KAPITEL 9

WIE SIE IHR KIND STARK MACHEN 

Du bist ein Superstar,

egal wer du bist

oder wo du herkommst –

so bist du zur Welt gekommen!

 

Lady Gaga auf einem Konzert

 

Flegel werden nicht geboren.

Sie werden erzogen.

 

Deborah Carroll140 alias Nanny Deb

Dank der Wunder des Reality-TV verfügen Eltern der amerikanischen Mittelschicht heute über ein Privileg, das einst nur den Reichen vorbehalten war: Sie können sich ein britisches Kindermädchen leisten. Zwar unterscheiden sich die Geschichten im Detail, doch das Muster bleibt dasselbe, egal ob die Serie Nanny 911 oder Die Super Nanny heißt. Sie beginnt in einer Familie, deren Kinder verrückt spielen – sie weinen, schreien, spucken, ziehen einander an den Haaren, werfen mit Tassen, beschmieren die Bettbezüge, zerstören Spielsachen, schlagen ihre Eltern und würgen ihre Geschwister. In einem Vorort von St. Louis gehen die Kinder zu Beginn einer Folge von Nanny 911 buchstäblich die Wände hoch. In diesem Moment tritt das britische Kindermädchen in viktorianischem Kostüm – schwarzer Rock, schwarze Nadelstreifenweste, schwarze Strumpfhose, weinroter Hut und ein passendes Cape mit goldenen Knöpfen und Kette – auf den Plan und ruft: »Eltern von Amerika, die Rettung ist nah!«

Wie konnte es nur so weit kommen?

Man könnte meinen, diese Sendungen übertrieben die Ungezogenheiten der Kinder. Doch die Produzenten erklären, weil die Sendung zur besten Sendezeit ausgestrahlt werde, dürften sie die schlimmsten Szenen gar nicht zeigen, etwa wenn ein Vierjähriger an der Frau hochblickt, die ihn zur Welt gebracht hat, und schreit: »Verpiss dich, Mama!« Was ist da schiefgegangen? Die Versuchung ist groß, mit den Fingern auf die Eltern zu zeigen. Aber man kann es den Eltern nicht verübeln, dass sie Hilfe suchen. Sie können diese Flegel nicht allein hervorgebracht haben. Sie hatten eine Menge Unterstützung von prominenten Erziehern, Journalisten und vor allem Psychologen.

Die Theorie des Selbstbewusstseins war ein gut gemeinter Versuch, die Erkenntnisse der Psychologie zum Wohl der Gesellschaft zu nutzen, und zunächst schien sie auch sehr vielversprechend. Zu Beginn seiner Laufbahn sprang auch Baumeister auf den Zug des Selbstbewusstseins auf. Er war beeindruckt von Untersuchungen, die zu belegen schienen, dass selbstbewusste Kinder gute Noten nach Hause brachten, während weniger selbstbewusste in der Schule zu kämpfen hatten. Andere Studien zeigten, dass alleinerziehende Mütter, Drogensüchtige und Kriminelle unter mangelndem Selbstbewusstsein litten. Der Zusammenhang war zwar nicht groß, aber immerhin statistisch signifikant. Ergebnisse wie diese beflügelten eine Bewegung unter der Führung von Psychotherapeuten wie Nathaniel Branden. »Es gibt kein psychisches Problem – ob Angst, Depression, Beziehungsangst, häusliche Gewalt oder Kindesmissbrauch –, das nicht auf mangelndes Selbstbewusstsein zurückzuführen ist«, schrieb Branden.141 Andrew Mecca, Drogentherapeut und späterer Vorsitzender von Kaliforniens Selbstbewusstseins-Task-Force, erklärte, dass »fast jedes gesellschaftliche Problem auf einen Mangel an Eigenliebe zurückzuführen ist«. Aus dieser Begeisterung entstand eine neue Erziehungsphilosophie, die von Psychologen, Lehrern und Journalisten euphorisch propagiert wurde. Die Grundidee lässt sich im Hit »The Greatest Love of All« von Whitney Houston aus den achtziger Jahren zusammenfassen: Meine größte Liebe bin ich selbst. Der Schlüssel zum Erfolg war das Selbstbewusstsein. Wenn Kinder Erfolg haben sollen, müssen sie »ihre innere Schönheit« erleben.

Millionen Eltern und Lehrer konnten der Idee nicht widerstehen und versuchten die schulischen Leistungen ihrer Kinder zu verbessern, indem sie ihnen vorbeteten, sie seien intelligent. Die Eltern lobten grundsätzlich alles. Im Schulsport bekamen plötzlich alle einen Preis, nicht nur die Sieger. Die Girl Scouts legten sich den Slogan »Ich bin einmalig« zu. In den Schulen machten Kinder Collagen mit den Eigenschaften, die sie am liebsten an sich mochten, und diskutierten, was ihnen aneinander gefiel. »Gesellschaft für gegenseitigen Applaus« war einmal ein Witz, aber für die jungen Erwachsenen von heute ist es die gesellschaftliche Norm. Lady Gaga griff die Botschaft von Whitney Houston auf und versicherte ihren Fans in einem Konzert: »Du bist ein Superstar, egal wer du bist oder wo du herkommst – so bist du zur Welt gekommen!« Die Fans jubelten, Lady Gaga nahm einen Scheinwerfer und richtete ihn auf das Publikum. »Wenn ihr heute Abend nach Hause kommt, dann sollt ihr nicht mich mehr lieben, sondern euch selbst!«

Diese Übungen zur Selbstbestätigung sind natürlich angenehm, und angeblich bewirken sie langfristig sogar mehr als konventioneller Schulunterricht. Als der Bundesstaat Kalifornien Wissenschaftler aufforderte, die Bedeutung des Selbstbewusstseins zu überprüfen, erschienen die Ergebnisse vielversprechend. Der renommierte Soziologe Neil Smelser142, der den Bericht herausgab, erklärte gleich auf der ersten Seite, »viele, vielleicht die meisten der Probleme unserer heutigen Gesellschaft haben ihren Ursprung im mangelnden Selbstbewusstsein«.

Ein paar Seiten später räumte er jedoch ein, die wissenschaftliche Beweislage sei noch immer »enttäuschend« – doch dieses Zugeständnis hörte die Presse schon nicht mehr. Außerdem erklärte Smelser, er erwarte mehr Erkenntnisse, wenn mehr zum Selbstbewusstsein geforscht werde. Für diese Studien wurden reichlich Mittel zur Verfügung gestellt, und kurz darauf gab eine weitere Einrichtung einen Bericht in Auftrag. Diesmal handelte es sich nicht um eine politische, sondern um eine professionelle Einrichtung, die Association for Psychological Science. Die Ergebnisse werden allerdings weder Whitney Houston noch Lady Gaga zu neuen Hits inspirieren.

Vom Selbstbewusstsein zum Narzissmus

Das Gremium, das von der Association for Psychological Science einberufen wurde und dem auch Baumeister angehörte, wertete Tausende Veröffentlichungen der Selbstbewusstseinsforschung143 aus und fand einige Hundert, die den Kriterien der Wissenschaftlichkeit genügten. Eine Untersuchung begleitete Schüler einige Jahre lang und stellte tatsächlich einen Zusammenhang zwischen Selbstbewusstsein und schulischen Leistungen fest. Tatsächlich brachten Schüler mit größerem Selbstbewusstsein bessere Noten nach Hause. Aber was war das Huhn und was das Ei? Bekamen die Kinder gute Noten, weil sie selbstbewusst waren, oder waren sie selbstbewusst, weil sie gute Noten bekamen? Es stellte sich heraus, dass sich aus den Noten in der 10. Klasse das Selbstbewusstsein in der 12. Klasse vorhersagen ließ, aber das Selbstbewusstsein in der 10. Klasse stand in keinem Zusammenhang mit den Noten in der 12. Klasse. Das heißt, dass zuerst die Noten kamen und dann das Selbstbewusstsein.

