein sagen können, dann bekommen sie auch ihre Kinder nie zu sehen. Und wenn sich ein Richter nicht dazu durchringen kann, eine Entscheidung zu treffen, dann hält er sich alle Türen offen – und schlägt sie dem Häftling vor der Nase zu.

Trägheit

Kompromisse sind menschlich. Im Tierreich sind lange Verhandlungen zwischen Räuber und Beute selten. Die Fähigkeit, Kompromisse einzugehen, ist eine fortschrittliche und besonders schwierige Form der Entscheidungsfindung, weshalb wir sie als Erstes einbüßen, wenn unser Wille erlahmt. Das lässt sich besonders gut beobachten, wenn wir mit unserem müden Ich einkaufen gehen.

Käufer müssen ständig Kompromisse zwischen Qualität und Preis machen, die sich nicht unbedingt proportional zueinander verändern. Oft steigt der Preis sehr viel schneller als die Qualität der Ware: Eine Flasche Wein, die 100 Euro kostet, ist vermutlich besser als eine Flasche Wein, die nur 20 Euro kostet, aber ist der Wein wirklich fünfmal so gut? Oder ist ein Hotelzimmer für 1 000 Euro fünfmal so gut wie eines für 200? Die Antwort hängt von Ihrem Geschmack und Ihrem Geldbeutel ab, aber dass Weine für 100 Euro und Hotelzimmer für 1.000 Euro relativ selten sind, lässt darauf schließen, dass kaum jemand diesen Preis für gerechtfertigt hält. Ab einem gewissen Punkt ist der Preisunterschied nicht mehr durch den Qualitätsunterschied gerechtfertigt. Aber diesen Punkt zu finden, ist gar nicht so einfach.

Je erschöpfter Ihr Wille, umso weniger sind Sie in der Lage, diesen Kompromiss zu suchen. Sie verwandeln sich in einen »kognitiven Geizhals«74, wie Forscher das nennen, und sparen Ihre Energie, indem Sie jeden Kompromiss vermeiden. Sie sehen sich vermutlich nur noch eine Dimension an, zum Beispiel den Preis: Geben Sie mir einfach das Billigste. Oder Sie verwöhnen sich, indem Sie nur auf die Qualität achten: Geben Sie mir das Beste, was Sie haben (das bietet sich vor allem dann an, wenn jemand anders bezahlt).

Entscheidungsmüdigkeit macht uns außerdem zu willigen Opfern von Verkäufern, wie der Psychologe Jonathan Levav von der Columbia University in Experimenten mit Maßanzügen und Neuwagen zeigte. Ähnlich wie Jean Twenge kam ihm die Idee dazu bei seinen Hochzeitsvorbereitungen. Auf den Vorschlag seiner Braut hin ging er zu einem Schneider, um einen Anzug in Auftrag zu geben, und diskutierte mit ihm die Wahl des Stoffs, des Futters, der Knöpfe und so weiter.

»Als wir beim dritten Stapel Stoffe angekommen waren, wollte ich mich aus dem Fenster stürzen«, erinnert sich Levav. »Ich konnte die Stoffe nicht mehr auseinanderhalten. Nach einer Weile hatte ich nur noch eine Standardantwort: ›Was würden Sie mir empfehlen?‹ Ich hatte einfach keine Kraft mehr.«

Am Ende kaufte Levav einen Anzug von der Stange (der Preis des Maßanzugs erleichterte ihm die Entscheidung), doch er ließ sich von der Erfahrung beim Schneider inspirieren, um zusammen mit Mark Heitmann von der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Andreas Herrmann von der Universität St. Gallen und Sheena Iyengar von der Columbia University einige Experimente zu entwickeln. In einem davon sollten Schweizer Wirtschaftsstudenten einen Maßanzug bestellen, in einem anderen wurden deutsche Autokunden heimlich beim Kauf eines Neuwagens beobachtet. Die Autokunden – echte Kunden, die ihr hart verdientes Geld ausgaben – mussten beispielsweise zwischen vier verschiedenen Gangschaltungen, dreizehn verschiedenen Reifen und Felgen, zwölf verschiedenen Kombinationen aus Motoren und Getrieben und einer Palette von 56 verschiedenen Sitzbezügen ihr Auto zusammenstellen.

