KAPITEL 3

ENDLICH ALLE ZIELE VERWIRKLICHEN

Am Anfang schuf Gott

Himmel und Erde.

Und die Erde war wüst und leer,

und es war finster auf der Tiefe;

und der Geist Gottes

schwebte auf dem Wasser.

 

1. Buch Mose 1,1-2

Am Anfang war die Liste

Die Schöpfung war keine einfache Sache, selbst nicht für einen allmächtigen Gott. Das Projekt erforderte sorgfältige Planung. Wie ein Ei benötigten Himmel und Erde eine Inkubationsphase. Das Projekt musste in eine Liste mit Aufgaben für jeden Wochentag heruntergebrochen werden, beginnend mit dem Montag:

 

  1. Licht machen

  2. Licht betrachten

  3. Licht für gut befinden

  4. Licht von Finsternis scheiden

  5. Licht benennen (Tag)

  6. Finsternis benennen (Nacht)

 

Und so ging es die ganze Woche weiter: Dienstag Himmel schaffen, Mittwoch Erde und Bäume, Donnerstag Jahreszeiten und Himmelskörper, Freitag Fische und Getier, Samstag den Menschen, Sonntag frei. Gott hakte die Aufgaben eine nach der anderen ab, und am Ende der Woche kam er zu dem Schluss: »Und Gott sah alles an, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut.«

Können Sie sich am Sonntag auch so entspannt zurücklehnen? Auf den ersten Blick scheint die Schöpfungsstrategie einfach gut: Setze dir ein Ziel, erstelle eine Liste mit einzelnen Schritten, die zu diesem Ziel führen, setze die Punkte um und ruh dich aus. Aber wie viele Sterbliche schaffen es wirklich, alle Punkte ihrer wöchentlichen Liste abzuhaken? Je länger die Liste, desto mehr bleibt liegen. Viele Führungskräfte haben im Durchschnitt 150 Aufgaben zu erledigen, und es kommen immer neue dazu. Wie entscheiden wir, was auf die Liste gelangt und was wir als Nächstes erledigen? Die gute Nachricht: Es gibt endlich ein paar praktische Tipps. Aber es war gar nicht so einfach, diese Strategien zu entdecken. Erst nach Jahrzehnten der Forschung durch Psychologen und Neurologen, Jahrhunderten der Selbsthilfeliteratur und Jahrtausenden der Experimente wissen wir heute, was die göttliche To-do-Liste ausmacht.

Der erste Schritt der Selbstdisziplin liegt in einem klaren Ziel. Psychologen verwenden den technischen Begriff der Selbstregulation, und »Regulation« unterstreicht die Bedeutung des Ziels. Regulieren bedeutet verändern, und zwar in sinnvoller und bewusster Weise. Es bedeutet, auf ein bestimmtes Ziel oder einen Standard hinzusteuern, zum Beispiel die Höchstgeschwindigkeit für Autos auf Autobahnen oder die Traufhöhe von Gebäuden festzulegen. Selbstdisziplin ohne Ziel wäre nichts anderes als eine willkürliche Veränderung, etwa wie der Versuch, einen strengen Diätplan aufzustellen, ohne zu wissen, welche Nahrungsmittel Übergewicht verursachen.

Die meisten von uns stehen jedoch nicht vor dem Problem, dass sie keine Ziele hätten; im Gegenteil, meistens haben wir viel zu viele. Wir stellen Listen auf, die wir nie und nimmer abarbeiten können, selbst wenn uns niemand dabei unterbricht (was nie passiert). Am Ende der Woche ist die Liste der unerledigten Aufgaben länger denn je, aber wir schieben sie weiter auf und hoffen, dass ein Wunder geschieht. Produktivitätsexperten haben festgestellt, dass sich viele Führungskräfte schon für den Montag mehr vornehmen, als sie in der ganzen Woche erledigen können.

Wenn es um langfristige Ziele geht, verhalten wir uns oft noch unrealistischer. Als der große Selbsthilfepionier Benjamin Franklin53 gegen Ende seines Lebens seine Autobiografie verfasste, erinnert er sich schmunzelnd daran, welche Ziele er sich als junger Mann vorgenommen hatte: »Ich hatte mir das mutige und ehrgeizige Ziel gesetzt, moralisch vollkommen zu werden. Ich wollte leben, ohne je einen Fehler zu begehen und alle Niederungen überwinden, in die mich Neigungen, Gewohnheiten oder Freunde locken konnten.« Bald sah er sich jedoch mit einer kleinen Schwierigkeit konfrontiert. »Weil ich mich vor einer Schwäche hütete, wurde ich oft von einer anderen überrascht. Die Gewohnheit nutzte diese Unachtsamkeit aus, und die Neigung war oft stärker als die Vernunft.«

Also versuchte es Franklin mit System. Er stellte eine Liste von Tugenden auf und formulierte für jede ein kurzes Ziel. Zum Thema Ordnung hielt er beispielsweise fest: »Gib jedem Ding seinen Platz und jeder Unternehmung ihre Zeit.« Die Liste bestand aus einem weiteren Dutzend Tugenden –Abstinenz, Schweigsamkeit, Entschlossenheit, Sparsamkeit, Fleiß, Ehrlichkeit, Gerechtigkeit, Mäßigung, Reinlichkeit, Ruhe, Keuschheit und Bescheidenheit –, doch er erkannte, dass die Aufstellung nur bedingt nützlich war. »Ich hielt es für ratsam, mich nicht an allen gleichzeitig zu versuchen, sondern sie eine nach der anderen anzugehen«, schrieb er. Das Ergebnis war ein »Kurs«, der heute vermutlich unter dem Titel »In 13 Wochen zur totalen Tugend!« vermarktet würde. Lange vor Stephen Coveys sieben Wegen und seinen ledergebundenen Kalendern und Planungssystemen, und lange vor dem Spruch des Tages von Stuart Smalley und Konsorten erfand Franklin ein System mit seiner »Tugendtabelle«. Als Bonus gab er seinen Lesern ein Gebet mit auf den Weg:

 

Vater des Lichts und des Lebens, erhabener Gott! Zeige mir, was gut ist, lehre mich! Behüte mich vor Dummheit, Eitelkeit, Laster und allen niederen Zielen und fülle meine Seele mit Wissen, Frieden und Tugend: Heiliges, tiefes und ewiges Glück!