In einer anderen wissenschaftlich sauberen Untersuchung versuchte Donald Forsyth von der Virginia Commonwealth University das Selbstbewusstsein der Teilnehmer seines Psychologiekurses aufzupolieren.144 Einigen der Studenten, die in der Zwischenprüfung mit »befriedigend« oder schlechter bewertet worden waren, schickte er wöchentlich ihr Selbstbewusstsein aufbauende Nachrichten, anderen mit denselben Noten schickte er neutrale Nachrichten. Die wöchentlichen Motivationsübungen wirkten sich zwar positiv auf das Selbstbewusstsein der Studenten aus, aber nicht auf ihre Noten – im Gegenteil. In der Abschlussprüfung schnitten sie nicht nur schlechter ab als die Kontrollgruppe, sondern sie verschlechterten sich sogar noch gegenüber ihrer Zwischenprüfung. Die Durchschnittsnote dieser Gruppe fiel von 59 auf 39 Prozent – also von ausreichend auf ungenügend.

Andere Studien aus dem ganzen Land gelangten zu ähnlichen Ergebnissen: Die Kinder wurden selbstbewusster, doch ihre Leistungen nahmen ab. Sie brachten schlechtere Noten nach Hause, aber fühlten sich besser. In seinen eigenen Untersuchungen ging Baumeister der Frage nach, warum Menschen, die furchtbare Dinge tun – zum Beispiel Auftragsmörder oder Serienvergewaltiger – oft ein erstaunliches Selbstbewusstsein an den Tag legen.

Nach einer Auswertung der wissenschaftlichen Literatur kam das Gremium zu dem Schluss, dass von einer Epidemie von mangelndem Selbstbewusstsein keine Rede sein konnte, zumindest nicht in den Vereinigten Staaten, Kanada und Westeuropa. Die meisten Menschen sind recht zufrieden mit sich selbst. Vor allem Kinder sehen sich selbst ausgesprochen positiv. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse passen gut zu dem, was Baumeister selbst zu Hause erlebt hat, wo sich Szenen wie die folgende abspielten:

 

TOCHTER (4 Jahre alt): »Ich weiß alles!«

MUTTER: »Nein, mein Schatz, du weißt nicht alles.«

TOCHTER: »Doch, ich weiß alles.«

MUTTER: »Du weißt nicht, was die Wurzel von 36 ist.«

TOCHTER: »Ich halte alle großen Zahlen geheim.«

MUTTER: »Es ist keine große Zahl. Es ist 6.«

TOCHTER: »Das habe ich gewusst.«

 

Und das war die Tochter von Eltern, die es nicht darauf anlegten, ihr Selbstbewusstsein zu fördern.

Das Psychologengremium gelangte ebenfalls zu dem Schluss, dass Menschen mit einem größeren Selbstbewusstsein nicht unbedingt effektiver oder umgänglicher sind. Sie halten sich zwar generell für beliebter, charmanter und sozial kompetenter als andere, aber objektive Untersuchungen konnten diesen Unterschied nicht feststellen. Das Selbstbewusstsein steht in keinem Zusammenhang mit Leistungen in der Schule oder am Arbeitsplatz und trägt nicht dazu bei, Nikotin-, Alkohol- und Drogenmissbrauch oder sexuelle Aktivitäten unter Jugendlichen zu verhindern. Es besteht zwar ein Zusammenhang zwischen mangelndem Selbstbewusstsein und Problemen wie Drogensucht und Teenagerschwangerschaften, aber das bedeutet nicht, dass das mangelnde Selbstbewusstsein die Ursache dafür ist. Im Gegenteil, wenn ein heroinsüchtiges Mädchen im Alter von 16 Jahren schwanger wird, ist sie naturgemäß nicht sonderlich zufrieden mit sich selbst.

Nach den Erkenntnissen des Gremiums besitzt ein gesundes Selbstbewusstsein nur zwei eindeutige Vorteile: Erstens steigert es die Initiative, vermutlich weil es Selbstvertrauen verleiht. Menschen mit ausgeprägtem Selbstbewusstsein sind eher bereit, für ihre Überzeugungen einzutreten und nach ihnen zu handeln, auf andere zuzugehen und neue Unternehmungen zu riskieren. (Dazu gehört allerdings auch eine verstärkte Bereitschaft, Dummheiten zu machen, selbst wenn andere dringend davon abraten.) Und zweitens fühlt es sich einfach gut an. Selbstbewusstsein ist eine Art Konto von positiven Emotionen, es vermittelt ein generelles Wohlbefinden und bietet bei Rückschlägen oder Depressionen zusätzlichen Halt. In einigen Berufen, zum Beispiel im Verkauf, kann dies durchaus nützlich sein, denn es hilft, mit den häufigen Zurückweisungen umzugehen. Doch diese Art der Hartnäckigkeit hat ihre zwei Seiten. Sie kann auch dazu führen, dass wir einen vernünftigen Rat in den Wind schlagen und stur Zeit und Geld mit hoffnungslosen Projekten vergeuden.

Oft ist es so, dass das Selbstbewusstsein nur der betroffenen Person nutzt – die Kosten haben andere zu tragen, die mit den Nebenwirkungen wie Arroganz und Eitelkeit fertigwerden müssen. Im schlimmsten Fall wächst sich Selbstbewusstsein zum Narzissmus aus, der unbeirrbaren Überzeugung von der eigenen Überlegenheit. Narzissten halten sich selbst für unfehlbar und sind ihrem großartigen Selbstbild verfallen. Sie spüren ein tiefes Verlangen, von anderen bewundert zu werden (wobei es ihnen weniger darauf ankommt, gemocht zu werden – sie wollen den Applaus). Sie erwarten, dass für sie der Teppich ausgerollt wird, und reagieren kratzbürstig, wenn sie kritisiert werden. Oft machen sie einen guten ersten Eindruck, doch der hält sich nicht. Als der Psychologe Delroy Paulhus Angehörige einer Gruppe bat, einander zu bewerten, waren die Narzissten zunächst die Lieblinge.145 Doch nach einigen Monaten waren sie ans Ende der Liste gerutscht. Gottes Geschenk an die Menschheit ist oft ausgesprochen unausstehlich.

Psychologische Untersuchungen zeigen, dass der Narzissmus in den vergangenen Jahrzehnten deutlich zugenommen hat, vor allem unter jungen Menschen.146 Professoren beklagen immer häufiger, dass ihre Studenten meinen, sie hätten gute Noten verdient, ohne etwas dafür tun zu müssen. Arbeitgeber berichten über Probleme mit jungen Arbeitnehmern, die schnell befördert werden wollen, ohne sich ihre Sporen zu verdienen. Der Trend zum Narzissmus zeigt sich auch in Songtexten der letzten drei Jahrzehnte: Ein Forscherteam unter der Leitung von Nathan DeWall zeigte beispielsweise, das die Wörter »ich« und »mir« in Hits immer häufiger vorkommen. Andere Musiker nahmen sich Whitney Houstons Botschaft zu Herzen: Zum Beispiel Rivers Cuomo, dessen Band Weezer 2008 einen Song mit dem Titel »The Greatest Man That Ever Lived« veröffentlichte – mit dem größten Mann aller Zeiten meinte sich natürlich der Sänger selbst.

Diese zunehmende Verbreitung des Narzissmus ist eine direkte Folge der Selbstbewusstseinsbewegung. Diese Tendenz wird sich in absehbarer Zeit kaum umkehren, denn die Bewegung lebt weiter, obwohl inzwischen bewiesen ist, dass sie Kinder weder erfolgreicher noch ehrlicher noch zu besseren Bürgern macht. Wenn sie an Hindernisse stoßen, verlieren Menschen mit ausgeprägtem Selbstbewusstsein oft einfach das Interesse, wie die Untersuchung in Forsyths Psychologiekurs in Virginia zeigte. Wenn andere nicht erkennen, dass sie es mit einem außergewöhnlichen Menschen zu tun haben, dann ist ihnen eben nicht zu helfen.

Vorbild Asien

Ein Gruppe bleibt vom Trend zum Narzissmus unter jungen Amerikanern verschont: die Amerikaner asiatischer Herkunft. Das liegt vermutlich daran, dass die Eltern dieser Kinder weniger von der Selbstbewusstseinsepidemie infiziert wurden und von einer Kultur geprägt sind, in der die Disziplin eine wichtige Rolle spielt. Einige asiatische Kulturen messen der Selbstbeherrschung deutlich größere Bedeutung bei als die Vereinigten Staaten und andere westliche Gesellschaften. Chinesische Eltern und Kindergärten legen großen Wert auf die Sauberkeit der Kinder und vermitteln schon früh verschiedene Formen der Impulskontrolle. Schätzungen zufolge verfügen chinesischstämmige Kinder im Alter von zwei Jahren bereits über ein Maß an Selbstbeherrschung, wie es die übrigen amerikanischen Kinder erst mit drei oder vier Jahren erreichen.

