KAPITEL 8 

HILFE VON HÖHEREN MÄCHTEN 

Holy Mother, hear me cry

I’ve cursed your name a thousand times

I’ve felt the anger running through my soul

Holy Mother, can‘t keep control.

 

Eric Clapton121

 

Wenn mir vor einem Jahr jemand gesagt hätte,

dass ich heute im Beichtstuhl knien und

meine Sünden murmeln oder dass ich den

Rosenkranz beten würde, dann hätte ich

mich scheckig gelacht.

Eher hätte ich noch gedacht,

dass ich als Stripperin, Spionin,

Drogenhändlerin oder Auftragskillerin ende.

 

Mary Karr122, in ihren Memoiren Lit

In den Momenten, in denen Eric Clapton an Selbstmord dachte, in denen ihm Geld und Ruhm und Musik nichts mehr bedeuteten, hielt ihn nur ein Gedanke am Leben: Wenn er sich umbrachte, konnte er keinen Alkohol mehr trinken. Der Alkohol war seine große Liebe, auch wenn er nebenbei Affären mit Kokain, Heroin und allen möglichen anderen Drogen hatte. Als er sich zum ersten Mal mit Ende dreißig in eine Entziehungsklinik begab, erlitt er während der Entgiftung einen Anfall, weil er die Ärzte nicht informiert hatte, dass er Valium genommen hatte – diese »Hausfrauendroge« erschien ihm so lächerlich, dass er sie keiner Erwähnung wert fand.

Nach diesem Aufenthalt in der Drogenklinik blieb Clapton einige Jahre lang trocken. Aber als er eines Sommerabends auf dem Weg nach Hause an einem überfüllten Pub vorbeifuhr, hatte er einen Einfall: »Mein selektives Gedächtnis sagte mir, dass es das Paradies war, an einem Sommerabend mit einem großen Glas Bier in der Hand am Tresen zu stehen«, erinnert er sich. »Die Nächte, in denen ich mit einer Flasche Wodka, einem Gramm Koks und einer Pistole zu Hause saß und über Selbstmord nachdachte, hatte ich vergessen.«

Also bestellte er ein Bier. Es dauerte nicht lange, und er war wieder bei den Gelagen und Selbstmordgedanken angelangt. Während einer besonders schlimmen Nacht schrieb er »Holy Mother«, ein Lied, in dem er um göttlichen Beistand fleht. Seine Karriere war am Ende, seine Ehe ruiniert, und er konnte nicht einmal mit dem Trinken aufhören, nachdem er im Vollrausch einen schweren Autounfall verursacht hatte. Nach der Geburt seines Sohnes ging er wieder in die Klinik, aber gegen Ende seines Aufenthalts hatte er noch immer das Gefühl, der Flasche nicht widerstehen zu können.

»Ich habe unaufhörlich an Alkohol gedacht«, schreibt er in seiner Autobiografie Clapton. »Ich hatte große Angst und war völlig verzweifelt.« Als er eines Nachts allein in seinem Zimmer in der Klinik einen Panikanfall hatte, sank er auf die Knie und betete.

»Ich hatte keine Ahnung, zu wem ich da eigentlich betete. Ich wusste nur, dass ich am Ende war«, erinnert er sich. »Ich hatte keine Kraft mehr, um weiterzukämpfen. Dann erinnerte ich mich daran, was ich über die Hingabe an Gott gehört hatte. Ich dachte, dazu wäre ich nie in der Lage, mein Stolz ließ es einfach nicht zu. Aber ich wusste, dass ich es allein nicht schaffen würde, also bat ich um Beistand. Ich kniete mich auf den Boden und gab mich hin.« Von diesem Moment an habe er nie mehr ernsthaft daran gedacht, Alkohol zu trinken, selbst nicht an dem furchtbaren Tag, an dem er seinen Sohn Conor identifizieren musste, nachdem dieser in New York aus dem 53. Stock gestürzt war.

In dieser Nacht in der Klinik wurde Clapton plötzlich mit Selbstdisziplin gesegnet. Wie er sie fand, ist schwieriger zu erklären als ihr Verlust. Seine Alkoholprobleme lassen sich psychologisch sehr genau erklären. Entgegen landläufiger Vorurteile lässt uns der Alkohol keine dummen und zerstörerischen Dinge tun – er enthemmt uns ganz einfach. Er reduziert unsere Selbstbeherrschung auf zweierlei Weise: Er senkt den Blutzuckerspiegel und trübt unsere Selbstwahrnehmung. Das heißt, er wirkt sich vor allem auf Verhaltensweisen aus, die mit inneren Konflikten einhergehen, also Situationen, in denen eine innere Stimme etwas will und eine andere nicht, zum Beispiel Geschlechtsverkehr mit der falschen Person, Konsum, Streit – oder noch ein Bier, und dann noch eins. Wenn Karikaturisten diese Konflikte darstellen, zeichnen sie gern ein Engelchen und ein Teufelchen, die in verschiedene Ohren flüsteren. Aber nach ein paar Schnäpsen ist das ein ungleicher Wettstreit, denn dann ist das Engelchen außer Gefecht. Wir müssen früher eingreifen, ehe das Besäufnis seinen Lauf nimmt. Das ist kein Problem, solange man sich in einer Drogenklinik befindet und das Pflegepersonal diese Aufgabe übernimmt. Aber woher soll man die Kraft nehmen, das plötzlich allein zu schaffen? Und warum verfügte Clapton nach seiner Entscheidung »sich hinzugeben« plötzlich über mehr Selbstdisziplin?

»Ein Atheist würde vermutlich sagen, dass ich ganz einfach meine Einstellung geändert habe«, meint Clapton. »Das stimmt sogar bis zu einem gewissen Punkt, aber dahinter steckt sehr viel mehr.« Seither betet er jeden Morgen und jeden Abend um göttlichen Beistand und kniet dazu nieder, da er das Gefühl hat, Demut zeigen zu müssen. Aber warum? »Weil es funktioniert, ganz einfach«, meint Clapton und wiederholt eine Entdeckung, die geläuterte Hedonisten seit Jahrtausenden beschreiben. Manchmal passiert es von einem Moment auf den anderen, wie bei Eric Clapton oder dem heiligen Augustinus, der in seinen Bekenntnissen schreibt, er habe von Gott den Befehl erhalten, nicht mehr zu trinken; daraufhin »kam das Licht des Friedens über mein Herz und die Nacht des Zweifels entfloh«.