 

In einem Notizbuch54 legte er mit roter Tinte dreizehn Wochentabellen an, eine für jede Tugend. Jede Tabelle bestand aus sieben Spalten für die Wochentage und dreizehn Zeilen für die einzelnen Tugenden, beginnend mit der Tugend der jeweiligen Woche. Am Ende des Tages ging er die Reihen durch und markierte mit schwarzem Bleistift, welche der Tugenden er nicht eingehalten hatte. In einer dieser Tabellen – die Woche hatte Franklin der Mäßigung gewidmet – setzte er schwarze Markierungen bei anderen Tugenden, bei deren Umsetzung er im Laufe der Woche geschwächelt hatte: Geschwätz und Unordnung am Sonntag, Chaos und Faulheit am Dienstag, Unentschlossenheit und Völlerei am Freitag. Aber immerhin erreichte er sein Ziel und rührte die ganze Woche keinen Tropfen Alkohol an. Von diesem Fortschritt ermutigt und in der Hoffnung, dass ihm die Abstinenz nach einer Woche zur Gewohnheit geworden sei, machte er sich an eine zweite Tugend. Franklin verglich sich mit einem Gärtner, der dreizehn Beete auf einmal jätet, wieder von vorn anfängt und mit jeder Runde weniger Unkraut vorfindet. »Ich hoffte, dass ich in meinem Büchlein den Fortschritt meiner Vervollkommnung würde bewundern und zusehen können, wie eine Reihe nach der anderen von Markierungen frei bliebe, bis die Seiten nach 13 Wochen der täglichen Betrachtung sauber blieben.«

Leider ging der Plan nicht ganz auf. Die Markierungen füllten die Reihen und Spalten. Nach dreizehn Wochen begann er wieder von vorn und radierte die Bleistiftmarkierungen weg, um die Tabellen wiederzuverwenden. Nach einigen Runden hatte er Löcher in die Seiten radiert. Also besorgte er sich ein kräftigeres Notizbuch mit Seiten aus Elfenbeinkarton, die sich wie ein Fächer öffneten. Nach jeder Runde konnte er die Bleistiftmarkierungen einfach mit einem Schwamm abwaschen. Die neue Tabelle erwies sich als ausgesprochen robust: Als er ein knappes halbes Jahrhundert später als Diplomat mit den Damen der Pariser Gesellschaft flirtete, hatte er sie noch immer und zeigte sie gern herum. Anders als moderne Selbsthilfe-Gurus kam Franklin allerdings nicht auf die Idee, eine Produktreihe von Notizbüchern und Planern auf den internationalen Markt zu werfen, was vielleicht daran gelegen haben mag, dass er zu sehr damit beschäftigt war, in Paris Geld für die Armee von George Washington aufzutreiben. Vielleicht erschwerte es ihm seine Vorliebe für weibliche Gesellschaft auch, Tugenden wie Keuschheit zu verkaufen. Außerdem hatte Franklin schreckliche Probleme damit, auf seinem Schreibtisch Ordnung zu halten, was ihm mehr Markierungen einbrachte. Wie er in Poor Richard’s Almanack schreibt: »Gute Vorsätze zu fassen ist einfach – das Schwierige ist die Umsetzung.«

Wie sehr er sich auch mühte, er hätte sein Notizbuch niemals sauber halten können, denn einige der Ziele standen mitunter im Widerspruch zueinander. Als junger Druckergeselle versuchte er, Ordnung zu halten, indem er einen rigiden Arbeitsplan aufstellte; leider wurde er dauernd von unerwarteten Anfragen seiner Kunden unterbrochen, und das Gebot des Fleißes verlangte, diesen auch nachzukommen. Wenn er sparsam lebte, lieber seine alten Kleider flickte, statt neue zu kaufen, und seine Mahlzeiten selbst zubereitete, dann blieb ihm weniger Zeit für Fleiß in der Arbeit oder für andere Projekte wie Drachensteigen oder das Basteln an Unabhängigkeitserklärungen. Wenn er sich für einen Abend mit Freunden verabredete und am nächsten hinter seinem Arbeitsplan zurückblieb, dann verstieß er gegen das Gebot der Entschlossenheit, das verlangte, alles umzusetzen, was er sich vorgenommen hatte.

Dabei sind Franklins Ziele im Vergleich zu den modernen noch weitgehend in sich stimmig. Er konzentrierte sich auf die traditionellen puritanischen Tugenden wie Arbeit und Fleiß und nahm sich nicht auch noch vor, möglichst viel Spaß im Leben zu haben (zumindest nicht schriftlich). Er machte es sich nicht zum Ziel, lange Spaziergänge am Strand zu unternehmen, Freiwilligenarbeit in einer gemeinnützigen Einrichtung zu leisten, die Nachbarn zum Recycling anzuhalten oder mehr Zeit mit seinen Kindern zu verbringen. Er hatte keine lange Liste von Traumzielen in aller Welt, die er unbedingt besuchen musste, und er träumte nicht davon, als Rentner in Florida zu leben. Während er den Frieden von Paris aushandelte, wollte er nicht gleichzeitig Golfspielen lernen. Wir werden heute mit unvergleichlich mehr Versuchungen konfrontiert, und nicht die kleinste davon ist die Versuchung, alles auf einmal zu wollen.

Werden wir nach unseren persönlichen Zielen befragt, so können viele von uns problemlos mindestens fünfzehn verschiedene davon auflisten. Einige von ihnen ergänzen sich vielleicht, zum Beispiel der Vorsatz, mit dem Rauchen aufzuhören, und der Wunsch, weniger Geld auszugeben. Aber es ergeben sich unweigerlich Konflikte zwischen Arbeits- und Familienzielen. Selbst innerhalb der Familie können die Anforderungen der Kindererziehung in Widerspruch zu denen der Beziehungspflege stehen, weshalb bei vielen Paaren die Zufriedenheit in der Ehe nach der Geburt des ersten Kindes leidet und sich erst wieder erholt, wenn das letzte Kind endlich aus dem Haus ist. Einige Ziele sind in sich widersprüchlich, etwa Franklins Ziel der Mäßigung. Viele Menschen nehmen sich vor, sich nicht aufzuregen, wenn ihnen ihrer Ansicht nach Unrecht widerfährt. Wenn sie unfair behandelt werden, zwingen sie sich, nichts zu sagen oder zu unternehmen – nur um sich später schlecht zu fühlen, weil sie nicht für ihre Meinung oder Interessen eingetreten sind oder weil das ursprüngliche Problem nicht gelöst wurde. Mäßigung könnte auch mit einem anderen von Franklins Zielen in Konflikt geraten, nämlich der Gerechtigkeit.

Wenn die Ziele nicht in Einklang zu bringen sind, ist das Resultat nicht Handlung, sondern Unglück, wie die Psychologen Robert Emmons und Laura King in einer Reihe von Untersuchungen zeigten. Sie baten Versuchspersonen, eine Liste ihrer fünfzehn wichtigsten Ziele aufzustellen und zu notieren, welche in Konflikt zueinander gerieten. In einem Test hielten die Teilnehmer ihre emotionalen und körperlichen Befindlichkeiten in einem Tagebuch fest und gewährten den Wissenschaftlern Einblick in ihre Gesundheitsakte des zurückliegenden Jahres. In einem anderen Experiment erhielten sie Beeper, die zu zufälligen Zeitpunkten piepten, woraufhin die Teilnehmer festhalten sollten, was sie in diesem Moment taten und fühlten. Außerdem wurden sie ein Jahr später befragt, welche Ziele sie umgesetzt hatten und wie sich ihre Gesundheit entwickelt hatte. In den verschiedenen Untersuchungen stellten die Wissenschaftler fest, dass widersprüchliche Ziele55 vor allem drei Konsequenzen haben:

 

  1. Sie machen sich häufig Sorgen. Je mehr widersprüchliche Anforderungen Sie erfüllen wollen, desto mehr Zeit bringen Sie damit zu, über diese Anforderungen nachzudenken. Sie grübeln und werden von wiederkehrenden Gedanken verfolgt, über die Sie keine Kontrolle haben und die nicht sonderlich angenehm sind.