Ein klarer Unterschied zeigt sich, wenn amerikanische und chinesischstämmige Kinder aufgefordert werden, ihre natürlichen Impulse zu unterdrücken. In einem Test sehen Kinder beispielsweise eine Reihe von Bildern und sollen »Tag« sagen, wenn sie den Mond sehen, und »Nacht«, wenn sie die Sonne sehen. In anderen Tests sollen Kinder flüstern, wenn sie erregt sind, oder eine abgewandelte Form von »Alle Vögel fliegen hoch« spielen, bei dem sie bestimmte Befehle befolgen und andere ignorieren müssen. Bei sämtlichen Tests schneiden vierjährige Chinesen deutlich besser ab als gleichaltrige amerikanische Kinder. Diese überlegene Selbstdisziplin der chinesischstämmigen Kinder könnte bereits in den Genen angelegt sein – es gibt beispielsweise Hinweise, dass die Genkombinationen, die mit dem Symptom der Aufmerksamkeitsstörungen einhergehen, bei chinesischen Kindern deutlich seltener vorkommen. Doch die kulturellen Traditionen in China und anderen asiatischen Ländern spielen zweifellos ebenfalls eine wichtige Rolle beim Erwerb der Selbstdisziplin und tragen dazu bei, dass asiatischstämmige Kinder in den Vereinigten Staaten weniger vom Narzissmus betroffen und später erfolgreicher sind. Asiaten147 machen nur rund 4 Prozent der Bevölkerung der Vereinigten Staaten aus, doch sie stellen ein Viertel aller Studenten an Eliteuniversitäten wie Stanford, Columbia oder Cornell. Sie schließen ihr Studium mit größerer Wahrscheinlichkeit ab als die Angehörigen anderer ethnischer Gruppierungen und verdienen bis zu 25 Prozent mehr als der Landesdurchschnitt.

Aufgrund dieses Erfolgs ist das Vorurteil verbreitet, Asiaten seien intelligenter als Amerikaner und Europäer, aber James Flynn hat eine andere Erklärung für dieses Phänomen gefunden. Nach einer sorgfältigen Auswertung von IQ-Messungen stellte er fest, dass sich chinesisch- und japanischstämmige Amerikaner kaum von europäischstämmigen Amerikanern unterscheiden. Wenn überhaupt, dann weisen sie eher einen niedrigeren Intelligenzquotienten auf. Der eigentliche Unterschied besteht darin, dass sie ihre Intelligenz besser nutzen. Ärzte, Wissenschaftler, Steuerberater und andere Elitebranchen haben in der Regel einen Mindest-IQ. Für europäischstämmige Amerikaner liegt dieser bei 110, aber chinesischstämmige Amerikaner bekommen bereits mit einem Intelligenzquotienten von 103 Zugang zu diesen Berufen. Außerdem erhalten chinesischstämmige Amerikaner oberhalb dieser Schwelle eher eine Anstellung, was bedeutet, dass ein Amerikaner chinesischer Herkunft mit einem Intelligenzquotienten von über 103 eher in einer Elitebranche Fuß fasst als ein Amerikaner europäischer Herkunft mit einem Intelligenzquotienten von über 110. Dasselbe gilt für Amerikaner japanischer Herkunft. Dank ihrer Selbstdisziplin – Fleiß, Ausdauer und Verlässlichkeit – haben Kinder von Einwanderern aus Ostasien genauso viel Erfolg wie europäischstämmige Kinder mit höherem Intelligenzquotienten.

Der Aufschub von Befriedigung ist ein bekanntes Thema in Einwandererfamilien wie der von Jae und Dae Kim, die in Südkorea zur Welt kamen und im amerikanischen Bundesstaat North Carolina zwei Töchter aufzogen. Ihre Tochter Soo wurde Chirurgin, ihre Tochter Jane Anwältin. Zusammen verfassten die Schwestern ein Buch mit dem Titel Top of the Class (zu Deutsch etwa »Die Klassenbesten«), ein Erziehungsratgeber für asiatischstämmige Eltern, die ihre Kinder zu Höchstleistung erziehen wollen.148 In diesem Buch beschreiben sie, wie ihre Eltern ihnen vor dem zweiten Geburtstag das Alphabet beibrachten und dass ihre Mutter niemanden belohnte, der im Supermarkt um Süßigkeiten bettelte. Ehe ihre Kinder an der Kasse quengeln konnten, verkündete Mrs. Kim, wenn jede der beiden in der kommenden Woche ein Buch läse, dann würde sie ihnen einen Schokoriegel kaufen – nächste Woche. Als Soo studierte und ihre Eltern bat, ihr einen billigen Gebrauchtwagen zu kaufen, schlugen sie ihr die Bitte ab und boten ihr stattdessen an, ihr einen Neuwagen zu schenken, wenn sie die Aufnahmeprüfung zum Medizinstudium bestand. Die Eltern verwöhnten ihre Töchter durchaus – aber nur, wenn diese etwas dafür taten.

Die vielen Erfolgsgeschichten von asiatischstämmigen Amerikanern haben Entwicklungspsychologen gezwungen, ihre Theorien zur Kindererziehung zu überdenken. Früher geißelten sie einen »autoritären Erziehungsstil« und warnten Eltern, ohne Rücksicht auf die Gefühle der Kinder strikte Ziele vorzugeben und strenge Regeln aufzustellen. Stattdessen rieten sie Eltern zu einem »autoritativen« Stil, der zwar auch Grenzen setzte, aber den Kindern mehr Freiräume zugestand und ihre Wünsche berücksichtigte. Dieser wärmere, fürsorglichere Erziehungsstil sollte besser angepasste und selbstbewusstere Kinder hervorbringen, die in Schule und Gesellschaft bessere Leistungen brachten als Kinder aus autoritären Elternhäusern. Doch Ruth Chao und andere Psychologen stellten fest, dass viele asiatischstämmige Familien eher unter die Rubrik »autoritär« fielen. Diese Einwanderer und oft auch ihre Kinder sahen ihren Erziehungsstil nicht als Unterdrückung, sondern als eine Form der Verehrung. Viele chinesischstämmige Eltern folgten den konfuzianischen Idealen des chiao shun149, was so viel bedeutet wie »ausbilden«, und guan, was sowohl »bestimmen« als auch »lieben« bedeutet. An amerikanischen Maßstäben gemessen mögen diese Eltern kalt und streng erscheinen, doch ihre Kinder brachten gute Noten nach Hause und waren im Leben erfolgreich.

Die unterschiedlichen Vorstellungen zeigten sich in einer Studie aus Los Angeles über Mütter von Kleinkindern. Auf die Frage, was sie zum schulischen Erfolg ihrer Kinder beitragen konnten, antworteten in China geborene Mütter oft, sie wollten ehrgeizige Ziele setzen, strenge Regeln aufstellen und ihren Kindern zusätzliche Hausaufgaben geben.150 Die in den Vereinigten Staaten geborenen, europäischstämmigen Mütter wollten ihre Kinder dagegen auf keinen Fall unter Druck setzen. Sie wollten die schulischen Leistungen nicht überbewerten, betonten stattdessen die soziale Entwicklung der Kinder und meinten, Lernen müsse Spaß machen und solle nichts sein, für das die Kinder arbeiten müssten. Ihnen ging es darum, das Selbstbewusstsein der Kinder zu stärken – etwas, worauf die chinesischen Mütter nicht den geringsten Wert legten.