Manchmal dauert es etwas länger, wie bei der Berufszynikerin Mary Karr, Autorin von The Liars’ Club, ihren Erinnerungen an eine Kindheit in einer texanischen Ölstadt. Ihre Mutter, die siebenmal heiratete, war Alkoholikerin, zündete ihre Spielsachen an und versuchte, sie zu erstechen. Karr wurde eine erfolgreiche Dichterin und kämpfte mit ihrem eigenen Alkoholismus. Als sich nach der Heimfahrt von einem Besäufnis ihr Auto überschlug, schwor sie, nie wieder einen Tropfen Alkohol anzurühren und befolgte den Rat der Anonymen Alkoholiker, eine höhere Macht um Beistand zu bitten. Sie legte ein Kissen auf den Boden und kniete sich zum ersten Mal in ihrem Leben hin, um zu beten – oder was sie so bezeichnet. Ihre Version eines Gebets sah so aus: »Scheiße, höhere Macht, wo warst du die ganze Zeit?« Sie glaubte zwar nicht an einen Gott, aber sie beschloss, sich jeden Abend dafür zu bedanken, dass sie den Tag nüchtern geblieben war. Nach einer Woche fing sie an, weitere Dinge in ihr Abendgebet aufzunehmen, für die sie dankbar war. Außerdem flocht sie auch immer mehr Wünsche ein, zum Beispiel wenn sie Geld brauchte.

»Ich brauche fünf Minuten, bis ich mit den Bitten durch bin«, erinnert sie sich in ihren Memoiren Lit. »So verrückt es klingt, aber zum ersten Mal seit einer Woche habe ich kein Bedürfnis nach Alkohol.« Sie blieb der höheren Macht gegenüber skeptisch, und als die Angehörigen ihrer Selbsthilfegruppe sie drängten, sich »zu ergeben«, protestierte sie: »Was soll ich denn machen, wenn ich nicht an Gott glaube? Das ist doch so, als würden sie mich vor eine Schaufensterpuppe setzen und mir sagen, ich soll mich in sie verlieben. So was geht nicht auf Kommando.« Religion erschien ihr vollkommen irrational, aber als sie auf einem Empfang des New Yorker Literatur-Jetset in der Morgan Library der Durst nach einem Cocktail unwiderstehlich wurde, schloss sie sich verzweifelt auf der Frauentoilette ein, sank auf die Knie und betete: »Bitte halte mich von den Cocktails fern. Ich weiß, ich habe nie darum gebeten, aber ich brauche Hilfe. Bitte, bitte, bitte.« Es wirkte, genau wie bei Clapton. »Das Gequassel in meinem Gehirn verstummte, als hätte es jemand weggezaubert.«

Für Agnostiker ist diese Magie schwer zu verstehen, und wir zählen uns zu dieser Gruppe. (Wir wurden zwar beide christlich getauft, haben jedoch kaum Zeit auf den Knien verbracht, weder zu Hause noch in einer Kirche.) Doch wenn man sich die Daten ansieht, drängt sich die Frage auf, ob durch die Zwölf Schritte der Anonymen Alkoholiker und die Gottesdienste nicht doch eine höhere Macht wirken könnte. Obwohl viele Menschen den religiösen Institutionen skeptisch gegenüberstehen – Psychologen sind interessanterweise besonders skeptisch –, hegen Forscher, die sich mit der Selbstdisziplin beschäftigen, einen gewissen widerstrebenden Respekt für ihre praktischen Ergebnisse. Auch wenn Sozialwissenschaftler vielleicht nicht an die Existenz einer höheren Macht glauben, müssen sie anerkennen, dass die Religion ein einflussreiches Phänomen ist, das seit Jahrtausenden wirksame Mechanismen zur Selbstdisziplin entwickelt hat. Die Anonymen Alkoholiker würden nicht Millionen von Menschen anziehen, wenn sie nicht irgendetwas bewirken würden. Kann es sein, dass der Glaube an eine höhere Macht mehr Selbstbeherrschung verleiht? Oder passiert da noch etwas anderes, das sich vielleicht auch Agnostiker zunutze machen könnten?

Das Geheimnis der Anonymen Alkoholiker

Mit Ausnahme der religiösen Organisationen sind die Anonymen Alkoholiker123 vermutlich das größte Programm zur Selbstdisziplin, das es je gab. Sie helfen mehr Alkoholikern als alle übrigen kommerziellen Programme und Kliniken zusammengenommen, und viele professionelle Therapeuten schicken ihre Klienten zu ihren Treffen. Sozialwissenschaftler sind dennoch nach wie vor skeptisch, was ihre Erfolge angeht. Es ist schwer, die Behandlungserfolge einer dezentralisierten Organisation ohne Krankenakten nachzuvollziehen: Die Gruppen agieren autonom und bestehen natürlich darauf, dass die Teilnehmer anonym bleiben. Sie orientieren sich an den Zwölf Schritten, aber diese Schritte stellen kein systematisches Behandlungsprogramm dar – die Gründer entschieden sich für die Zahl zwölf in Anlehnung an die zwölf Apostel des Neuen Testaments. Ein Wissenschaftler würde diese Zwölf Schritte einen nach dem anderen überprüfen wollen, um zu sehen, welcher am wirkungsvollsten ist (wenn überhaupt).

Die Mitglieder der Anonymen Alkoholiker vergleichen den Alkoholismus gern mit anderen Krankheiten wie Diabetes, Bluthochdruck, Depression oder Alzheimer, aber diese Vergleiche hinken.124 Der Alkoholismus weist zwar auch physiologische Aspekte auf – einige Menschen scheinen eher eine Prädisposition dafür zu besitzen als andere –, aber die Teilnahme an den Sitzungen der Anonymen Alkoholiker ist nicht mit einem Arztbesuch vergleichbar. Diabetiker setzen sich nicht zusammen und behandeln ihre Krankheit, indem sie einander aufmuntern, und depressive Menschen haben wenig davon, wenn sie sich mit anderen depressiven Menschen austauschen. Die wenigsten Krankheiten haben ihre Ursache in freiwilligen, regelmäßigen und selbstzerstörerischen Handlungen der Erkrankten, und niemand kann eine Entscheidung treffen, nicht an Herzklappenfehlern oder Alzheimer zu erkranken. Der Alkoholismus ist komplizierter, und diese Kompliziertheit lässt Wissenschaftler über die widersprüchlichen Ergebnisse von Untersuchungen der Anonymen Alkoholiker rätseln. Einige sind der Auffassung, der Mangel an schlüssigen Beweisen für Behandlungserfolge lasse Zweifel am Programm der Anonymen Alkoholiker angebracht erscheinen, andere halten dagegen, die Wissenschaftler seien nur nicht imstande, die verwirrenden Variablen herauszurechnen.