  2. Sie leisten weniger. Man sollte meinen, dass Menschen, die viel über ihre Ziele nachdenken, auch viel tun, um diese zu erreichen, doch statt zu handeln, verschwenden sie ihre Zeit mit Grübeleien. Menschen mit klaren, widerspruchsfreien Zielen machen Fortschritte, die anderen vergeuden so viel Zeit mit ihren Sorgen, dass sie nicht weiterkommen.

  3. Ihre körperliche und geistige Gesundheit leidet. In den Untersuchungen berichteten Menschen mit widersprüchlichen Zielen über weniger positive Emotionen und mehr Depression und Angst. Sie wiesen psychosomatische Beschwerden und Symptome auf, waren häufiger krank und gingen öfter zum Arzt. Je widersprüchlicher die Ziele, umso weniger von ihnen verwirklichten sie und umso unglücklicher und kranker wurden sie.

 

Sie zahlten einen hohen Preis für ihr Brüten. Aber während eine Henne zufrieden auf ihren Eiern sitzt, leiden die Menschen, wenn sie zu viele widersprüchliche Ziele verfolgen und deshalb keines davon erledigen und stattdessen nur tatenlos herumsitzen.

Aber sie werden diese Konflikte erst lösen, wenn sie wissen, welche Ziele am besten für sie sind.

Die richtigen Ziele

Joe sitzt in einem Restaurant und trinkt eine Tasse Kaffee. Er denkt darüber nach, was in der nächsten Zeit passieren wird, wenn …

 

Nehmen wir an, bei diesen Zeilen handelt es sich um eine Schreibübung, und Sie sollen Joes Geschichte frei zu Ende führen. Stellen Sie sich kurz vor, worüber Joe nachdenken könnte.

Versuchen Sie nun eine zweite Übung und schreiben Sie die Geschichte zu Ende, die mit folgenden Worten beginnt:

 

Nach dem Aufwachen denkt Bill über seine Zukunft nach. Allgemein geht er davon aus …

 

Sie haben erneut alle Freiheiten. Schreiben Sie Bills Geschichte zu Ende und machen Sie sich keine Gedanken um Formulierungen. Ein paar Stichpunkte reichen vollkommen aus.

Fertig?

Sehen Sie sich nun die Handlungen an, die Sie sich ausgedacht haben. Über welchen Zeitraum erstrecken sie sich in beiden Geschichten?

 

Das ist natürlich keine literarische Übung für angehende Romanautoren. Vielmehr handelt es sich um ein Experiment, das Psychiater mit Heroinabhängigen56 in einer Drogenklinik in Burlington im amerikanischen Bundesstaat Vermont durchgeführt haben. Die Wissenschaftler stellten diese Aufgaben außerdem einer Kontrollgruppe von Erwachsenen, die ähnliche demografische Voraussetzungen aufwies (einfacher Schulabschluss, Jahreseinkommen unter 20.000 Dollar und so weiter). Wenn die Angehörigen der Kontrollgruppe Joes Geschichte zu Ende schrieben, der im Restaurant über »die nächste Zeit« nachdenkt, dann umfasste dies bei ihnen in der Regel eine Zeitspanne von einer Woche; bei den Heroinsüchtigen war es eine Stunde. Und wenn sich die Kontrollgruppe die Zukunftsgedanken von Bill ausmalte, dann schilderte sie langfristige Pläne wie berufliche Ziele oder Heirat, während die Süchtigen bevorstehende Ereignisse wie einen Termin beim Arzt oder den Besuch bei Verwandten beschrieben. Die Angehörigen der Kontrollgruppe setzten einen Zeitraum von durchschnittlich viereinhalb Jahren an, bei den Süchtigen reichte die Zukunft dagegen gerade einmal neun Tage weit.

Dieser extrem verkürzte Zeithorizont ist für Suchtkranke typisch. Wenn sie im Labor Karten spielen, dann wählen sie riskantere Strategien mit schnellen, großen Gewinnen, auch wenn sie langfristig mehr mitnehmen konnten, wenn sie sich für eine Reihe kleinerer Gewinne entschieden. Wenn sie vor die Wahl gestellt werden, jetzt 375 Dollar zu bekommen oder in einem Jahr 1.000, dann entscheiden sich Drogensüchtige, Alkoholiker und Raucher eher für das schnelle Geld. Der Psychiater Warren Bickel, der die Süchtigen in Vermont untersuchte und seine Forschung an der University of Arkansas fortsetzte, konnte diese Vorliebe für kurzfristige Gewinne immer wieder beobachten. (Die einzige Ausnahme war wieder Marihuana; die Droge macht weniger süchtig und scheint das destruktive kurzfristige Denken nicht zu erfordern, das ansonsten mit Süchten einhergeht.) Eine kurzfristige Sichtweise kann die Suchtanfälligkeit noch erhöhen, und die Sucht verkürzt wiederum den Zeithorizont, weil die Suchtkranken auf den kurzfristigen Kick aus sind. Wenn es ihnen gelingt, ihre Sucht zu überwinden oder zu mindern, vergrößert sich ihr Zeithorizont wieder, wie Bickel und seine Kollegen an Rauchern und Drogensüchtigen erkannten.

Im Labor und im Alltag sind Drogensüchtige, Alkoholiker und Raucher gute Beispiele für die Gefahren der kurzfristigen Ziele. Wer die langfristige Perspektive aus den Augen verliert, spielt mit seiner Zukunft – gesundheitlich und finanziell. In einem weiteren Experiment mit den Geschichten von Joe und Bill stellten Wissenschaftler fest, dass Testpersonen umso weiter in die Zukunft blicken, je mehr sie verdienen. Das ist zum Teil der Notwendigkeit geschuldet: Wer knapsen muss, um die Miete zu bezahlen, der braucht sich keine Gedanken um eine private Zusatzrente zu machen. Aber vielleicht ist ja die notorische Ebbe im Portemonnaie umgekehrt eine Folge des kurzsichtigen Denkens. Wie in Äsops Fabel ist die weitsichtige Ameise besser auf den Winter vorbereitet als die Heuschrecke, die nur im Hier und Jetzt lebt.

Aber mit Äsop ist noch nicht das letzte Wort über Zukunftsplanung gesprochen. Seit Jahrzehnten diskutieren Psychologen den Nutzen von kurzfristigen und langfristigen Zielen.57 Ein klassisches Experiment stammt von Albert Bandura, einem legendären Vertreter seines Fachs (in einer Aufstellung der meistzitierten Psychologen rangierte er auf dem vierten Platz, gleich hinter Freud, Skinner und Piaget). Er und Dale Schunk untersuchten Kinder im Alter von sieben bis zehn Jahren, die Probleme im Mathematikunterricht hatten. Die Kinder nahmen an einem Kurs teil, in dem sie Lerntechniken erwarben und vor allem viele Aufgaben lösen mussten. Einige der Kinder sollten sich kurzfristige Ziele setzen und zum Beispiel in jeder Sitzung mindestens sechs Seiten bearbeiten. Andere sollten sich dagegen langfristige Ziele setzen und bis zum Ende der sieben Sitzungen 42 Seiten Aufgaben gelöst haben. Das Volumen war in beiden Fällen dasselbe. Eine dritte Gruppe sollte sich gar keine Ziele setzen, und eine vierte Gruppe musste nicht einmal Rechenaufgaben lösen.