Diese Auffassung vertritt auch Amy Chua151, eine ausgesprochen unterhaltsame Vertreterin des »chinesischen Erziehungsstils« und Autorin des Buches Die Mutter des Erfolgs. Ihr Erziehungsstil – keine Pyjamapartys, keine Spielnachmittage – mag für unseren Geschmack recht extrem sein, genau wie der dreistündige Geigenunterricht. Aber sie bringt die Schwächen der Selbstbewusstseinsbewegung auf den Punkt, wenn sie schreibt: »Als ich sah, wie amerikanische Eltern ihre Kinder mit Lob überhäufen, weil sie einen Kringel malen oder mit einem Stock in der Luft herumfuchteln, stellte ich fest, dass chinesische Eltern den westlichen in zwei Punkten überlegen sind: Sie haben ehrgeizigere Pläne für ihre Kinder und behandeln sie mit größerem Respekt, weil sie ein Gespür dafür haben, was ihre Kinder aushalten.« Chuas Strategien – klare Ziele aufstellen, Regeln durchsetzen, Scheitern bestrafen und Leistung belohnen – unterscheiden sich nicht sonderlich von denen, mit denen Deborah Carroll aus Nanny 911 Ordnung in amerikanische Familien bringt: In ihrem Umgang mit amerikanischen Kindern wende sie lediglich die Lektionen an, die sie in ihrer Kindheit in Wales gelernt habe.

»Als ich in die Schule ging, war es eine tolle Sache, einen silbernen oder goldenen Stern zu bekommen«, erinnert sie sich. »Es war wichtig, das Gefühl zu haben, dass ich mich wirklich angestrengt hatte, um etwas zu erreichen. Wenn ich meinem Opa die Hemden gebügelt habe, hat er darauf bestanden, mir Geld dafür zu geben, weil ich sie so gut gebügelt habe – er hat mir immer gesagt, dass ich es besser mache als meine Oma, und das Gefühl, etwas geleistet zu haben, hat mir sehr gut getan. Daher sollte auch das Selbstbewusstsein stammen, und nicht daher, dass dir jemand sagt, du bist der Größte.« Wie Amy Chua, wie die Kims aus North Carolina und wie so viele andere asiatische Einwanderer kam Nanny Deb zu demselben Schluss wie das Gremium der Association for Psychological Science: Vergessen Sie das Selbstbewusstsein. Arbeiten Sie an der Selbstdisziplin.

Nanny Deb und die Drillinge

Als Deborah Carroll im Haus der Familie Paul in der Nähe von St. Louis ankam, machte sie sich keine Sorgen wegen der Racker, die sie im Video gesehen hatte: die buchstäblich die Wände hochgingen und an den Lampen schaukelten. Sie wusste, dass vierjährige Kinder schwer zu bändigen sein können, vor allem wenn sie gleich im Dreierpack auftreten. Aber sie hatte inzwischen genug Erfahrungen in anderen amerikanischen Familien gesammelt, um zu wissen, dass dahinter ganz andere Probleme auf sie warteten.

»In Familien wie diesen sind die Kinder leicht zu bändigen«, meint Carroll. »Sie suchen nach Halt. Sie wollen jemanden, der ihnen ein Gefühl der Sicherheit vermittelt und ihnen sagt: ›Ich bin der Boss. Alles wird gut.‹ Das eigentliche Problem ist, die Eltern bei der Stange zu halten. Sie müssen lernen, sich selbst und die Kinder zu beherrschen.«

Carroll hatte mit Eltern wie diesen zu tun, seit sie im Alter von 18 Jahren hauptberufliches Kindermädchen wurde. Einer ihrer ersten Jobs in London brachte sie zu einer amerikanischen Mutter, die mit einem Engländer verheiratet war und hilflos zusah, wie ihr Kind Amok lief. »Die Kleine sprang buchstäblich auf dem Esstisch herum und hatte einen Tobsuchtsanfall«, erinnerte sich Carroll. »Und die Mutter hat nur zu ihr gesagt: ›Das ist nicht der richtige Ort, Liebling.‹ Es ist in Ordnung, wenn ein Kind einen Tobsuchtsanfall bekommt. Das ist normal. Aber wir müssen den Eltern beibringen, anders damit umzugehen.«

Die Pauls zeigten sich nicht ganz so entspannt wie die Mutter dieses Mädchens, aber wenn es darum ging, ihre Kinder zu disziplinieren, waren sie genauso hilflos. Wenn Vater Tim nach Hause kam und das Wohnzimmer mit Spielsachen übersät war, fegte er sie mit einem Hockeyschläger in einen Schrank. Mutter Cyndi, eine frühere Flugbegleiterin, die den Umgang mit unerzogenen Erwachsenen gewohnt war, kam mit den Drillingen nicht zurecht und hatte es längst aufgegeben, von ihnen zu verlangen, ihre Spielsachen selbst aufzuräumen oder sich anzuziehen. Als Carroll die drei aufforderte, ihre Socken anzuziehen – keine unmögliche Aufgabe für Kinder, die im Kürze eingeschult werden –, rannte eine von ihnen, Lauren, in die Küche, um ihrer Mutter ihre Socken zu bringen. Hysterisch schluchzend klammerte sie sich an sie und bat um Hilfe.

»Es hat mir fast das Herz gebrochen«, erinnert sich Mrs. Paul. »Das macht sie eine halbe Stunde lang. Das ist extrem frustrierend. Wenn sie ihren Anfall bekommt, stellte sie einfach immer wieder dieselbe Frage. An dem Punkt drehe ich einfach durch und will einfach nur noch schreien und alle ins Bett stecken.«

Wie immer gewann das Kind auch diesmal. Sehr zur Enttäuschung von Carroll zog Mrs. Paul dem Mädchen die Socken an. »Sie hat viereinhalb Jahre lang verrückt gespielt, und Sie haben es zugelassen«, sagte Carroll zu Mrs. Paul. »Was passiert in der zweiten Klasse, wenn sie ihre Mathehausaufgaben machen soll und keine Lust hat?«

Wenn man Szenen wie diese sieht, fällt es schwer zu glauben, dass Eltern es früher als ihre Pflicht ansahen, ihre Kinder zu schlagen. »Wer mit der Rute spart, verzieht das Kind«, lautete ein beliebter Rat für Eltern, und man dachte, wer seine Kinder verwöhne, tue ihnen damit keinen Gefallen. Wir wollen hier auf keinen Fall einen Rückfall in die Zeiten der Kindesmisshandlung propagieren, aber wir sind der Ansicht, dass Eltern ihre disziplinierende Rolle wiederentdecken müssen. Es geht nicht darum, zornig zu werden und drakonische Strafen zu verhängen. Es geht vielmehr darum, sich die Zeit zu nehmen, das Verhalten des Kindes zu beobachten und angemessene Belohnungen und Strafen zu finden.

Egal ob Sie ein Kind ins Bett stecken oder einem Jugendlichen ein Privileg nehmen – jede Strafe hat grundsätzlich drei Aspekte: Härte, Schnelligkeit und Konsequenz. Viele Menschen bringen Disziplin mit harten Strafen in Verbindung, aber das ist der unwichtigste Aspekt. Im Gegenteil gelangte die Forschung zu der Erkenntnis, dass Härte wenig bringt und sogar kontraproduktiv sein kann. Statt korrektes Verhalten zu fördern, zeigt sie dem Kind lediglich, dass das Leben grausam und Aggression ein angemessenes Verhalten ist. Viel wichtiger ist die Geschwindigkeit, wie Wissenschaftler in Experimenten mit Kindern, aber auch mit Tieren festgestellt haben. Ratten lernen aus ihren Fehlern, aber die Strafe muss sofort erfolgen, am besten innerhalb einer Sekunde. So schnell müssen Sie bei Ihren Kindern nicht sein, aber je länger die Verzögerung, umso größer die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihr Fehlverhalten und die vorangehenden Gedanken vergessen haben.

Der wichtigste und für die Eltern schwierigste Aspekt der Bestrafung ist die Konsequenz. Idealerweise sollten Eltern ihre Kinder sofort für ein Fehlverhalten bestrafen, aber maßvoll und vielleicht sogar mild. Gerade am Anfang stellt dies für die Eltern eine größere Belastung dar als für die Kinder. Die Versuchung ist groß, ein Fehlverhalten zu übersehen, weil sie müde sind oder weil es das angenehme Beisammensein stört. Eltern können sich einreden, dass sie gütig sein oder dieses eine Mal ein Auge zudrücken wollen. Aber je achtsamer sie am Anfang sind, desto leichter wird es auf lange Sicht. Konsequente Disziplin schafft wohlerzogene Kinder.