Die Fürsprecher der Anonymen Alkoholiker stellen fest, dass Menschen, die regelmäßig an deren Treffen teilnehmen, weniger Alkohol zu sich nehmen als diejenigen, die seltener teilnehmen, doch Kritiker fragen sich, was hier die Ursache ist und was die Wirkung. Bedeutet häufige Teilnahme, dass die Alkoholiker eher trocken bleiben, oder motiviert die Abstinenz eher zur Teilnahme? Vielleicht schämen sich die rückfälligen Trinker ja, an den Treffen teilzunehmen. Oder vielleicht waren sie von vornherein weniger motiviert und hatten größere psychische Probleme.

Trotz dieser Unwägbarkeiten haben Wissenschaftler Hinweise gefunden, dass das Programm der Anonymen Alkoholiker tatsächlich wirkt. Wenn zwei Ereignisse zusammentreffen und Forscher herausfinden wollen, was Ursache ist und was Wirkung, versuchen sie oft, beide über einen längeren Zeitraum zu beobachten, um zu erkennen, was als erstes eintritt; dabei gehen sie von der Annahme aus, dass die Ursache der Wirkung zeitlich vorangeht. Eine Gruppe von Wissenschaftlern unter der Leitung von John McKellar von der Stanford University beobachtete mehr als zweitausend Männer mit Alkoholproblemen über einen Zeitraum von zwei Jahren und kam zu dem Schluss, dass die Teilnahme an den Treffen der Anonymen Alkoholiker eine Verringerung der Alkoholprobleme zur Folge hatte (und nicht umgekehrt; es gab keinen Hinweis darauf, dass die Verschärfung oder Linderung der Alkoholprobleme sich auf die Teilnahme auswirkte). Die positiven Auswirkungen des Programms der Anonymen Alkoholiker bestätigten sich auch, wenn man die ursprüngliche Motivation und die psychischen Probleme der Männer einbezog. Auch andere Wissenschaftler gelangten zu dem Schluss, dass die Anonymen Alkoholiker besser sind als gar nichts. Die Rückfallquote ist zwar hoch – die meisten Teilnehmer erleben regelmäßig Rückschläge –, doch sie kehren danach in der Regel wieder zur Abstinenz zurück. Damit sind die Anonymen Alkoholiker mindestens so effektiv wie professionelle Behandlungsprogramme.

Das Projekt MATCH125, ein groß angelegtes Forschungsprogramm aus den neunziger Jahren, stellte die Theorie auf, dass alle Behandlungen anschlugen, wenn auch nicht in allen Fällen gleich gut. Diese Theorie ging davon aus, dass einige Alkoholiker bei den Anonymen Alkoholikern besser aufgehoben seien, während andere eher von professioneller Therapie profitierten. Um diese Annahme zu überprüfen, wurden einige der Patienten zu den Anonymen Alkoholikern geschickt und andere nahmen an zwei klinischen Programmen unter Leitung von Experten teil (eines basierte auf der kognitiven Verhaltenstherapie, das zweite auf einer Therapie zur Motivationssteigerung). Einige der Teilnehmer wurden nach dem Zufallsprinzip verteilt, andere wurden dem Programm zugewiesen, das nach Ansicht der Therapeuten in ihrem speziellen Fall am besten geeignet war. Einige Jahre und Millionen Dollar später stellte sich heraus, dass die drei Behandlungsmethoden ungefähr gleich effektiv waren und dass es einen unwesentlichen Vorteil brachte, die Behandlungsform an den Patienten auszurichten. (Das Projekt erwies nicht einmal, ob eine der Behandlungsmethoden besser war als nichts, da es keine Kontrollgruppe gab, weshalb nicht klar wurde, ob die Alkoholiker mit ihrem Problem genauso gut oder schlecht allein fertig wurden.)

Unterm Strich sind die Anonymen Alkoholiker also mindestens genauso gut wie die sehr viel teureren professionellen Behandlungsmethoden, wenn nicht besser. Obwohl Wissenschaftler noch immer nicht verstehen, wie die AA-Treffen genau wirken, lassen sich generell ein paar vertraute Dinge beobachten. Wir wissen, dass Selbstdisziplin damit anfängt, sich Maßstäbe und Ziele vorzugeben. Die Anonymen Alkoholiker helfen den Teilnehmern, sich ein klares und realistisches Ziel zu setzen: Trink heute keinen Alkohol. (Ihr Mantra lautet »Ein Tag nach dem anderen«.) Selbstdisziplin hat auch mit Ergebniskontrolle zu tun, und auch hier hilft die Gruppe. Die Mitglieder bekommen Chips, wenn sie eine bestimmte Zahl von Tagen in Folge nüchtern bleiben, und wenn sie sich zu Wort melden, dann sagen sie oft als erstes, wie lange sie schon keinen Tropfen Alkohol angerührt haben. Die Mitglieder wählen außerdem einen »Sponsoren«, mit dem sie regelmäßig, oft täglich, in Kontakt stehen – auch das stellt eine starke Form der Kontrolle dar.

Es gibt auch andere Erklärungen, warum Teilnehmer an den Treffen weniger trinken. Eine etwas ernüchternde Erklärung ist die »Verwahrung«: An den Abenden, an denen Alkoholiker an den Treffen teilnehmen – an denen sie sozusagen »verwahrt« werden –, werden sie allein dadurch vom Trinken abgehalten. Es ist jedoch sehr unwahrscheinlich, dass sich der Effekt der Anonymen Alkoholiker allein auf diese Verwahrung beschränken soll.