Zu Beginn wählten die Kunden noch sorgfältig aus, aber als die Entscheidungsmüdigkeit75 einsetzte, wählten sie zunehmend einfach die Standardoption. Je mehr Entscheidungen sie zu Beginn zu treffen hatten – beispielsweise die Auswahl unter 56 verschiedenen Grau- und Brauntönen für die Sitze –, umso schneller ermüdeten sie und gingen den Weg des geringsten Widerstandes. (Haben Sie beim Kauf Ihres letzten Autos mehr Zeit mit der Auswahl der Farbe und Sitzbezüge zugebracht als bei der des Motors? Haben Sie, obwohl es beim Motor um mehr Geld ging, einfach den Standard gewählt, statt Ihre Entscheidung sorgfältig zu überdenken?) Die Forscher stellten fest, dass die Kunden nach einer Änderung der Reihenfolge andere Entscheidungen trafen – der Preisunterschied betrug durchschnittlich 1 500 Euro. Ob die Kunden einen geringen Aufpreis für Alufelgen oder einen saftigen Aufpreis für einen stärkeren Motor zahlten, hing davon ab, an welchem Punkt sie vor diese Entscheidung gestellt worden waren und wie viel Willenskraft sie zu diesem Zeitpunkt noch aufbringen konnten.

Das Experiment mit den Maßanzügen führte zu einem ähnlichen Ergebnis: Sobald die Entscheidungsmüdigkeit einsetzte, neigten die Kunden dazu, sich einfach den Empfehlungen des Schneiders anzuschließen. Wenn sie zu Beginn die schwierigsten Fragen entschieden – diejenigen mit den meisten Optionen, etwa die Wahl zwischen hundert verschiedenen Stoffen –, ermüdeten sie schneller und gaben später an, den Kauf weniger genossen zu haben, als wenn sie mit einfachen Entscheidungen anfingen und dann zu den schwierigen übergingen.

Manchmal wurden die Käufer durch die vielen Entscheidungen derart ermattet, dass sie am Ende gar nichts kauften, aber meistens finden clevere Verkäufer eine Möglichkeit, diese Müdigkeit auszunutzen. Wenn Sie erleben wollen, wie diese Strategie funktioniert, müssen Sie nur in den Supermarkt gehen. Nachdem Sie Ihren Einkaufswagen durch eine Regalreihe nach der anderen geschoben und unter Tausenden mehr oder weniger nahrhaften Lebensmitteln und praktischen Produkten ausgewählt haben, kommen Sie an die Kasse. Und was wartet da auf Sie? Klatschzeitschriften und Schokoriegel. Nicht umsonst spricht man von Spontankäufen. Es ist kein Zufall, dass man Ihnen die Süßigkeiten genau in dem Moment präsentiert, in dem Sie ihnen am wenigsten widerstehen können und Ihr von den vielen Entscheidungen erschöpftes Gehirn dringend einen Energieschub benötigt.

Was ist Ihr Preis?

Stellen Sie sich vor, dass wir Ihnen als Belohnung dafür, dass Sie dieses Kapitel zu Ende gelesen haben, einen Scheck überreichen. Sie haben die Wahl zwischen einem Scheck über 100 Euro, den Sie sofort einlösen können, und einem Scheck über 150 Euro, der erst in einem Monat ausgezahlt wird. Welchen der beiden nehmen Sie?

Für Wirtschaftswissenschaftler ist diese Frage ein klassischer Test der Selbstdisziplin. Keine Bank zahlt Ihnen 50 Prozent Zinsen in einem Monat. Wenn Sie keine bessere Anlagemöglichkeit haben und das Geld nicht ganz dringend brauchen, dann sind Sie besser bedient, wenn Sie einen Monat warten und 150 Euro einstreichen. Die korrekte Antwort wäre also: der zweite Scheck über die höhere Summe. Kurzfristigen Verlockungen widerstehen zu können, ist das Geheimnis des Wohlstands aber auch der Zivilisation. Die ersten Bauern mussten eine Menge Willenskraft aufbringen, ihr Saatgut zu pflanzen und nicht an Ort und Stelle aufzuessen.

Warum schnappen dann ihre besser genährten Nachfahren in wissenschaftlichen Experimenten oft nach den 100 Euro, die sie sofort einstecken können, und warten nicht auf die größere Belohnung? Weil es sich um ein weiteres Beispiel einer irrationalen Abkürzung handelt, die wir nehmen, wenn unser Wille durch allzu viele Entscheidungen ausgelaugt ist. Eine rasche Dosis Glukose kann diesem kurzfristigen Denken entgegenwirken – das zeigt sich, wenn Versuchsteilnehmer eine Limonade trinken und erst dann die Entscheidung zwischen dem kleinen Betrag jetzt und dem größeren später treffen.