Eltern wie Cyndi Paul mag es das Herz brechen, wenn sie Disziplin durchsetzen müssen, aber Kinder reagieren positiv, wenn sie knapp, in ruhigem Ton und konsequent ermahnt werden, so Susan O’Leary152, eine Psychologin, die lange mit Eltern und Kindern zusammengearbeitet hat. Wenn Eltern nicht konsequent sind und Fehlverhalten gelegentlich durchgehen lassen, dann reagieren sie zum Ausgleich beim nächsten Mal oft umso strenger. Das erfordert weniger Selbstdisziplin seitens der Eltern: Sie können nett sein, wenn ihnen danach ist, und streng bestrafen, wenn sie sich ärgern oder das Fehlverhalten sich häuft. Aber nehmen Sie einmal die Sicht des Kindes ein: Mal machen Sie eine Bemerkung, und die Erwachsenen lachen. Ein andermal machen Sie eine ähnliche Bemerkung und bekommen eine Ohrfeige oder müssen ins Bett. Winzige und willkürliche Unterschiede in Ihrem Verhalten oder in der Situation entscheiden darüber, ob Sie gar keine oder gleich eine harte Strafe bekommen. Das empfinden Sie nicht nur als ungerecht, sondern Sie lernen auch, dass es nicht darum geht, wie Sie sich verhalten, sondern darum, ob Sie erwischt werden oder nicht und ob Ihre Eltern in der Stimmung sind, Sie zu bestrafen. Sie könnten zum Beispiel lernen, dass Sie im Restaurant auf gute Tischmanieren verzichten können, weil die Erwachsenen sich schämen, Sie in der Öffentlichkeit zu maßregeln.

»Vielen Eltern fällt es schwer, ihre Kinder in der Öffentlichkeit zu disziplinieren, weil sie das Gefühl haben, dass andere über sie urteilen«, meint Carroll. »Sie haben Angst, sie könnten als Rabeneltern dastehen. Aber diese Angst muss man aus seinem Kopf verbannen. Ich habe es auch erlebt, dass mich Leute anstarren, weil ich mit einem ungezogenen Kind ein Restaurant verlasse, aber darüber darf man sich keinen Kopf machen. Man muss das tun, was für sein Kind richtig ist, und das Wichtigste ist die Konsequenz. Sie müssen lernen, was richtiges und was falsches Verhalten ist.«

Als Carroll ihre Disziplin bei den Pauls zur Anwendung brachte, bewirkte sie wahre Wunder. Am Ende ihres einwöchigen Aufenthalts bei der Familie machten die Drillinge ihre Betten und räumten ihre Spielsachen auf, Lauren zog sich stolz ihre Socken an und die Eltern wirkten zufrieden. Diesen Eindruck vermittelte zumindest die Sendung, die ihre übliche Von-Chaos-zum-Glück-Geschichte erzählte. Aber zeigte die Disziplin auch nach dem Abschied von Nanny Deb noch Wirkung? Wir besuchten die Pauls im Jahr 2010, sechs Jahre nachdem die Kameras wieder abgezogen waren. Mrs. Paul erklärte uns, das Experiment sei ein voller Erfolg gewesen. »Wir haben keine Probleme mehr«, sagte sie und berichtete, die einstigen Racker seien inzwischen gute Schülerinnen und sogar Klassensprecherinnen. Zu Hause erledigten sie brav ihre Aufgaben und waren ihren Eltern nach wie vor bei der Hausarbeit behilflich.

»Vor dem Besuch von Nanny Deb hätte ich nie gedacht, dass sie mal ihre Aufgaben selbst übernehmen würden«, meinte Mrs. Paul. »Ich dachte, das könnte ich nicht von ihnen verlangen, aber sie hatten einfach nicht die Anleitung und Struktur, um zu wissen, was sie tun sollten. Es ist leicht, ein Kind aufzufordern: ›Geh und räum dein Zimmer auf!‹ Aber das sagt dem Kind gar nichts. Genauso gut können Sie ihm sagen, es soll an die Wand starren. Sie müssen die Disziplin aufbringen, mit ihm ins Kinderzimmer zu gehen und ihm zu zeigen, was es zu tun hat. Sie müssen ihm vormachen, wie es ein Kleidungsstück falten und in das richtige Fach im Schrank legen muss.«

Nachdem Mrs. Paul es ein paar Mal demonstriert hatte, übernahmen die Kinder die Aufgaben selbst, auch wenn sie gelegentlich die Hilfe der Mutter benötigten. Und Mrs. Paul benötigte die Disziplin, nicht rückfällig zu werden und die Aufgabe für die Kinder zu erledigen. »Manchmal komme ich in die Küche und sehe ihre Müsli-Schälchen noch auf dem Tisch stehen«, berichtet sie. »Dann will ich sie instinktiv nehmen und abwaschen. Das ist einfacher, als die Mädchen zu suchen. Aber egal, wo sie stecken, ich muss daran denken, dass ich sie in die Küche holen und den Abwasch selbst machen lassen muss. Das ist der Punkt, an dem ich mich selbst zu disziplinieren habe.«

Womit wir bei der Frage wären, die allen Eltern vertraut vorkommen dürfte: Wie wird und bleibt man selbstbeherrscht? Wie schafft man es, Kinder ruhig und konsequent zu disziplinieren, wenn es oft so viel einfacher ist, ein Auge zuzudrücken? Die Antwort beginnt wie immer mit Zielen und Regeln.

Regeln für Babys und Vampire

Kinder können Selbstdisziplin lernen, lange bevor sie Regeln lesen und Aufgaben übernehmen können. Fragen Sie nur einmal Eltern, die ihre Kinder nach der Ferber-Methode zum Einschlafen erzogen haben. Diese Methode verlangt von den Eltern, gegen ihren Instinkt das Weinen der Kinder zu ignorieren, nachdem sie diese abends ins Bett gebracht und allein gelassen haben. Statt sofort zum Bettchen zu rennen, lassen sie das Kind eine bestimmte Zeit lang weinen, dann trösten sie es, schließlich verlassen sie das Zimmer wieder für eine bestimmte Zeit. Dieser Prozess wird so lange wiederholt, bis das Kind sein Weinen kontrolliert und ohne Hilfe der Eltern einschläft. Es erfordert große Disziplin von den Erwachsenen, das herzzerreißende Schluchzen des Kindes zu ignorieren, doch die Kinder lernen schnell, allein und ohne zu weinen einzuschlafen. Wenn sich das Kind so weit beherrscht, gewinnen alle: Das Kind hat keine Angst mehr, allein einzuschlafen, und wenn es mitten in der Nacht aufwacht, müssen die Eltern nicht mehr die ganze Zeit um das Bettchen herumschwirren.

Die Methode funktioniert auch, wenn Kinder schreien, weil sie Hunger haben. Statt das Kind sofort zu füttern, signalisiert die Mutter, dass sie es verstanden hat, doch sie wartet, bis das Kind sich beruhigt hat, ehe sie ihm die Brust oder das Fläschchen gibt. Auch in diesem Fall fällt es anfangs schwer, das Weinen zu ignorieren, und für viele Eltern klingt die Methode so grausam, dass sie nicht im Traum daran denken würden, sie zu versuchen. Aber sobald das Kind lernt, um sein Essen zu bitten, ohne zu weinen, sind alle Beteiligten ruhiger und zufriedener. Die Kinder lernen, dass sie einen gewissen Einfluss auf das haben, was mit ihnen passiert, dass bestimmte Verhaltensweisen von ihnen erwartet werden und dass jede Handlung Konsequenzen hat – Lektionen, die im weiteren Leben immer wichtiger werden.

Die meisten Experten sind sich einig, dass Kinder klare Regeln brauchen und wollen und dass die Verantwortung für die Einhaltung der Regeln einen entscheidenden Aspekt einer gesunden Entwicklung darstellt. Aber Regeln sind nur dann sinnvoll, wenn Kinder sie kennen und verstehen, das heißt: je klarer die Regel, umso besser. Nanny Deb ruft gern spezielle Familienversammlungen ein, um über die »Hausordnung« zu sprechen, und hängt dann in jedem Kinderzimmer eine Liste mit Aufgaben auf. Neben der Liste platziert sie einen Stab, mit dem Buch geführt wird: Wenn Kinder ihr Bett machen oder das Geschirr spülen, wird ein farbiger Ring auf den Stab gesteckt. Jeder Ring bedeutet eine Viertelstunde Fernsehen oder Videospielen, bis zu einer Stunde am Tag. Wenn sich die Kinder schlecht benehmen, erhalten sie erst eine Warnung, und wenn sie nicht hören, nehmen die Eltern einen Ring von dem Stab weg.