In einem Abschlusstest am Ende des Kurses schnitten die Kinder mit den kurzfristigen Zielen am besten ab. Sie hatten offenbar vor allem deshalb Erfolg, weil sie ihr Endziel schrittweise erreichten und dabei an Selbstvertrauen und Selbstwirksamkeit gewannen. Mit einem bestimmten Ziel für jede Sitzung lernten sie besser und schneller als die anderen. Obwohl sie pro Sitzung weniger Zeit benötigten, leisteten sie mehr und arbeiteten das Material schneller durch. Als sie am Ende zu den schwierigen Aufgaben kamen, waren sie hartnäckiger und gaben weniger schnell auf. Die langfristigen Ziele wirkten dagegen genauso, als hätten die Kinder gar keine Ziele. Nur die kurzfristigen Ziele verbesserten den Lernerfolg, die Selbstwirksamkeit und die Leistung.

Aber kaum war diese Untersuchung im Journal of Personality and Social Psychology (die renommierteste Fachzeitschrift des Gebiets) erschienen, veröffentlichte dieselbe Zeitschrift einen Artikel, in dem niederländische Wissenschaftler den Nutzen von langfristigen Zielen 58 bei 16- und 17-jährigen Schülern demonstrierten. Jungen, die ein langfristiges Ziel vor Auge hatten – ein Studienwunsch, viel Geld zu verdienen, eine Familiengründung oder ein hoher Sozialstatus –, zeigten in der Schule bessere Leistungen. Jungen, die wenig über ihre Zukunft nachdachten, schnitten dagegen schlechter ab. In diesem Fall schienen langfristige Ziele wirksamer zu sein als kurzfristige, beispielsweise gute Noten, die bevorstehenden Ferien oder das Abschlusszeugnis. Diese Fernziele waren auch nützlicher als Ziele, die sich an der Gegenwart orientierten, etwa anderen zu helfen oder Wissen zu erwerben. Aber warum funktionierten die langfristigen Ziele bei den älteren Schülern, aber nicht bei den Kindern im Rechenkurs? Das liegt unter anderem daran, dass die älteren Schüler einen Zusammenhang zwischen ihren täglichen Aufgaben und ihren langfristigen Zielen erkannten. Die besseren Schüler betonten nicht nur die entfernten Ziele, sondern erkannten außerdem, dass ihre tägliche Lernarbeit einen wichtigen Schritt in Richtung auf dieses Ziel darstellte. Daneben mag der Unterschied auch damit zusammenhängen, dass ältere Kinder insgesamt eine bessere Vorstellung von der Zukunft haben als jüngere.

Unabhängig davon, ob die Jungen ihre kurzfristigen Ziele tatsächlich erreichten oder nicht, erzielten sie Fortschritte, weil sie den Zusammenhang zwischen ihren Träumen und der täglichen Büffelei erkannt hatten. Vermutlich erhielten sie damit denselben Lohn, den Benjamin Franklin erhielt. Gegen Ende seines Lebens räumte er fröhlich ein, dass er auch nicht ein einziges Mal sein kurzfristiges Ziel einer sauberen Wochentabelle erreicht hatte, von seinem Fernziel der moralischen Vollkommenheit ganz zu schweigen. Aber die Verbindung zwischen beiden Zielen hatte ihn die ganzen Jahre hindurch motiviert. Daher tröstete er sich mit dem Ergebnis: »Auch wenn ich nie die Vollkommenheit erreicht habe, die ich mir in meinem Ehrgeiz vorgenommen hatte, und noch immer weit von ihr entfernt bin, war ich allein durch die Bemühung darum ein besserer und glücklicherer Mensch, als ich es gewesen wäre, wenn ich den Versuch nie unternommen hätte.«

Fern- und Nahziele

Wie detailliert sollten Ihre Pläne also sein, wenn Sie ein bestimmtes Ziel erreichen wollen? Wissenschaftler beobachteten Studenten, die an einem Programm zur Verbesserung ihrer Lerntechniken teilnahmen. Die Studenten erhielten nicht nur die üblichen Hinweise zum Zeitmanagement, sondern wurden nach dem Zufallsprinzip auf eine von drei Planungsgruppen verteilt: Die Angehörigen der ersten Gruppe sollten detaillierte Tagespläne erstellen und festhalten, was sie wo und wann lernen wollten. Die zweite Gruppe erstellte Monatspläne, und die Kontrollgruppe machte gar keine Pläne.

Die Wissenschaftler gingen davon aus, dass diejenigen Studenten mit den Tagesplänen die besten Lernerfolge erzielen würden. Doch sie lagen mit ihrer Vermutung daneben. Die Gruppe, die monatsweise plante, verbesserte ihre Lerngewohnheiten am effektivsten. Unter den schwächeren Studenten (nicht unter den besseren) zeigte die Monatsplanung eine eindeutig größere Verbesserung der Leistungen als die Tagesplanung.59 Die Monatsplaner behielten die neuen Lerngewohnheiten außerdem deutlich länger bei und übernahmen sie eher in ihrem Studium. Ein Jahr nach Abschluss des Kurses erzielten sie noch immer bessere Leistungen als die Tagesplaner, die zu diesem Zeitpunkt längst jede Form der Planung wieder aufgegeben hatten.

Woran liegt das? Tagespläne haben den Vorteil, dass die Studenten ganz genau wissen, was sie wann zu tun haben. Aber die Planung ist aufwändig, denn es nimmt natürlich deutlich mehr Zeit in Anspruch, dreißig Tagespläne zu erstellen als einen einzigen Monatsplan ohne Details für jeden einzelnen Tag. Außerdem besitzen Tagespläne den zusätzlichen Nachteil, dass sie unflexibel sind. Sie nehmen uns die Möglichkeit, Entscheidungen zu treffen, und vermitteln uns das Gefühl, an eine starre Abfolge gefesselt zu sein. Das Leben hält sich selten an Pläne, weshalb Tagespläne frustrierend wirken, wenn wir sie nicht einhalten. Ein Monatsplan lässt sich dagegen anpassen. Wenn sich an einem Tag eine Verzögerung ergibt, ändert das nichts am Plan.

Die umfassendsten Experimente zur groben und detaillierten Planung führten die Feldherren auf den Schlachtfeldern Europas durch. Napoleon60 fasste einmal seine Vorstellung der strategischen Planung so zusammen: »Man greift an, und dann schaut man, was passiert.« Mit dieser improvisierten Strategie wurde seine Armee zur gefürchteten Geißel Europas. Seine Gegner, die Preußen, suchten nach einem Vorteil, um keine weiteren Schlachten gegen die Franzosen zu verlieren, und probierten es mit mehr Planung.61 Die Offiziere anderer Nationen mokierten sich über die Vorstellung von Soldaten, die mit Bleistift und Papier an einem Tisch saßen. Doch die Planung erwies sich als großer Vorteil, und als die beiden Nationen wieder aufeinandertrafen, behielten die Preußen die Oberhand.