Eine andere, etwas erhebendere Erklärung weist darauf hin, dass die Gruppen soziale Unterstützung bieten. Wie alle anderen Menschen sind auch Alkoholiker und Drogenabhängige zu erstaunlicher Selbstdisziplin in der Lage, wenn sie dafür soziale Anerkennung erhalten. Umgekehrt ist die Wurzel des Problems ja oft genau dieser Wunsch nach Anerkennung. Die meisten Menschen finden den Geschmack von Alkohol oder Nikotin beim ersten Mal widerlich und haben Angst, ihren Körper mit unbekannten Drogen vollzupumpen. Aber Jugendliche sind oft bereit, alles – ihre eigenen Ängste, die Warnungen der Eltern, den körperlichen Schmerz und die Möglichkeit, im Gefängnis zu landen oder sogar zu sterben – zu vergessen, weil sie glauben, gewisse Risiken eingehen zu müssen, um von der Gruppe anerkannt zu werden, und dass sie dabei obendrein noch möglichst cool bleiben müssen. Sie üben Selbstdisziplin aus, um ihre Hemmungen zu überwinden und ihre negativen Gefühle zu unterdrücken. Als der junge Eric Clapton mit seinen Freunden ein Jazz-Festival auf dem Land besuchte, trank er sich vorher in einem Pub warm, bis er auf dem Tisch tanzte. Danach erinnerte er sich an nichts mehr, bis er am nächsten Morgen im Nirgendwo aufwachte.

»Ich hatte kein Geld, hatte mich vollgeschissen, vollgepisst und vollgekotzt und hatte keine Ahnung, wo ich war«, erinnert er sich. »Aber das Irre war, ich konnte es gar nicht abwarten, es wieder zu tun. In meinen Augen hatte diese Trinkkultur etwas Überirdisches, und wenn ich mich betrank, gehörte ich einem geheimnisvollen Club an.«

Das ist die negative Seite des Gruppenzwangs.126 Die positive ist der Wunsch nach Anerkennung und Unterstützung von Menschen mit anderen Vorstellungen, zum Beispiel den Mitglieder der Anonymen Alkoholiker, die Clapton und Karr halfen, trocken zu bleiben. Die Menschen in diesen Treffen sind vermutlich wichtiger als die Zwölf Schritte oder der Glaube an eine höhere Macht. Vielleicht sind sie sogar diese höhere Macht.

Die Macht der anderen

In einer neuen und ambitionierten Alkoholismusstudie127 wurden Männer aus der amerikanischen Stadt Baltimore untersucht, die sich wegen Alkoholmissbrauchs in Behandlung befanden. Viele waren von einem Gericht vor die Wahl gestellt worden, sich in professionelle Behandlung zu begeben oder eine Haftstrafe abzusitzen. Damit waren sie eigentlich keine ideale Testgruppe, denn viele nahmen vermutlich nur der Form halber Teil, weil sie nicht ins Gefängnis gehen wollten. Die Wissenschaftler unter der Leitung von Carlo DiClemente von der University of Maryland maßen eine Reihe von psychologischen Variablen und begleiteten die Männer über mehrere Monate hinweg, um verschiedene Hypothesen zu überprüfen. Viele erwiesen sich als falsch. Aber immerhin erkannten die Wissenschaftler einen Faktor, der einen großen Einfluss auf die künftige Nüchternheit der Männer und die Schwere der Rückfälle hatte. Die Alkoholiker wurden gefragt, ob sie andere Menschen um Beistand bei der Bewältigung ihres Alkoholproblems gebeten hatten. Diejenigen Männer, die soziale Unterstützung erhielten, blieben länger trocken und tranken insgesamt weniger.

Soziale Unterstützung ist eine sonderbare Kraft, die in zwei Richtungen wirken kann. Viele Untersuchungen zeigen, dass Einsamkeit belastend wirkt. Einsame Menschen leiden häufiger unter allen möglichen seelischen und körperlichen Krankheiten als Menschen mit funktionierenden zwischenmenschlichen Beziehungen. Das liegt zwar einerseits daran, dass Menschen mit psychischen und physischen Problemen weniger Freundschaften schließen und auf andere Menschen abschreckend wirken können. Doch die Einsamkeit selbst schafft neue Probleme. Unter anderem trägt ein Mangel an Freunden zum Alkohol- und Drogenmissbrauch bei.

Trotzdem ist soziale Unterstützung nicht gleich soziale Unterstützung. Freunde mögen gut für die seelische und körperliche Gesundheit sein. Aber wenn Ihre Freunde Trinker und Drogensüchtige sind, dann helfen sie Ihnen vermutlich nicht, Ihre Impulse im Zaum zu halten. Im Gegenteil könnten sie Sie direkt oder indirekt zum Trinken animieren, weil das zu ihrem Sozialverhalten gehört. In den Vereinigten Staaten des 19. Jahrhunderts gab es beispielsweise einen Brauch namens »Grillgesetz«128: Wenn sich Männer zu einem Grillfest trafen, mussten sie trinken, bis sie ordentlich einen in der Krone hatten. Wer ein alkoholisches Getränk ablehnte, beleidigte den Gastgeber und die übrigen Gäste.

Neuere Untersuchungen ergeben, dass wir mehr trinken, wenn wir von unseren Freunden dazu angehalten werden. Wer mit Alkohol- und Drogenproblemen kämpft, braucht soziale Unterstützung, um nicht zu trinken, und an diesem Punkt können Gruppen wie die Anonymen Alkoholiker eine entscheidende Unterstützung bieten. Alkoholiker haben oft so viel Zeit mit anderen Trinkern verbracht, dass sie sich kaum vorstellen können, welchen Nutzen eine andere Form des Gruppenzwangs haben soll. Erst als Clapton in der Klinik war, suchte er die Unterstützung anderer Menschen, um mit dem Trinken aufzuhören. Und als Karr die ersten Versuche unternahm, nichts mehr zu trinken, schleppte sie sich pflichtschuldigst zu den Treffen der Anonymen Alkoholiker in das Hinterzimmer einer Kirche, doch die bunt zusammengewürfelte Gruppe und ihre ernsten Bekenntnisse schreckten sie zunächst ab.

Sie hielt Abstand, bis sie nach einem besonders katastrophalen Absturz den Rat der Anonymen Alkoholiker beherzigte und sich ein Mitglied der Gruppe, eine Akademikerin aus Boston, als Sponsorin und persönliche Beraterin wählte. Karr hatte keine Lust, sich ihr Gerede von einer höheren Macht anzuhören, doch die täglichen Gespräche halfen ihr: »Mit ihrer Hilfe habe ich zwei Monate lang keinen Tropfen Alkohol angerührt: Ich habe die Fäuste geballt und die Zähne zusammengebissen und eine Anstrengung unternommen, die außer den Leuten im Keller der Kirche, den ich an ein paar Abenden pro Woche besuche, niemand zu würdigen weiß.« Als sich die beiden Frauen in einem Café trafen, um Karrs zwei trockene Monate zu feiern, beschwerte sich Karr über die Versager und Spinner in ihrer Gruppe, und »den ganzen spirituellen Scheiß«. Ihre Sponsorin schlug ihr vor, die höhere Macht und die Gruppe in einem anderen Licht zu sehen: »Es ist eine Gruppe von Leuten. Zusammen sind sie mehr als du, sie verdienen besser als du, und sie haben mehr Gewicht als du. Wenn man es einfach nimmt, sind sie eine höhere Macht als du. Sie haben vor allem mehr Erfahrung als du, wenn es darum geht, nüchtern zu bleiben. Wenn du ein Problem hast, erzähl der Gruppe davon.«