Im Namen der Konsequenz müssen sich die Eltern untereinander abstimmen, damit alle wissen, was erwartet wird. Stellen Sie ein System von Belohnungen und Strafen auf, solange Ihre Kinder noch klein sind, und erklären Sie ihnen, wann Sie sie belohnen oder bestrafen. Wenn die Kinder älter werden, ist es sinnvoll, sie nach ihren eigenen Zielen zu fragen. Wenn Sie wissen, was sie erreichen wollen, können Sie ihnen mit den richtigen Anreizen helfen, ihr Ziel umsetzen; zum Beispiel können Sie das Taschengeld von bestimmten Leistungen abhängig machen oder für zusätzliche Arbeit einen Zuschlag versprechen. Aber damit diese finanziellen Anreize wirklich wirken, müssen sich die Eltern ebenfalls disziplinieren. Erinnern Sie sich an die Kims, die ihrer Tochter Soo ein Auto schenkten, nachdem sie die Aufnahmeprüfung zum Medizinstudium bestanden hatte. Ein Toyota Tercel ist vielleicht kein Traumauto, aber Soo liebte ihn und wusch und wachste ihn jahrelang liebevoll. Als er schließlich irgendwann liegen blieb und ausrangiert werden musste, war Soo untröstlich. Das Auto hatte ihr so viel bedeutet, weil sie so viel dafür getan hatte, um es sich zu verdienen.

Ab einem Alter von sechs Jahren können Kinder lernen, Geld zu sparen, aber es ist nicht einfach, wie die Psychologin Annette Otto feststellte.153 Otto entwickelte ein Spiel, in dem Kinder für ein Spielzeug sparen, aber das Geld auch für andere Spielsachen und Süßigkeiten verwenden konnten. Viele Sechsjährige gaben ihr Geld zu Beginn des Spiels aus und stellten erst spät fest, dass sie nun vielleicht nicht mehr genug Geld für das erwünschte Spielzeug hatten (ab diesem Punkt sparten sie überhaupt nichts mehr). Einige neun- und viele zwölfjährige Kinder schafften es jedoch, erst auf den erwünschten Betrag zu sparen und dann das übrige Geld für andere Dinge auszugeben. Wenn Eltern diese Zukunftsorientierung unterstützen wollen, können sie ihren Kindern helfen, Sparkonten einzurichten, die Kontobewegungen zu beobachten, sich Ziele zu setzen und sich zu belohnen.154 Kinder, die ein eigenes Sparbuch haben, sind als Erwachsene erwiesenermaßen die besseren Sparer, genau wie Kinder, die Geldangelegenheiten mit ihren Eltern besprechen.

Einige Eltern geben ihren Kindern Geld für gute Noten, andere sehen es eher kritisch, ihre Kinder für Dinge zu belohnen, die sie ohnehin tun sollten. Das beste Argument gegen diese finanziellen Belohnungen basiert auf einem Phänomen, das Psychologen als Korrumpierungseffekt155 bezeichnen: Belohnungen können selbst ein Hobby in Arbeit verwandeln. Wenn wir für Dinge bezahlt werden, die uns Spaß machen, dann betrachten wir diese Aufgabe irgendwann als Last. Das wirft die Frage auf, ob eine finanzielle Belohnung für gute Noten das Interesse der Kinder am Lernen aushöhlen könnte.

Uns überzeugt dieses Argument allerdings nicht. Erstens handelt es sich ja bei den Noten schon um eine Form der von außen kommenden Belohnung, weshalb das Geld die Kinder in ihrer Wissbegierde nicht zusätzlich demotiviert. Und zweitens ist das Prinzip Geld gegen Leistung eine Tatsache des Erwachsenenlebens, und die finanzielle Belohnung für gute Noten in gewisser Hinsicht eine Vorbereitung darauf.

Wenn Kinder nur dafür bezahlt werden, dass sie die Schulbank drücken, dann könnte das ihre Motivation schwächen, ohne Entlohnung zur Schule zu gehen (als ob sie das nicht ohnehin müssten). Aber wenn Sie ihnen Geld für zusätzlichen Einsatz und gute Leistungen geben, sehen wir darin kein Problem. Experimente haben unterschiedliche Ergebnisse erbracht156: In einigen Versuchen hatte die Belohnung keinen Einfluss auf die Leistung der Kinder, in anderen war sie besonders effektiv. Es kann nichts schaden, es auszuprobieren, und wenn Ihnen das lieber ist, können Sie Ihre Kinder auch in einer anderen als in der Geldform belohnen. Bedenken Sie jedoch, dass Sie konsequent sein müssen, wenn Sie Disziplin vermitteln wollen. Es reicht nicht, dass Sie willkürlich in den Geldbeutel greifen, wenn Ihr Kind ein gutes Zeugnis nach Hause bringt. Legen Sie daher im Voraus Ziele fest: Wie viel ist welche Note wert, welche Fächer sind die wichtigsten, und so weiter. Bei kleineren Kindern müssen Sie die Zahlung festlegen, aber ältere können Boni und Strafen selbst verhandeln und vielleicht sogar Verträge aufsetzen, die beide Seiten unterschreiben. Die Regeln und Belohnungen ändern sich mit zunehmendem Alter der Kinder, aber es ist wichtig, sich diszipliniert daran zu halten, auch wenn die gefürchtete Pubertät herannaht.

Das Problem der pubertierenden Jugendlichen – zumindest aus Sicht der Eltern – liegt in der Tatsache, dass sie die Selbstdisziplin eines Kindes und die Wünsche und Bedürfnisse von Erwachsenen haben. Die Harmonie, die sie vielleicht mit neun oder elf erzielt haben, wird durch die biologische Entwicklung gesprengt, die neue sexuelle und aggressive Impulse hervorbringt und in den Teenagern die Lust am Nervenkitzel weckt. Irgendwo wissen sie allerdings, dass sie Hilfe benötigen. Das ist vielleicht einer der Gründe, warum Millionen von ihnen die Bis(s)-Romane verschlingen, in denen der Vampir Edward und die Jugendliche Bella wissen, dass sie ihre Menschlichkeit und vielleicht sogar ihr Leben verliert, wenn die beiden ihre Liebe vollziehen. Daher kämpfen sie mit ihren Impulsen:

 

EDWARD: Schlaf jetzt, Bella.

BELLA: Bitte, küss mich noch einmal.

EDWARD: Du überschätzt meine Selbstbeherrschung.

BELLA: Was lockt dich mehr, mein Blut oder mein Körper?

EDWARD: Beides.157

 

Mit einem ähnlichen Erfolgsrezept verkaufte die Schmonzettenautorin Mary Brunton schon im 19. Jahrhundert ihre Bestseller. Damals machten sich die Landbewohner Sorgen, ihre Kinder könnten den neuen Versuchungen der Industriestädte verfallen. Doch diese Versuchungen sind nichts gegen das, was in den modernen Städten und im Internet lauert. Auch wenn die Jugendlichen von heute nicht Gefahr laufen, Vampire zu werden, verstehen sie nur zu gut, was Edward meint, wenn er zu Bella sagt: »Wenn ich mit dir zusammen bin, darf ich keine Sekunde lang die Beherrschung verlieren.«

Solange die Selbstdisziplin der Teenager nicht auf der Höhe ihrer Triebe ist, stehen Eltern vor der undankbaren Aufgabe, strenge Kontrolle ausüben zu müssen und die Kinder gleichzeitig mehr und mehr wie Erwachsene zu behandeln. Der beste Kompromiss besteht vermutlich darin, die Jugendlichen bei der Formulierung der Regeln zu beteiligen, was dann zu tun ist, wenn alle ruhig und ausgeruht sind – nicht wenn der Sprössling zum ersten Mal um zwei Uhr morgens nach Hause kommt. Wenn die Jugendlichen an der Aufstellung der Regeln beteiligt sind, sehen sie diese eher als persönliche Verpflichtung und weniger als elterliche Willkür. Wenn sie selbst aushandeln, zu welcher Uhrzeit sie spätestens wieder zu Hause sein müssen, dann halten sie sich eher daran, oder zumindest akzeptieren sie die Konsequenzen, wenn sie dies nicht tun. Und je mehr sie an der Aufstellung der Regeln beteiligt sind, umso eher können sie zum nächsten Schritt der Selbstdisziplin übergehen: der Selbstüberwachung.