Im Ersten Weltkrieg planten alle. Und im Zweiten Weltkrieg verfügten die Offiziere über die bürokratischen Fähigkeiten, um die vielleicht komplizierteste logistische Operation der Geschichte durchzuführen: die Landung in der Normandie. Mit 160 000 Soldaten war die Invasionsarmee zwar noch klein gegen das Heer von Napoleon, der mit 400 000 Mann nach Russland marschiert war. Doch die Operation war so präzise durchgeplant, dass die Planer ihren eigenen Kalender hatten, den sie in die Zeit vor und nach dem D-Day62 einteilten. Die To-do-Liste enthielt detaillierte Vorbereitungen (etwa Bombardierungen am Tag D –3) und natürlich die Invasion selbst. Der Plan reichte bis D +14 und organisierte Nachschub und Verstärkung ganze zwei Wochen nach der ersten Landung. Napoleon hätte dieses Vertrauen in Pläne vermutlich belächelt, doch der Erfolg gab den Alliierten Recht.

Nach dem Krieg hatte auch die amerikanische Wirtschaft ihre Helden der Planung, etwa die Whiz Kids, eine Gruppe von Kriegsveteranen, die den Autohersteller Ford auf Vordermann brachten. Ihr Vordenker war Robert McNamara63, der vor dem Krieg an der Harvard Business School Buchhaltung unterrichtet hatte. Das Mathematikgenie hatte im Statistikbüro der Air Force die Erfolge der Luftangriffe ausgewertet und nach dem Krieg bei Ford angefangen. Später wurde er Verteidigungsminister und führte im Pentagon Planungsinstrumente ein, die auf der Systemanalyse beruhten. Er schien der Inbegriff des modernen Kriegers zu sein, doch in Vietnam erlitten seine Pläne Schiffbruch. Während er im Pentagon saß und mit Hilfe von Opferstatistiken die Niederlage des Feindes plante, stellten die Soldaten im Dschungel fest, dass auf diese Pläne und Statistiken kein Verlass war. Nach Vietnam entdeckten die Militärführer die Flexibilität wieder, und diese Lektion wurde nach dem Scheitern der Kriegspläne in Afghanistan und im Irak noch verstärkt. Manchmal muss man eben einfach angreifen und dann weitersehen, wie Napoleon meinte.

Wie genau planen moderne Generäle die Zukunft? Diese Frage stellte ihnen unlängst ein Psychologe, der im Pentagon einen Vortrag über Zeit- und Ressourcenmanagement hielt. Als kleine Aufwärmübung bat er die Generäle, stichpunktartig zu notieren, wie sie ihre Angelegenheiten organisierten. Die Generäle waren verblüfft. Keiner der Männer in Uniform konnte die Frage beantworten.

Die Ausnahme war die einzige Frau im Generalsrang. Sie hatte am Irakkrieg teilgenommen und war dort verwundet worden. Sie erklärte ihren Ansatz so: »Zuerst erstelle ich eine Prioritätenliste mit erstens, zweitens, drittens, und so weiter. Dann streiche ich alles bis auf die ersten beiden Punkte.« Die anderen Generäle könnten dem widersprochen und eingewendet haben, dass jeder mehr als zwei Ziele habe und dass einige Projekte – zum Beispiel der D-Day – mehr als zwei Schritte erforderten. Aber die Generalin war auf der richtigen Spur. Sie hatte eine vereinfachte Version einer Strategie, mit der sich langfristige und kurzfristige sowie grobe und detaillierte Planung verbinden lassen. Ihr Ziel war ein »Geist wie Wasser« (wir kommen gleich dazu).

Der Eingangsordner Ihrer Träume

Als der Komiker Drew Carey wieder einmal vor seinem chaotischen Schreibtisch die Hände über dem Kopf zusammenschlug, hatte er eine Eingebung. »Was würde David Allen64 tun?« Oder besser noch: »Wie wäre es, wenn ich mir David Allen holen würde, damit der Ordnung in dieses Durcheinander bringt?«

Bis zu diesem Tag war Carey ein typisches Opfer der Informationsflut, soweit ein Star überhaupt typisch sein kann. Er hatte seine eigenen Comedy-Serien und Gameshows gehabt, seine Memoiren geschrieben, soziale und politische Aktionen organisiert und war Eigentümer einer Fußballmannschaft, doch diese Aufgaben waren nichts im Vergleich mit seinem Eingangsordner und seiner To-do-Liste. Obwohl er eine Sekretärin beschäftigte, überforderten ihn die vielen Anrufe, Drehbücher, Treffen, Wohltätigkeitsveranstaltungen, ganz zu schweigen von den Dutzenden E-Mails, die täglich auf Antwort warteten. Auf seinem Schreibtisch stapelten sich unbezahlte Rechnungen, unbeantwortete Briefe, unerledigte Aufgaben, unerfüllte Versprechen.

»In mancher Hinsicht bin ich ausgesprochen gut organisiert, aber in anderer überhaupt nicht«, erklärt Carey. »Das hängt ganz davon ab, was auf dem Spiel steht. Ich hatte das Chaos in meinem Büro einfach so dermaßen satt. Überall Berge von Papier, ich habe einfach nicht mehr durchgefunden. Rechts und links vom Computer haben sich Mist und alte Mails gestapelt. Es war schon so weit, dass ich nicht mehr klar denken konnte. Ich hatte das Gefühl, dass ich die Kontrolle verloren hatte. Ich konnte mich nicht mal mehr hinsetzen und ein Buch lesen oder entspannen, weil ich dauernd dachte, ich muss noch diese E-Mails durchgehen.«

Carey kaufte sich ein Buch von David Allen mit dem Titel Wie ich die Dinge geregelt kriege: Selbstmanagement für den Alltag. »Ich habe das Buch gelesen und ein paar Ratschläge umgesetzt, aber nicht alle. Ich war total verzweifelt. Am Ende habe ich mir gedacht, verdammt nochmal, ich habe doch Geld! Also habe ich ihn direkt angerufen und ihn gefragt, wie viel er verlangen würde, um mich zu besuchen und direkt mit mir zu arbeiten. Er hat gesagt, für x Dollar arbeite ich ein ganzes Jahr lang mit dir. Es war eine Menge Geld. Aber ich habe nicht zweimal drüber nachgedacht.«

Welche Summe er auch hingeblättert haben mag, die begeisterten Anhänger von David Allen und seinem GTD-System (benannt nach dem englischen Buchtitel Getting Things Done) für Arbeit und Leben würden Carey sofort verstehen. Aber es handelt sich nicht um den üblichen Persönlichkeitskult der Selbsthilfe- und Motivationsgurus. Allen stellt keine sieben Regeln für das ewige Glück auf und reißt die Massen nicht zu Begeisterungsstürmen hin. Er beschäftigt sich mit unspektakulärem Kleinkram wie To-do-Listen, Mappen, Etiketten und Eingangsordnern.

Sein System dreht sich um ein geistiges Phänomen, das Psychologen schon vor Jahrzehnten erkannten – nämlich den geistigen Zeigefinger –, das jedoch erst Baumeister und seine Kollegen wirklich erforschten, als sie im Labor nach Möglichkeiten suchten, diese nörgelnde innere Stimme abzustellen. Die Psychologen und Allen gelangten auf unabhängigen Wegen zu sehr ähnlichen Techniken. Allen hatte keine psychologische Theorie, sondern ging nach der Trial-and-Error-Methode vor. Als Kind der Sechziger hatte er eine Menge Zen- und Sufi-Texte gelesen, in Berkeley ein Studium aufgenommen und wieder abgebrochen, mit Drogen experimentiert, einen schweren Zusammenbruch erlebt, Karate unterrichtet und für ein Unternehmen Seminare zum persönlichen Wachstum gehalten. Nebenbei hatte er als Motorradverkäufer, Zauberer, Gärtner, Reisekaufmann, Glasbläser, Taxifahrer, Packer, Kellner, Vitaminverkäufer, Tankwart, Bauarbeiter und Koch seine Brötchen verdient.