Die Macht der Gruppe kommt unter anderem aus dem passiven Akt des Zusammensitzens und Zuhörens. Neulingen erscheinen die Treffen oft sinnlos, denn die Teilnehmer erzählen oft einfach nur nacheinander ihre Geschichten, statt aufeinander einzugehen und Ratschläge zu geben. Aber wer seine Geschichte erzählt, ist gezwungen, seine Gedanken zu organisieren, sein Verhalten zu beobachten und Ziele für die Zukunft zu erörtern. Ein persönliches Ziel kann realer werden, wenn man es laut ausspricht, vor allem wenn andere dabei zuhören. Eine Untersuchung von Patienten, die sich einer kognitiven Verhaltenstherapie unterzogen, ergab, dass Vorsätze eher eingehalten werden, wenn sie in Anwesenheit anderer Menschen, vor allem der Partner, ausgesprochen werden.129 Wenn Sie Ihrem Therapeuten versprechen, dass Sie weniger trinken wollen, trägt das offenbar weniger zu Ihrer Selbstdisziplin bei als ein Versprechen gegenüber Ihrem Partner. Er oder sie riecht schließlich Ihren Atem.

Genauso sparen Sie eher Geld, wenn Sie anderen Ihr Ziel mitteilen. Wirtschaftswissenschaftler untersuchten eine Gruppe von chilenischen Straßenverkäuferinnen,130 Näherinnen und anderen »Kleinunternehmerinnen«, die Mikrokredite von einer gemeinnützigen Organisation erhalten hatten. Die Frauen trafen sich einmal pro Woche in Gruppen, wo sie eine Ausbildung erhielten oder die Rückzahlung ihrer Kredite überwachten. Die Ökonomen Felipe Kast, Stephan Meier und Dina Pomeranz verteilten die Teilnehmerinnen nach dem Zufallsprinzip auf verschiedene Spargruppen. Die einen erhielten einfach ein kostenloses Sparkonto, die anderen bekamen ein Konto plus die Möglichkeit, in den regelmäßigen Treffen ihre Sparziele zu verkünden und ihren Fortschritt zu diskutieren. Nicht alle Angehörigen der zweiten Gruppe nutzten diese Möglichkeit, aber im Ganzen zahlten diese Frauen dreimal so oft auf ihr Konto ein und sparten 65 Prozent mehr Geld als die Teilnehmerinnen in der ersten Gruppe. In diesem Fall war offenbar Schweigen Silber und Reden Gold.

Rauchen galt lange als persönliche körperliche Sucht, die mit unwiderstehlichen Impulsen in Gehirn und Körper der Raucher zusammenhängt. Es war daher eine überraschende Erkenntnis, als das New England Journal of Medicine im Jahr 2008 einen Artikel veröffentlichte, in dem nachgewiesen wurde, dass sich das Nichtrauchen wie eine Epidemie durch soziale Netzwerke ausbreitete. Der Mediziner Nicholas Christakis und der Sozialwissenschaftler James Fowler stellten fest, dass Nichtrauchen ansteckend wirkt. Wenn in einer Ehe ein Partner mit dem Rauchen aufhörte, nahm die Wahrscheinlichkeit dramatisch zu, dass der andere folgte. Auch wenn ein Bruder, eine Schwester oder ein Freund mit dem Rauchen aufhörte, hatte dies positive Auswirkungen. Selbst das Verhalten von Arbeitskollegen zeigte noch einen nachweisbaren Einfluss, solange das Unternehmen klein genug war.131

Besonders interessierten sich die Raucherforscher für Orte, an denen nur einige wenige Menschen rauchten, denn man musste davon ausgehen, dass diese Menschen besonders süchtig sein mussten. Man hört immer wieder, dass Leute, denen es leichtfällt, mit dem Rauchen aufzuhören, dies schon längst getan haben, weshalb nur noch ein harter Kern von unheilbar Süchtigen übrig ist. Aber neue Erkenntnisse haben diese These widerlegt. Es gibt zwar Raucher, die auch allein weiterrauchen, doch Raucher, die vor allem von Nichtrauchern umgeben sind, hören mit größerer Wahrscheinlichkeit auf. Dies ist ein weiterer Hinweis auf die positive Rolle, die der gesellschaftliche Einfluss und die soziale Unterstützung spielen können. Untersuchungen zum Übergewicht und zur krankhaften Fettleibigkeit haben ähnliche Muster des sozialen Einflusses festgestellt, auf die wir später noch eingehen.132

Heilige Selbstbeherrschung

Wenn Sie einer religiösen Gemeinschaft angehören und Gott um ein längeres Leben bitten, dann wird Ihre Bitte mit großer Wahrscheinlichkeit erhört. Dabei scheint es keine Rolle zu spielen, zu welchem Gott Sie beten. Nach Erkenntnissen des Psychologen Michael McCullough (der sich selbst nicht als religiös bezeichnet) scheint jede Form der religiösen Aktivität die Lebenserwartung133 zu steigern. McCullough analysierte mehr als drei Dutzend Untersuchungen, in denen Testpersonen nach ihrer Frömmigkeit befragt und dann über einen langen Zeitraum hinweg beobachtet wurden. Dabei stellte sich heraus, dass nichtreligiöse Menschen eher starben und dass religiös aktive Menschen zu jedem beliebigen Zeitpunkt eine um 25 Prozent höhere Überlebensquote aufwiesen. Die Zahlen sprechen Bände und wurden seit ihrer Veröffentlichung im Jahr 2000 von anderen Wissenschaftlern bestätigt. Viele dieser langlebigen Menschen sind vermutlich überzeugt, dass Gott ihre Gebete erhört. Aber Sozialwissenschaftler finden die göttliche Intervention als Erklärung nicht sonderlich überzeugend, und sei es nur, weil sie sich im Labor nicht nachweisen lässt. Sie fanden diesseitigere Gründe.