Der elterliche Blick

Vor seinen berühmten Marshmallow-Experimenten mit den kalifornischen Kindern machte Walter Mischel158 bei seinen Arbeiten in Trinidad eine andere Entdeckung zum Thema Selbstbeherrschung. Eigentlich wollte er auf der Insel rassistische Vorurteile erforschen. Die beiden wichtigsten ethnischen Gruppierungen auf Trinidad stammen aus Afrika und aus Indien, und beide Gruppen pflegen ihre Vorurteile gegen die jeweils andere. In den Augen der Inder leben die Afrikaner nur in den Tag hinein und verprassen ihr Geld lieber, statt es zu sparen. Umgekehrt halten die Afrikaner die Inder für freudlose Knauser, die keinen Spaß am Leben haben. Mischel wollte diese Stereotypen überprüfen, indem er Kinder beider Gruppierungen zwischen zwei Schokoriegeln wählen ließ. Einer war größer und kostete zehnmal so viel wie der andere, aber wenn die Kinder den größeren wollten, mussten sie eine Woche darauf warten. Den kleineren, billigeren konnten sie dagegen sofort essen.

Mischel stellte fest, dass die ethnischen Stereotype nicht ganz unbegründet waren. Aber bei seinen Untersuchungen stolperte er über einen sehr viel wichtigeren Effekt: Kinder, deren Vater zu Hause lebte, waren sehr viel eher bereit, auf die größere Belohnung zu warten. Die meisten ethnischen Unterschiede ließen sich wiederum über dieses Phänomen erklären, denn indische Familien bestanden in der Regel aus beiden Elternteilen, wohingegen ein großer Teil der afrikanischen Kinder bei alleinerziehenden Müttern lebte. Die Bedeutung des Vaters wurde deutlich, als Mischel die afrikanischen Haushalte auswertete: Etwa die Hälfte der Kinder mit Vater entschied sich für die verzögerte Belohnung, aber keines der Kinder ohne Vater war bereit, eine Woche lang zu warten. Auch die indischen Kinder ohne Vater zogen durchweg die sofortige Belohnung vor.

Als Mischel seine Erkenntnisse im Jahr 1958 veröffentlichte, erregten sie kaum Aufmerksamkeit. Auch später, als es sich berufsschädigend auswirken konnte, darauf hinzuweisen, dass Kinder in Familien mit nur einem Elternteil Nachteile haben könnten, wurden sie kaum beachtet. Seit Anfang der sechziger Jahre sorgten neue Gesetze, Veränderungen der gesellschaftlichen Normen und ein Anstieg der Scheidungsrate dafür, dass immer mehr Kinder bei nur einem Elternteil aufwuchsen, in der Regel bei der Mutter. Niemand wollte diese alleinerziehenden Mütter kritisieren, und auch uns geht es nicht darum, den Einsatz und die Hingabe dieser Frauen zu schmälern. Aber irgendwann ließen sich die Forschungsergebnisse einfach nicht mehr übersehen. Obwohl es natürlich zahlreiche Ausnahmen gibt, geht es Kindern, die von Vater und Mutter aufgezogen werden, generell besser als Kindern, die nur mit Vater oder Mutter aufwachsen: Sie bekommen bessere Noten, sind körperlich und emotional gesünder, haben ein befriedigenderes Sozialleben, weisen seltener asoziale Verhaltensweisen auf, besuchen mit größerer Wahrscheinlichkeit eine Eliteuniversität und landen mit geringerer Wahrscheinlichkeit im Gefängnis.

Eine denkbare Erklärung dafür wäre, dass Kinder mit nur einem Elternteil in Sachen Selbstdisziplin genetisch benachteiligt sind. Wenn sich der Vater (gelegentlich auch die Mutter) aus dem Staub gemacht hat, dann waren die Ursache möglicherweise Gene, die impulsives Verhalten fördern und die Selbstdisziplin schwächen, und die Kinder könnten diese Gene mitbekommen haben. Aber auch in Familien, in denen der Vater oder die Mutter früh starb oder aus anderen Gründen nicht verfügbar war, ließ sich dieser Effekt nachweisen. Auch diese Kinder erwiesen sich als benachteiligt, wenngleich ihre Probleme nicht ganz so groß waren wie die der Scheidungskinder. Die Ergebnisse lassen den Schluss zu, dass Kinder – wie immer – sowohl von den Genen als auch der Umwelt bestimmt werden.

Welche Rolle die Gene auch spielen mögen: Die Kinder, die mit nur einem Elternteil aufwachsen, sind von einem offensichtlichen Umweltfaktor betroffen – sie werden von weniger Augen beobachtet. Die Kontrolle stellt einen wichtigen Aspekt der Selbstdisziplin dar, und vier Augen sehen nun einmal mehr als zwei. Alleinerziehende Eltern159 sind mit überlebenswichtigen Dingen beschäftigt: Sie müssen das Essen auf den Tisch bringen, sich um die Gesundheit der Kinder kümmern und die Rechnungen zahlen und können sich daher nicht mit derselben Konsequenz darum kümmern, Regeln aufzustellen und durchzusetzen. Zwei Eltern können sich dagegen die Arbeit teilen, weshalb beide mehr Zeit und Energie haben, den Charakter des Kindes zu formen. Mehr erwachsene Augen machen einen Unterschied, und dieser Unterschied ist bleibend, wenn man den Ergebnissen einer Untersuchung glauben darf, die vor mehr als sechs Jahrzehnten begonnen wurde.

Zur Prävention jugendlicher Straftaten wurde Anfang der vierziger Jahre ein Projekt aufgelegt, in dessen Rahmen Sozialarbeiter zweimal im Monat 250 Jungen in ihren Elternhäusern besuchten. Sechs Jahre lang notierten sie ihre Beobachtungen über die Familien, die Haushalte und das Leben der Jungen. Zu Beginn der Untersuchung waren die Jungen durchschnittlich zehn Jahre alt. Jahrzehnte später, als die Jungen längst erwachsen und Mitte fünfzig waren, wurden die Aufzeichnungen von der Wissenschaftlerin Joan McCord160 wiederentdeckt. McCord verglich die Erfahrungen von Menschen im Jugendalter mit ihrem späteren Verhalten als Erwachsene und untersuchte Zusammenhänge hinsichtlich der Kriminalität. Bei der Auswertung der alten Erhebung stellte sie fest, dass die mangelnde elterliche Aufsicht der Jugendlichen die wichtigste Ursache für spätere Straftaten war. Die Sozialarbeiter hatten unter anderem festgehalten, ob die außerschulischen Aktivitäten der Jungen regelmäßig, manchmal oder selten von Erwachsenen beaufsichtigt wurden. Je mehr Zeit die Jugendlichen unter elterlicher Aufsicht verbrachten, umso geringer die Wahrscheinlichkeit, dass sie später Straftaten begingen.

Seither ist die elterliche Aufsicht eher noch wichtiger geworden. Eine jüngste Untersuchung zum Marihuana-Missbrauch161, an der 35 000 Jugendliche teilnahmen, ergab einen eindeutigen Zusammenhang mit der Kontrolle durch die Eltern. Wenn die Eltern wissen, wo ihre Kinder sind, was sie tun und wer ihre Freunde sind, nehmen die Kinder mit deutlich geringerer Wahrscheinlichkeit Drogen als schlechter beaufsichtigte Kinder.

Bei Diabetes162 hat die Kontrolle durch die Eltern ähnlich positive Auswirkungen. Jugendliche verfügen über umso mehr Selbstdisziplin, je besser ihre Eltern wissen, wo sich ihre Sprösslinge nach der Schule und am Abend aufhalten, was sie in ihrer Freizeit machen, wer ihre Freunde sind und wofür sie ihr Geld ausgeben. Obwohl Diabetes vom Typ 1 schon in jungen Jahren auftritt und vermutlich überwiegend genetisch bedingt ist, zeigen Jugendliche mit großer Selbstdisziplin und guter elterlicher Aufsicht bessere Blutzuckerwerte und haben damit weniger gravierende Probleme mit den Folgen der Diabetes als andere Kinder. Und wenn die Eltern ihre Kinder beaufsichtigen, können sie damit eine mögliche mangelnde Selbstdisziplin der Kinder zum Teil wettmachen.