Einen weiteren Grund, warum sich Menschen für das schnelle Geld entscheiden, fanden Margo Wilson76 und Martin Daly von der McMaster University mit Hilfe eines klugen Experiments. Zu Beginn des Versuchs forderten die beiden Evolutionspsychologen ihre studentischen Versuchsteilnehmer auf, zwischen zwei Schecks zu wählen: einem, der auf den folgenden Tag datiert war, und einem zweiten über einen höheren Betrag, der auf ein späteres Datum ausgestellt war. Danach sollten die Teilnehmer Fotos von Personen und Autos bewerten. Die Fotos stammten von der Website hotornot.com, einer Internetseite, auf der Mitglieder Fotos von sich einstellen und ihre Attraktivität auf einer Zehn-Punkte-Skala bewerten lassen. Einige der Versuchsteilnehmer sollten Bilder von Angehörigen des anderen Geschlechts bewerten, die auf der Website als »hot« gehandelt wurden (und 9 Punkte oder mehr erhalten hatten), die anderen Teilnehmer bekamen nicht ganz so heiße Bilder zu sehen (die mit weniger als 5 Punkten bewertet worden waren). Eine dritte Gruppe von Versuchsteilnehmern sollte Autos bewerten und sah heiße Schlitten und alte Rostlauben.

Zum Abschluss wurden die Teilnehmer erneut aufgefordert, sich zwischen den beiden Schecks zu entscheiden, und die Wissenschaftler überprüften, ob der Blick auf die Fotos einen Einfluss auf die Entscheidung hatte. Die Autobilder zeigten keinerlei Auswirkungen auf die männlichen und nur geringe Auswirkungen auf die weiblichen Teilnehmer: Frauen, die heiße Autos gesehen hatten, neigten nun tendenziell eher zur schnellen Belohnung; man könnte spekulieren, dass Frauen beim Anblick eines schnellen Schlittens schwach werden, doch der Effekt war nicht so groß, dass Wissenschaftler daraus Schlüsse ziehen wollten. Fotos von Männern machten dagegen keinen Eindruck auf die Frauen, genau wie die Fotos der unattraktiven Frauen auf die Männer.

Eine Gruppe änderte ihr Verhalten jedoch dramatisch: Männer, die Fotos von attraktiven Frauen gesehen hatten, wollten ihre Belohnung sofort und verspürten keine Lust, noch länger zu warten. Offenbar weckt der Anblick attraktiver Frauen bei jungen Männern den Wunsch, Geld in der Tasche zu haben. Plötzlich sehen sie nur noch die Gegenwart und vergessen die Zukunft. Dieser Effekt ist offenbar tief in der männlichen Psyche verwurzelt und hat seine Ursprünge in unserer evolutionären Vergangenheit. Die moderne Genforschung hat gezeigt, dass die meisten Männer keine Nachkommen hinterließen77 – die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mann Kinder zeugte, war etwa halb so groß wie die Wahrscheinlichkeit, dass eine Frau Kinder bekam. (Auf jeden zeugungsfreudigen Patriarchen wie Dschingis Khan kamen viele Männer, die ihre Gene nicht weitergaben.)

Die Männer von heute stammen also von der Minderheit von Männern ab, die sich fortpflanzte, und ihre Gehirne sind darauf geeicht, jede Gelegenheit beim Schopf zu packen, mit der sie ihre Chancen verbessern könnten. Andere Untersuchungen zeigen, dass der Anblick einer attraktiven Frau den Nucleus accumbens im männlichen Gehirn aktiviert, der wiederum mit einer Hirnregion in Verbindung steht, die auf Belohnungen wie Geld oder Süßigkeiten anspricht (beim Anblick unattraktiver Frauen bleibt dieser Effekt aus).

In der Vergangenheit stellte es möglicherweise einen evolutionären Vorteil dar, einer attraktiven Frau schnell seine Ressourcen demonstrieren zu können. Dies könnte auch heute noch von Vorteil sein, vor allem wenn man davon ausgeht, dass sich die eine oder andere Frau vom Anblick eines schicken Wagens beeinflussen lässt. Das meinen zumindest die Werbeagenturen, die Limousinen und andere Luxusgüter vermarkten: Sie wissen längst, dass Männer eher bereit sind, für ein Luxusobjekt in die Tasche zu greifen, wenn es von einer hübschen Frau präsentiert wird.

Aber heutzutage bildet dieses kurzfristige Denken keine solide Basis zur Lebensplanung mehr – nicht einmal zur Suche nach ressourcenbewussten Partnerinnen. In »Material Girl« sang Madonna: »Only boys who save their pennies make my rainy day« – die Sängerin steht angeblich nur auf Jungs, die ihre Kröten zusammenhalten. Wenn Sie also als Mann wichtige finanzielle Entscheidungen treffen müssen, achten sie auf die Zahlen, nicht auf die weiblichen Kurven. Und wenn Sie ein imagebewusster Manager sind, dessen Willenskraft nach einem langen Arbeitstag erschöpft ist, sollten sie definitiv keine Pläne für den Abend machen, nachdem Sie sich die Bilder des Emperors Club VIP angesehen haben.