»Wenn Sie mir 1968 gesagt hätten, dass ich mal ein Produktivitäts-Coach würde, dann hätte ich Sie für verrückt erklärt«, meint er heute. Er driftete von einem Job zum nächsten – bis zu seinem 35. Geburtstag kam er auf 35 Jobs –, bis er aufgrund seiner Fähigkeiten als Seminarleiter die Möglichkeit erhielt, mit Managern von Lockheed und anderen Konzernen zusammenzuarbeiten. So gewunden sein Lebenslauf auch sein mag, Allen sieht eine Entwicklung von der Philosophie und den Drogen über Karate bis zum Coach und Unternehmensberater. Er beschreibt sie als eine Suche nach innerem Frieden und einem »Geist wie Wasser«. Dieses Bild stammt aus seinem Karateunterricht: »Stellen Sie sich vor, Sie werfen einen Stein ins Wasser. Wie reagiert das Wasser? Die Antwort lautet: In völligem Einklang mit der Kraft des Inputs. Danach kehrt es zum Ruhezustand zurück. Es reagiert weder zu stark noch zu schwach.«

Bei einem Besuch in seinem Büro bekommt man einen Eindruck von seiner Philosophie – und einen Neidanfall. Natürlich würde man von einem Effizienzexperten Ordnung erwarten, doch beim Anblick des Schreibtisches in seinem Büro im kalifornischen Städtchen Ojai erschrickt man trotzdem unwillkürlich: es sind keine Stapel zu sehen, und kein Stückchen Papier liegt herum. Auf der rechten Seite seines L-förmigen Schreibtisches stehen drei Ablagen – alle leer. Auf der linken Seite stehen zwei weitere Ablagen mit einem Dutzend Büchern und Zeitschriften, seiner Lektüre fürs Flugzeug. Ansonsten ist der Schreibtisch tadellos. Wie es das GTD-System vorschreibt, hat er seine Aufgaben entweder erledigt, delegiert, weggeworfen oder in einem der sechs Ordnerschränke abgelegt, in denen alphabetisch geordnete Plastikmappen mit fein säuberlich gedruckten Etiketten hängen. Sie mögen das jetzt vielleicht als verkrampft abtun, aber Allen könnte kaum entspannter sein.

Als er seine Arbeit mit den überforderten Managern aufnahm, sah er das Problem der klassischen Managementplanung, die in großen Zusammenhängen denkt, Visionen vorgibt, langfristige Ziele entwickelt und Prioritäten setzt. Der ehemalige Hippie fühlte sich zwar von den hochfliegenden Zielen angesprochen, aber er erkannte auch, dass seine Klienten keinen Kopf mehr für die einfachsten Aufgaben des Moments hatten. Allen beschrieb ihre Situation mit einem Bild aus dem Buddhismus: dem Geist eines Affen. Damit ist ein Geist gemeint, der von einem Gedanken zum nächsten springt, wie ein Affe, der sich von einem Baum zum nächsten hangelt. In einer Abwandlung des Bildes stellte sich Allen gelegentlich einen Affen vor, der auf unserer Schulter sitzt, uns dauernd ins Ohr plappert, alles in Zweifel zieht und uns ständig unterbricht, bis wir schreien: »Stopf doch jemand dem Affen das Maul!«

»Die wenigsten Menschen wissen, wie es sich anfühlt, an nichts anderes zu denken als an das, was sie gerade tun«, meint Allen. »Diese Dissonanz und dieser Stress ließen sich ja noch ertragen, wenn wir sie einmal im Monat ertragen müssten, so wie früher. Aber heute machen die Leute einfach dicht, oder sie drehen durch und kommen mit ihrer Angst nicht mehr klar.«

Statt über Ziele und deren Umsetzung nachzudenken, half Allen seinen Klienten, mit dem Chaos auf ihrem Schreibtisch fertigzuwerden. Die traditionellen Tipps zur Selbstorganisation – etwa der Rat, jedes Stück Papier nur einmal anzufassen – erschienen ihm wenig praxistauglich. Was machen Sie mit einem Bericht für eine Sitzung, die kommende Woche stattfindet? Allen erinnerte sich an ein Instrument aus seiner Zeit im Reisebüro: die Wiedervorlagemappe. Der Bericht ließ sich wie ein Flugticket in einem Ordner für den Tag ablegen, an dem er gebraucht wurde. So blieb der Schreibtisch aufgeräumt, und der Bericht lenkte nicht ab, bis er gebraucht wurde. Allens Wiedervorlageordner – mit 31 Mappen für jeden Tag des Monats und zwölf Mappen für die Monate des Jahres – wurde weithin kopiert.

Dieses System half nicht nur, Ordnung auf dem Schreibtisch herzustellen, sondern es nahm den Führungskräften auch eine Sorge ab: Was dort abgelegt ist, kommt am entsprechenden Tag wieder auf den Tisch, man an muss sich keine Sorgen machen, es zu verlieren oder zu vergessen. Allen suchte auch nach anderen Möglichkeiten, diese innere Stimme abzustellen und »lose Enden« im Kopf zu verbinden. »Ein wichtiges Element aus der Welt der Persönlichkeitsentwicklung sind die Abmachungen, die man mit sich selbst trifft«, erinnert sich Allen. »Wenn Sie eine Abmachung mit sich selbst treffen und sich nicht daran halten, dann schwächen Sie Ihr Selbstvertrauen. Andere können Sie vielleicht täuschen, aber sich selbst nicht. Sie werden dafür bezahlen, also sollten Sie sehr genau darauf achten, was Sie mit sich selbst verabreden. Wir haben einen Workshop entwickelt, um diese Selbstvereinbarungen aufzuschreiben.«

Diese Listen mit Zielen und Festlegungen sind natürlich alles andere als revolutionär und gehören seit Noahs Arche und den Zehn Geboten zum festen Repertoire der Selbsthilfeliteratur. Doch Allen und der Managementberater Dean Acheson entwickelten sie weiter. Um seinen Klienten zu helfen, Ablenkungen auszuschalten, ließ Acheson sie alles aufschreiben, was ihre Aufmerksamkeit verlangte, egal ob groß oder klein, beruflich oder privat, nah oder fern, grob oder detailliert. Sie mussten nichts analysieren oder organisieren oder planen, sie sollten nur in jedem Fall den nächsten konkreten Schritt notieren.

»Dean bat mich, mich hinzusetzen und einfach alles aufzuschreiben, was mir durch den Kopf ging«, erinnert sich Allen. »Ich habe viel meditiert und halte mich für einen gut organisierten Menschen. Aber das Ergebnis hat mich erschreckt.« In der Arbeit mit seinen eigenen Klienten predigte Allen die Bedeutung der »Nächsten Aktion« oder NA, wie sie von GTD-Anhängern genannt wird. Auf der To-do-Liste dürfen keine allgemeinen Punkte auftauchen wie »Geburtstagsgeschenk für Mama kaufen« oder »Steuererklärung machen«. Vielmehr muss dort der nächste konkrete Schritt stehen, zum Beispiel »zu diesem und jenem Juwelier gehen« oder »Steuerberater anrufen«.