Religiöse Menschen entwickeln mit geringerer Wahrscheinlichkeit ungesunde Angewohnheiten, sie trinken weniger Alkohol, pflegen ein weniger riskantes Sexualverhalten, nehmen weniger Drogen und rauchen seltener. Dafür schnallen sie sich häufiger an, gehen regelmäßig zum Zahnarzt und nehmen vitaminreiche Ernährung zu sich. Sie besitzen ein besseres Netzwerk von sozialen Unterstützern, und ihr Glaube hilft ihnen, eher mit Schicksalsschlägen fertig zu werden. Außerdem verfügen sie über größere Selbstdisziplin134, wie McCullough und seine Kollege Brian Willoughby von der University of Miami unlängst bei der Auswertung von Hunderten Untersuchungen aus acht Jahrzehnten feststellten. Einige der positiven Auswirkungen der Religion stellten keine Überraschung dar: Religion fördert Familiensinn und gesellschaftliche Harmonie, unter anderem weil diese Werte mit Gottes Willen und anderen religiösen Vorstellungen in Zusammenhang gebracht werden. Außerdem verringert die Religion die inneren Konflikte zwischen widersprüchlichen Werten und Zielen. Wie wir in einem früheren Kapitel gesehen haben, verhindern gegensätzliche Ziele die Selbstregulation, während die Religion Klarheit zu schaffen und den Gläubigen eindeutigere Prioritäten zu geben scheint.

Entscheidender ist jedoch, dass die Religion zwei wichtige Mechanismen der Selbstbeherrschung beeinflusst: Sie stärkt den Willen und verbessert die Selbstüberwachung. Schon in den zwanziger Jahren stellten Wissenschaftler fest, dass Kinder, die regelmäßig die Sonntagsschule besuchten, in Laborversuchen mehr Selbstdisziplin aufwiesen. Fromme Kinder galten bei Eltern und Lehrern als weniger impulsiv. Wir kennen keine Untersuchungen, die die Auswirkungen des regelmäßigen Gebets und anderer religiöser Praktiken auf die Selbstdisziplin behandelt haben, doch wir können annehmen, dass diese Rituale den Willen genauso stärken wie andere der hier vorgestellten Übungen, zum Beispiel das Aufrechtsitzen.

Meditation135 erfordert oft eine explizite und bewusste Kontrolle der Aufmerksamkeit. Anfänger der Zen-Meditation beobachten zum Beispiel ihren Atem. Sie zählen zehn Atemzüge und beginnen wieder von vorn. Dabei schweifen ihre Gedanken natürlich ab, und sie zurückzuholen und sich wieder auf den Atem zu konzentrieren, fördert die geistige Disziplin. Genau wie das Beten des Rosenkranzes, das Singen hebräischer Psalmen und das Wiederholen hinduistischer Mantras. Wenn Neurowissenschaftler Menschen bei der Meditation beobachten, erkennen sie starke Aktivitäten in zwei Hirnregionen, die bei der Selbstregulation und der Kontrolle der Aufmerksamkeit eine entscheidende Rolle spielen. Psychologen beobachten eine Veränderung, wenn sie das Unbewusste von Testpersonen religiösen Begriffen aussetzen, wenn diese Begriffe also so schnell auf einem Bildschirm aufblitzen, dass sie diese nicht bewusst wahrnehmen können. Versuchsteilnehmer, die auf diese Weise Begriffen wie »Gott« oder »Bibel« ausgesetzt werden136, reagieren langsamer auf Wörter, die mit Versuchungen zusammenhängen, zum Beispiel »Drogen« oder »vorehelicher Geschlechtsverkehr«. McCullough schließt daraus: »Es scheint, als würde Religion diese Versuchungen dämpfen.« Daher schlägt er Gebet und Meditation als Training137 zur Selbstdisziplin vor.

Gläubige stärken ihre Willenskraft, indem sie sich zwingen, ihren Tagesablauf mehrmals zu unterbrechen und zu beten. Einige Religionen wie der Islam verlangen zu festen Tageszeiten Gebete. Andere sehen regelmäßiges Fasten vor, etwa an Jom Kippur, während des Ramadan oder während der vierzigtägigen Fastenzeit. Sie schreiben bestimmte Ernährung vor, zum Beispiel koscheres oder vegetarisches Essen. Bei einigen Gottesdiensten oder Meditationen müssen die Teilnehmer unbequeme Haltungen einnehmen (knien oder Lotussitz), die Disziplin erfordern.

Religion verbessert außerdem die Kontrolle des eigenen Verhaltens, ein weiterer wichtiger Schritt auf dem Weg zur Selbstbeherrschung. Religiöse Menschen haben oft das Gefühl, dass sie von jemandem beobachtet werden. Dieser Jemand ist oft Gott, ein übermenschliches Wesen, das jede Tat sieht, die geheimsten Gedanken kennt und sich nicht hinters Licht führen lässt, wenn wir anscheinend Gutes aus den falschen Gründen tun. In einer bemerkenswerten Untersuchung von Mark Baldwin und seinen Kollegen lasen Studentinnen auf einem Computerbildschirm sexuell eindeutige Beschreibungen. Einigen wurde dabei unbewusst ein Foto des Papstes138 gezeigt. Als sie danach Fragen beantworten sollten, bewerteten sich die katholischen Studentinnen negativer, vermutlich weil ihr Unbewusstes das Bild des Papstes gesehen hatte und sie sich dafür kritisierten, den Text gelesen und vielleicht sogar genossen zu haben.

Aber unabhängig davon, ob die Gläubigen an einen allwissenden Gott glauben oder nicht, sind sich die meisten sehr bewusst, dass sie von menschlichen Augen beobachtet werden: den anderen Mitgliedern ihrer religiösen Gemeinschaft. Wenn sie regelmäßig den Gottesdienst besuchen, empfinden sie einen Zwang, ihr Verhalten den Regeln und Normen der Gruppe anzupassen. Da sie selbst außerhalb der eigentlichen Gottesdienste viel Zeit mit anderen Mitgliedern ihrer Gemeinschaft verbringen, haben sie das Gefühl, dass mögliches Fehlverhalten missbilligend zur Kenntnis genommen wird. Religionen fördern außerdem Rituale der Selbstbeobachtung, etwa die katholische Beichte oder das jüdische Fest Jom Kippur, bei denen die Gläubigen über ihre moralischen Fehltritte und Schwächen reflektieren.