Je besser Kinder beaufsichtigt werden, umso mehr Gelegenheit haben sie, ihre Selbstdisziplin zu entwickeln. Eltern können sie durch die in einem früheren Kapitel erwähnte Übung zur Stärkung der Willenskraft führen und sie zum Beispiel auffordern, sich aufrecht hinzusetzen und in grammatikalisch korrekten Sätzen zu sprechen. Alles, was den Selbstdisziplinierungsmuskel der Kinder trainiert, hilft: Musikunterricht, Gedichte auswendig lernen, Gebete sprechen, Tischmanieren einhalten, Schimpfwörter vermeiden oder Dankesbriefe schreiben.

Während die Kinder ihren Willen stärken, lernen sie auch, wann sie ihn nicht einsetzen sollten. In Mischels Marshmallow-Experiment wollten viele Kinder der Versuchung widerstehen, indem sie das Marshmallow anstarrten und mit aller Macht versuchten, starkzubleiben. Das funktionierte natürlich nicht. Solange sie das Marshmallow vor Augen hatten, stellte es eine Versuchung dar, und sobald ihre Willenskraft ein wenig nachließ, wurden sie schwach und aßen es. Diejenigen Kinder, die bis zu einer Viertelstunde lang durchhielten, um zwei Marshmallows zu bekommen, lenkten sich ab. Sie hielten sich die Augen zu, drehten dem Marshmallow den Rücken zu oder spielten mit ihren Schuhbändeln. Einige Wissenschaftler zogen aus dem Marshmallow-Experiment den Schluss, dass es darum geht, die Aufmerksamkeit zu kontrollieren, und nicht die Willenskraft zu stärken, aber das sehen wir anders. Natürlich ist es wichtig, die Aufmerksamkeit zu kontrollieren – aber dazu ist Willenskraft nötig.

Spiel, Satz und Sieg

Seit mehr als einem halben Jahrhundert lenkt das Fernsehen die Kinder von anderen Dingen ab, und seit mehr als einem halben Jahrhundert muss es als Sündenbock für alles herhalten, was mit den Kindern nicht in Ordnung ist. Wir wollen an dieser Stelle nicht auf das Fernsehen einschlagen, weil Kinder dort auch eine Menge nützlicher Dinge lernen können. Aber eines, was sie im Fernsehen nicht lernen, ist Selbstdisziplin. Erfolgreiche Sendungen wissen, wie sie die Kinder fesseln können, ohne dieselben intellektuellen Anforderungen zu stellen wie andere Freizeitbeschäftigungen. Surfen im Internet ist keine ganz so passive Beschäftigung, aber es trägt ebenfalls wenig zur Disziplin bei, vor allem, wenn man nur von einer Website zur nächsten springt und sich nur für Texthäppchen und Tweets Zeit nimmt.

Wie können Kinder lernen, eine Aufgabe zu erledigen, die mehr Konzentrationsfähigkeit erfordert als eine SMS und mehr Denkleistung als ein YouTube-Video? Der verbreitete Rat besteht darin, ihnen Bücher zu lesen zu geben, und dem schließen wir uns gern an. Aber sie können ihre Konzentrationsfähigkeit auch stärken, wenn sie die richtigen Spiele spielen, und damit können sie sogar schon beginnen, bevor sie das Lesen beherrschen. Einige der erfolgreichsten Programme zum Erlernen der Selbstdisziplin gehen auf die klassischen Experimente des russischen Psychologen Lew Wygotski zurück, der Kinder mit Hilfe von Spielen lernen ließ. Die Kinder konnten in der Regel nicht allzu lange still stehen, aber sie hielten es länger durch, wenn sie zum Beispiel so taten, als seien sie Soldaten, die Wache halten. Oder sie lernten Listen von Wörtern auswendig, wenn sie so taten, als gingen in einen Supermarkt und müssten sich erinnern, was sie alles einkaufen wollten.

Wygotskis Erkenntnisse wurden in einem Vorschulprogramm namens »Tools of the Mind«163 umgesetzt. Kinder sollen Spiele spielen164, die zum Teil im Voraus geplant sind und einige Minuten bis einige Tage lang sein können. Wie wir gesehen haben, ist die Integration des Verhaltens über einen längeren Zeitraum – die Fähigkeit, sofortige Befriedigung zugunsten einer späteren Belohnung aufzuschieben – ein wichtiger Aspekt der Selbstdisziplin, und wenn Kinder ein Spiel spielen, das sich über mehrere Tage erstreckt, lernen sie, langfristig zu denken. Solche langfristig angelegten Rollenspiele mit anderen Kindern erfordern eine hohe Konzentrationsfähigkeit. Selbst einfache Rollenspiele wie Familie oder Soldaten verlangen von den Kindern, eine Rolle durchzuhalten und sich im Umgang mit den anderen Kindern an die Spielregeln zu halten. Unabhängige Untersuchungen haben ergeben, dass Kinder, die an Tools of the Mind teilnehmen, sich erheblich besser beherrschen können als Kinder aus konventionellen Vorschulen.

Ältere Kinder erzielen ähnliche Erfolge mit einem anderen Instrument, das heute viele Eltern und Kritiker auf die Barrikaden bringt: Videospiele. Zugegeben, ein großer Teil davon sind sinnlose Ballerspiele, und viele Kinder verbringen viel zu viel Zeit damit, digitale Monster abzuschießen. Aber die verbreitete Kritik an diesen Spielen ist ungefähr genauso fundiert wie die früheren Warnungen vor den Gefahren der Comics. Nachdem Lawrence Kutner und Cheryl Olson von der Harvard University die Literatur ausgewertet und eigene Experimente mit Schülern der Mittelstufe durchgeführt hatten, kamen sie zu dem Schluss, dass die meisten Kinder keinen Schaden nehmen, wenn sie Videospiele spielen, und dass die Spiele im Gegenteil einen ähnlichen Nutzen haben können wie Musik, Sport oder jedes andere Hobby, das Disziplin erfordert. Um bei einem komplexen Computerspiel erfolgreich zu sein, müssen sich die Kinder konzentrieren, komplizierte Regeln lernen und präzisen Schritten folgen. Das erfordert jedenfalls deutlich mehr Disziplin als Fernsehen.

Zum Glück hat die Selbstbewusstseinsbewegung die Videospiele verschont – die Kinder hätten vermutlich kein Interesse an Spielen, die ihnen gleich zu Beginn sagen, was sie doch für großartige Spieler sind. Stattdessen bevorzugen Kinder Spiele, bei denen sie als bescheidene Novizen anfangen und sich durch Leistung hocharbeiten müssen. Während sie die nötigen Fähigkeiten erwerben, scheitern sie ein ums andere Mal. Ein typischer Jugendlicher ist tausend virtuelle Tode gestorben, doch offenbar mangelt es ihm nicht an Selbstbewusstsein, es immer wieder zu versuchen. Während Eltern und Erzieher die Philosophie vertreten, dass jeder einen Preis verdient hat, suchen Kinder immer anspruchsvollere Spiele. Die Spieler müssen sich konzentrieren, um einen Ork nach dem anderen niederzuringen; sie benötigen Geduld, um virtuelles Gold zu schürfen; und sie müssen knausern, um für ein neues Schwert oder einen Helm zu sparen.

Statt darüber zu jammern, dass die Kinder nicht von der Konsole loskommen, sollten wir lieber von den Techniken der Spielentwickler lernen. Ihre Spiele basieren auf den Grundschritten der Selbstdisziplin: Sie geben klare und erreichbare Ziele vor, erteilen sofortiges Feedback und motivieren die Kinder durch Anreize, immer weiter zu üben und ihre Fähigkeiten zu verbessern. Einige Pioniere nutzen die Energie, die Kinder und Erwachsene in Spiele stecken, und setzen die Techniken (zum Beispiel die »Suche« und den Aufstieg durch verschiedene »Levels«) in Schulen, Unternehmen und digitalen Kooperationen um. Videospiele verleihen altmodischen Tugenden neuen Glanz. Wer Erfolg haben will, muss bestimmte Voraussetzungen mitbringen – und die Disziplin haben, es wieder und wieder zu versuchen.