»Wenn auf Ihrer Liste steht, ›Weihnachtskarten schreiben‹, dann ist das eine gute nächste Aktion – wenn Sie Stift und Weihnachtskarten haben«, erklärt Allen. »Wenn Sie keine Karten haben, dann wissen Sie unbewusst, dass Sie sie gar keine schreiben können. Deshalb werden Sie die Liste meiden und diesen Punkt aufschieben.« So einfach dieser feine Unterschied klingt, wir machen es immer wieder falsch. Als Allen hörte, dass sich John Tierney vom GTD-System inspirieren lässt und einen Planer auf seinem Smartphone installiert hat, wettet Allen, dass die meisten Punkte auf seiner NA-Liste nicht unmittelbar umsetzbar sind. Und tatsächlich stehen da Dinge wie »mint.com-Forscher kontaktieren« und »Esther Dyson zu Selbstdisziplin fragen« – alles viel zu vage.

»Wie wollen Sie diese Leute fragen oder kontaktieren?«, fragt Allen. »Haben Sie ihre Telefonnummern und E-Mail-Adressen? Dieser kleine Unterschied ist entscheidend. Alles, was auf dieser Liste steht, stößt Sie entweder ab oder es zieht Sie an. Wenn Sie schreiben ›Esther fragen‹, weil Sie noch nicht genau wissen, was Sie als Nächstes tun wollen, dann werden Sie Ihre Liste unbewusst meiden. Sie verspüren eine untergründige Sorge. Aber wenn Sie schreiben ›Esther mailen‹, dann denken Sie, klar, das kann ich. Sie erledigen es und haben das Gefühl, etwas geschafft zu haben.«

Als der Technologie-Autor Danny O’Brian65 vor einigen Jahren einen Fragebogen an siebzig der »beneidenswert produktiven Menschen« verschickte, die er kannte, um sie nach ihren Organisationsgeheimnissen zu befragen, erfuhr er, dass die wenigsten besondere Computerprogramme oder andere komplizierte Werkzeuge benutzten. Aber viele antworteten, sie benutzten das GTD-System, zu dem sie nichts anderes benötigen als einen Stift, Papier und Ordner. Die Wirksamkeit des Systems wurde bislang noch nicht wissenschaftlich erforscht. Doch die psychologische Literatur enthält Hinweise auf den Stress, den Allen beobachtete. Auch Psychologen haben sich mit der Frage beschäftigt, wie sich der Affen-Geist bändigen lässt. Sie verwenden allerdings einen anderen Begriff dafür.

Der Zeigarnik-Effekt66

Nach einer Legende, die unter Psychologen kursiert, geht die Entdeckung auf ein Mittagessen zurück, das Mitte der zwanziger Jahre in der Nähe der Humboldt-Universität zu Berlin stattfand. Eine Gruppe von Studenten und Professoren besuchte ein Restaurant und bestellte bei einem Kellner, der sich nicht die Mühe machte, die Bestellungen zu notieren. Er nickte einfach. Als jeder das Essen bekam, das er bestellt hatte, waren die Gäste beeindruckt von dieser Gedächtnisleistung. Nachdem sie gegessen, bezahlt und das Restaurant verlassen hatten, lief einer der Studenten noch einmal zurück, weil er etwas vergessen hatte. Als er den Kellner sah, bat er ihn um Hilfe, in der Hoffnung, er könne ihm mit seinem hervorragenden Gedächtnis weiterhelfen.

Doch der Kellner sah ihn nur mit leerem Blick an. Er hatte keine Ahnung, wer der Gast war, geschweige denn, wo er gesessen hatte. Auf die Frage, wie er ihn so schnell vergessen haben konnte, erwiderte der Kellner, er erinnere sich nur so lange an die Bestellung, bis er sie serviert habe.

Zwei der Gäste, eine russische Psychologiestudentin namens Bluma Zeigarnik und ihr Mentor, der renommierte Professor Kurt Lewin, machten sich Gedanken über dieses Erlebnis und fragten sich, ob dahinter vielleicht ein allgemeingültiges Gesetz stecken könnte. Traf das menschliche Gehirn eine Unterscheidung zwischen erledigten und zu erledigenden Aufgaben? Sie begannen mit der Beobachtung von Leuten, die beim Lösen eines Puzzlespiels unterbrochen wurden. Diese und viele weitere Untersuchungen, die in den folgenden Jahrzehnten durchgeführt wurden, bestätigten den sogenannten Zeigarnik-Effekt: Nicht erledigte Aufgaben und nicht erreichte Ziele kommen uns immer wieder in den Kopf. Wenn eine Aufgabe jedoch erledigt und abgeschlossen ist, endet der Strom der Ermahnungen.

Sie können den Zeigarnik-Effekt nachvollziehen, wenn Sie ein Lied hören und es vor dem Ende abschalten. Wahrscheinlich spukt Ihnen die Melodie zu unmöglichen Zeiten im Kopf herum. Wenn Sie das Lied zu Ende hören, hakt Ihr Geist es ab. Aber wenn Sie es vor dem Ende abbrechen, behandelt Ihr Geist es als unerledigte Angelegenheit. So als wolle er Sie daran erinnern, dass Sie noch eine Aufgabe zu erledigen haben, spielt er Ihnen immer wieder Schnipsel aus dem Lied ein. So geht es auch Bill Murray in dem Kinofilm Und täglich grüßt das Murmeltier, der morgens den »I Got You Babe« dudelnden Radiowecker abschaltet und den ganzen Tag von der Melodie verfolgt wird. Deshalb sind »Ohrwürmer« oft schreckliche Lieder, denn genau die sind es, die wir vorzeitig abstellen.

Aber warum sollte sich unser Gehirn mit »I Got You Babe« herumärgern? Psychologen meinen, diese Ohrwürmer seien ein unglückliches Abfallprodukt einer im Grunde sehr nützlichen Funktion, nämlich der vollständigen Erledigung von Aufgaben. Im Laufe der Jahrzehnte wurden verschiedenste Theorien aufgestellt, um die Funktionsweise des Zeigarnik-Effekts zu erklären. Eine These behauptete beispielsweise, das Unbewusste beobachte unsere Ziele und stelle sicher, dass wir sie umsetzen; diese störenden Gedanken seien also im Grunde ein positives Signal, denn sie zeigten, dass Ihr Unbewusstes am Ball bleibe, bis die Aufgabe erledigt ist. Eine zweite These meinte, das Unbewusste suche die Hilfe des Bewusstseins: Wie ein kleines Kind, das einen Erwachsenen am Ärmel zupft, um seine Aufmerksamkeit zu bekommen, fordere das Unbewusste das Bewusstsein auf, seine Aufgabe zu erledigen.

Baumeisters Assistent E. J. Masicampo fand jedoch eine bessere Erklärung des Zeigarnik-Effekts. In einem Experiment forderte er Studenten auf, an die wichtigste Prüfung des Semesters zu denken (die Kontrollgruppe sollte an die wichtigste Party denken). Die Hälfte von ihnen sollte dann einen konkreten Lernplan aufstellen.