Natürlich ist ein gewisses Maß an Selbstdisziplin erforderlich, um eine religiöse Praxis zu übernehmen, an Gottesdiensten teilzunehmen, Gebete zu lernen und Regeln zu befolgen. Wenn religiöse Menschen mehr Selbstdisziplin aufweisen, dann auch deshalb, weil die Gemeinden keine repräsentative Auswahl von Menschen darstellen und ihre Angehörigen von vornherein mehr Selbstdisziplin mitbringen als der Durchschnitt. Aber selbst wenn man diesen Faktor herausrechnet, lässt sich feststellen, dass Religion die Selbstdisziplin verbessert. Zu diesem Schluss kommen nicht nur Wissenschaftler, sondern auch die vielen Menschen, die sich einer Religion anschließen, weil sie ihr Leben besser in den Griff bekommen wollen. Andere Menschen entdecken in schwierigen Zeiten den Glauben ihrer Kindheit wieder, den sie zwischenzeitlich abgelegt hatten. Diese religiösen Wiedererweckungen hängen oft mit der reuigen Erkenntnis zusammen, wenn sie richtig gelebt hätten, dann stünden sie nicht vor ihren heutigen Alkohol-, Drogen- oder Schuldenproblemen, doch hinter dieser Reue verbirgt sich häufig die Erkenntnis, dass die Disziplin der Religion ihnen hilft, wieder auf den richtigen Weg zu kommen.

Die Agnostikerin Mary Karr ergab sich so vollständig, dass sie sich taufen ließ und an den Exerzitien des Ignatius teilnahm, einer Reihe von strengen, zeitaufwändigen Gebeten und Meditationen. Nicht jeder kann und will diesen Weg gehen. Wenn Sie sich zum Katholizismus oder einer anderen Religion bekennen, nur um sich besser zu beherrschen, haben Sie vermutlich ohne echten Glauben wenig davon. Psychologen stellten fest, dass Menschen, die aus äußerlichen Gründen Gottesdienste besuchen, etwa weil sie andere beeindrucken oder soziale Beziehungen knüpfen wollen, nicht dasselbe hohe Maß an Selbstdisziplin aufweisen wie echte Gläubige. McCullough gelangte zu dem Schluss, dass die Selbstdisziplin der Gläubigen weniger von einer Furcht vor dem Zorn Gottes herrührt als von einem Wertesystem, das sie übernommen haben und das ihren persönlichen Zielen eine Aura der Heiligkeit verleiht.

Agnostikern rät er, ihre eigenen heiligen Werte zu formulieren. Das könnte ein Bekenntnis sein, anderen zu helfen, wie Henry Morton Stanley seine »heilige Aufgabe« darin fand, den Sklavenhandel in Afrika zu beseitigen. Es könnte ein Bekenntnis zur Fürsorge für andere Menschen, zur Verbreitung humanistischer Werte oder zum Erhalt der Umwelt für kommende Generationen sein. Vermutlich ist es kein Zufall, dass die Umweltbewegung in den Industrienationen besonders stark ist, wo die traditionellen Religionen im Rückzug begriffen sind. An die Stelle des Glaubens an Gott tritt eine Verehrung der Schönheit und Transzendenz der Natur. Die Forderung der Umweltschützer, Konsum und Umweltverschmutzung einzuschränken, vermittelt Kindern ähnliche Lektionen der Selbstdisziplin wie Katechismen und Predigten. Die Bewegung der Grünen scheint instinktiv eine Form der Selbstdisziplin durch eine andere zu ersetzen und eigene Regeln aufzustellen: An die Stelle der koscheren Speisen treten solche aus biologischem Anbau, an die Stelle der Erlösung tritt die Nachhaltigkeit.

Es ist kein Zufall, dass Menschen, die die Bibel beiseitegelegt haben, nun Bücher mit neuen Lebensregeln kaufen. Sie ersetzen die Zehn Gebote durch die Zwölf Schritte, den Achtfachen Pfad oder die Sieben Wege. Selbst wenn sie nicht mehr an den Gott der Bibel glauben, gefällt ihnen die Vorstellung von in Stein gemeißelten Geboten. Aber auch wenn Sie diese göttlichen Regeln und Dogmen kaltlassen oder nervös machen, sollten Sie sie nicht als leeren Aberglauben abtun. Diese Regeln lassen sich auch ganz anders sehen, und diese Sicht lässt sich so gut im Jargon der Statistiken, Spieltheorien und Wirtschaftswissenschaften darstellen, dass selbst die diesseitigen Wissenschaftler ihre Freude daran haben.

Klare Linie

Als Eric Clapton an jenem Sommerabend am Pub vorbeifuhr und der Versuchung nicht widerstehen konnte, wurde er ein Opfer der sogenannten »hyperbelförmigen Abwertung«139. Dieses Phänomen lässt sich am besten mit Grafiken und Hyperbelkurven erklären, aber wir werden es mit einem Bild und einer alten Allegorie versuchen.

Wir können uns Eric Clapton an diesem Samstagabend als reuigen Sünder denken, der sich auf dem Weg zur Erlösung befindet, genau wie Christian, der Held von Pilgrim’s Progress, einer Allegorie aus dem 17. Jahrhundert.1* Stellen wir uns vor, dass Eric wie Christian zur Himmlischen Stadt unterwegs ist. Während er durch die Landschaft fährt, sieht er in der Ferne ihre goldenen Türme und fährt auf sie zu. An diesem Abend sieht er vor sich den Pub, der so unglücklich hinter einer Kurve liegt, dass er direkt unter der Stadt zu stehen scheint. Aus der Ferne wirkt er wie ein kleines Haus, und Eric hält den Blick fest auf die Türme der Himmlischen Stadt gerichtet. Als er jedoch näher kommt, wird der Pub immer größer, bis er schließlich den Blick auf die Stadt in der Ferne versperrt. Die goldenen Türme sind nicht mehr zu sehen. Die Himmlische Stadt scheint plötzlich viel unbedeutender als dieses kleine Haus. Und so endet die Pilgerreise damit, dass Eric bewusstlos auf dem Boden der Kneipe liegt.

Das ist das Ergebnis die sogenannte »hyperbelförmigen Abwertung«: Wir ignorieren die Versuchung, solange sie nicht verfügbar ist, aber sobald wir sie direkt vor der Nase haben, vergessen wir alle Fernziele. Der Psychiater und Verhaltensökonom George Ainslie beschrieb dieses Phänomen mit einer mathematischen Gleichung, die er aus geschickten Variationen des Experiments mit kurz- und langfristigen Belohnungen ableitete. Nehmen wir an, Sie gewinnen in der Lotterie und haben die Wahl, 100 Euro in sechs Jahren oder 200 Euro in neun Jahren zu bekommen – wofür entscheiden Sie sich? Die meisten Menschen wählen die zweite Option. Aber was, wenn Sie die Wahl zwischen 100 Euro heute und 200 Euro in drei Jahren haben? Wer rational rechnet und dieselbe Logik anlegt, würde sich wieder für die zweite Variante entscheiden, aber in diesem Fall entscheiden sich die meisten Menschen für die schnellen 100 Euro. Unser Urteil wird durch die Aussicht auf eine sofortige Belohnung derart verzerrt, dass wir dem künftigen Gewinn einen geringeren Wert beimessen. Wenn die kurzfristige Versuchung näher rückt, explodiert unsere Neigung regelrecht, die Zukunft zu vergessen. Wenn Sie die Zukunft abwerten (wie die Heroinsüchtigen, die nicht über die nächste Stunde hinausdenken konnten), machen Sie sich keine Gedanken mehr über den Kater, den Sie morgen haben, und vergessen Ihren Schwur, für den Rest Ihres Lebens keinen Tropfen Alkohol mehr anzurühren. Diese künftigen Gewinne scheinen unbedeutend im Vergleich zu dem Spaß, den Sie jetzt im Pub haben können. Was ist denn schon dabei, wenn Sie anhalten und ein kleines Getränk zu sich zu nehmen?

Für die meisten Menschen wäre in der Tat nichts Schlimmes dabei, ein Bier zu trinken, genau wie es Menschen gibt (wenngleich nicht viele), die hin und wieder auf einer Party ein Kippchen rauchen und dann monatelang keine Zigarette mehr anrühren. Aber wenn Sie Ihr Trink- und Rauchverhalten nicht im Griff haben, dann können Sie ein Glas Bier und eine Zigarette nicht für sich allein betrachten. Dann können Sie auf der Hochzeit Ihres besten Freundes nicht mit einem Glas Sekt anstoßen, sondern müssen erkennen, dass dieser eine Fehltritt der erste Schritt zu einem neuen langfristigen Muster ist. Für unseren Pilger Eric bedeutet das: Wenn er auf ein Bierchen an einer Dorfkneipe anhält, dann trinkt er eins nach dem anderen und kommt nie in der Himmlischen Stadt an. Ehe er also dem Pub zu nahe kommt und dieser sein Urteil verzerrt, muss er sich wappnen.

Die einfachste Methode besteht darin, allen Kneipen einfach aus dem Weg zu gehen. Wenn er sich einer nähert, könnte er beispielsweise abbiegen und einen Umweg fahren. Aber kann er das wirklich durchhalten? Nehmen wir an, er nimmt einen Umweg um den Pub und erinnert sich, dass er ein Stück weiter in der nächsten Ortschaft an einer Kneipe vorbeikommt, die sich nicht umgehen lässt, weil sie direkt neben der einzigen Brücke über einen Fluss steht. Er fürchtet, der Versuchung nachzugeben, wenn er am nächsten Tag an dieser Kneipe vorbeikommt. Aus Angst, dass sein Traum von einer nüchternen Fahrt zur Himmlischen Stadt dort enden könnte, macht Eric der Pilger einen Handel mit sich selbst: »Wenn ich mich morgen sowieso betrinke, dann ist es doch egal, wenn ich jetzt auf ein Bier haltmache. Carpe diem!« Um dem Bier heute widerstehen zu können, muss er das Zutrauen haben, dass er ihm auch morgen widersteht.

Daher benötigt er klare und unmissverständliche Regeln. Diese Regeln müssen so klar sein, dass Sie es sofort merken, wenn Sie gegen sie verstoßen. Das Versprechen, »in Maßen« zu trinken oder zu rauchen, ist keine solche klare Regel, denn es gibt keinen eindeutigen Punkt, an dem die Mäßigung endet und der Exzess beginnt. Da der Übergang fließend und Ihr Kopf bestens darin geübt ist, Ihre Verfehlungen zu übersehen, bemerken Sie es nicht, wenn Sie zu weit gehen. Daher können Sie sich nicht darauf verlassen, dass Sie sich immer an die Regel halten und maßvoll trinken. Null Toleranz ist dagegen eine klare Regel: kein Tropfen Alkohol und keine Ausnahme. Diese Regel eignet sich nicht zur Lösung aller Probleme mit der Selbstdisziplin, aber in vielen Fällen funktioniert sie sehr gut. Wenn Sie sich auf die eindeutige Regel festlegen, können Sie sich heute sicher sein, dass Sie sich auch morgen daran halten. Und wenn Sie überzeugt sind, dass es sich um eine heilige Regel handelt, dann ist es eine besonders klare Regel. Sie haben mehr Grund zu der Annahme, dass Sie sich auch in Zukunft daran halten werden, weshalb sich Ihre Überzeugung in eine Form der Selbstdisziplin verwandelt: ein sich selbst erfüllendes Gebot. Ich weiß, dass ich es morgen nicht tun werde, also tue ich es heute auch nicht.

Eric Clapton hatte diesen Moment der Klarheit in der Entzugsklinik und er dankte diesem Moment einmal mehr, als er kurz nach dem Tod seines Sohnes an einem Treffen der Anonymen Alkoholiker teilnahm. Er sprach über den dritten der zwölf Schritte – »Wir fassen den Entschluss, unseren Willen und unsere Sorge einer höheren Macht anzuvertrauen« – und berichtete, wie sein Zwang zu trinken in dem Moment verschwand, in dem er sich auf den Boden kniete und Gott um Beistand bat. Von diesem Moment an hatte er keinen Zweifel, dass er trocken bleiben würde – auch an dem Tag, an dem sein Sohn starb.

Nach dem Treffen kam eine Frau auf ihn zu. »Sie haben mir gerade meine letzte Entschuldigung genommen, Alkohol zu trinken«, sagte sie. »Ich hatte immer noch im Hinterkopf diese Entschuldigung, wenn einem meiner Kinder etwas passiert, dann habe ich das Recht, mich zu betrinken. Sie haben mir gezeigt, dass das falsch ist.« In diesem Moment wusste Clapton, dass er eine gute Möglichkeit gefunden hatte, den Tod seines Sohnes zu ehren. Wie auch immer man das Geschenk nennen will, das er dieser Frau machte – soziale Unterstützung, Gottvertrauen, Glaube an eine höhere Macht, klare Regel –, es gab ihr den Willen, sich selbst zu helfen.