Danach bekamen die Teilnehmer eine Aufgabe, die den Zeigarnik-Effekt maß. Sie erhielten unvollständige Wörter und sollten diese ergänzen. Diese Wörter waren geschickt so gewählt, dass sie an Wörter erinnerten, die mit Lernen zu tun haben, obwohl es auch andere Lösungen gab. Wenn beispielsweise ein Pr... vorgegeben wurde, dann war eine mögliche Lösung »Prüfung«, aber genauso ließen sich auch Wörter wie »Prozent« oder »Prämie« bilden. Die Wissenschaftler gingen davon aus, dass die Teilnehmer, in deren Kopf die unerledigte Aufgabe herumspukte, verstärkt Lösungen wählen würden, die direkt oder indirekt mit Prüfungen zu tun hatten. Und so war es auch: Den Teilnehmern ohne Lernplan spukte der Gedanke an die Prüfung im Kopf herum. Teilnehmer, die einen Lernplan erstellt hatten, waren zwar auch an die Prüfung erinnert worden, aber nachdem sie einen Plan gemacht hatten, war das Thema offenbar erledigt.

In einem anderen Experiment wurden die Teilnehmer aufgefordert, über wichtige Projekte nachzudenken. Einige sollten Aufgaben aufschreiben, die sie kürzlich erledigt hatten, andere solche, die noch anstanden und demnächst erledigt werden sollten; eine Kontrollgruppe sollte gar nichts aufschreiben. Danach sollten die Teilnehmer die ersten zehn Seiten eines Romans lesen. Während der Lektüre wurde regelmäßig überprüft, ob ihre Gedanken abschweiften oder ob sie sich auf den Text konzentrierten. Im Anschluss wurden sie gefragt, wie gut sie sich konzentrieren konnten und ob ihre Gedanken abgeschweift waren. Außerdem hatten sie einige Fragen zum Text zu beantworten.

Wieder machte der Plan den Unterschied. Diejenigen Teilnehmer, die unerledigte Aufgaben notiert hatten, standen vor größeren Schwierigkeiten, sich auf den Roman zu konzentrieren – es sei denn, sie hatten einen Plan aufgestellt. Obwohl sie die Aufgabe nicht erledigt und nicht einmal begonnen hatten, half ihnen der Plan, den Kopf frei zu bekommen und den Zeigarnik-Effekt aufzuheben. Verfügten die Teilnehmer über keinen Plan, wurden sie von lästigen Sorgen verfolgt. Ihre Gedanken schweiften vom Roman zu den nicht erledigten Aufgaben und sie schnitten bei den Verständnisfragen schlechter ab.

Der Zeigarnik-Effekt ist also keine mahnende Stimme, die erst zum Schweigen gebracht wird, wenn die Aufgabe erledigt ist. Die nagenden Gedanken sind kein Zeichen, dass das Unbewusste an der Erledigung der Aufgabe arbeitet oder das Bewusstsein traktiert, sie zu erledigen. Das Unbewusste fordert das Bewusstsein vielmehr auf, einen Plan zu erstellen. Das kann das Unbewusste offenbar nicht allein, deshalb quengelt es, bis das Bewusstsein Ort, Zeit und andere Einzelheiten in einem Plan festlegt. Ist der Plan gefasst, hört das Unbewusste auf, das Bewusstsein mit seinen Ermahnungen zu nerven.

Genauso geht Allens System mit dem Affen-Geist um. Wenn Ihre To-do-Liste 150 Punkte enthält, wie bei vielen von Allens Klienten, dann könnte der Zeigarnik-Effekt dazu führen, dass Sie von einer Aufgabe zur anderen springen und zu gar nichts kommen. Vage gute Absichten beruhigen Ihre Gedanken nicht. Wenn Sie einen Bericht bekommen, den Sie vor der nächsten Sitzung am Donnerstagmorgen lesen müssen, dann will Ihr Unbewusstes ganz genau wissen, was wann und wie als Nächstes zu tun ist. Aber wenn Sie einen Plan erstellen und den Bericht zum Beispiel in Ihrer Wiedervorlagemappe für Mittwoch einordnen, dann haben Sie diesen nächsten Schritt festgelegt und können sich entspannen. Sie haben immer noch 150 Dinge zu tun, aber der Affe schweigt und das Wasser ist still.

Endlich alles erledigt

Als David Allen in Drew Careys Büro ankam, fing er da an, wo er immer anfängt: der Ansammlung von »Zeug«. In seinem Buch definiert Allen »Zeug« als »alles, was Sie in Ihre psychische oder physische Welt gelassen haben, das sich nicht an seinem Platz befindet und für das Sie weder ein erwünschtes Ergebnis noch einen nächsten Schritt festgelegt haben«. Oder wie Carey sagt: »Der ganze Scheiß in meinem Büro.«

Dann begann die zweite Phase des GTD-Systems, die Verarbeitung des Zeugs. Nun musste Carey entscheiden, was zu erledigen, zu delegieren, zu verschieben oder wegzuwerfen war. Was keine Handlung erforderte, konnte entweder weg oder ins Archiv. Was Handlung erforderte und zu einem umfangreicheren Projekt gehörte – etwa Careys Vorbereitungen für eine Wohltätigkeitsveranstaltung zu Ehren des südafrikanischen Bischofs Desmond Tutu –, wurde in Projektordnern im Computer oder im Aktenschrank zusammengefasst. Bei der Durchsicht der Papiere, unbeantworteten E-Mails und unerledigten Aufgaben in seinem Computer und seinem Kopf ordnete er sie Dutzenden persönlichen und unternehmerischen Projekten zu. Das ist typisch: Allens Klienten verfolgen in der Regel zwischen dreißig und hundert Projekte, jedes mit mehreren Aufgaben, deren Sichtung, Ordnung und Aufarbeitung jeweils einen oder zwei Tage in Anspruch nehmen. Nachdem Carey die Projekte identifiziert hatte, musste er für jedes einen konkreten nächsten Schritt benennen. Was war bei der Vorbereitung der Wohltätigkeitsveranstaltung als Nächstes zu tun? Während Carey sein Zeug durchackerte, saß Allen den ganzen Tag bei ihm im Büro.

»Der hat echt dagesessen und mir dabei zugeschaut, wie ich meine E-Mails abgearbeitet habe«, erzählt Carey. »Immer, wenn ich ins Stocken gekommen bin, hat er mich gefragt: ›Was ist los?‹ Und wenn ich es ihm gesagt habe, hat er mir geantwortet: ›Tu dies.‹ Und das habe ich dann gemacht. Er war total entschieden. Nur ein paar Mal hat er gesagt: ›Du kannst dies oder das machen. Was willst du?‹« Allen brachte ihm bei, eigene Mappen für Anrufe und E-Mails anzulegen und unklare Projekte in eine »Irgendwann/Vielleicht«-Mappe zu stecken. Außerdem erklärte er ihm die Zwei-Minuten-Regel: Wenn eine Aufgabe weniger als zwei Minuten erfordert, dann schreiben Sie sie nicht auf eine Liste. Räumen Sie sie sofort aus dem Weg.

»Wenn ich früher einen Stapel Papier gesehen und nicht gewusst habe, was das alles ist, dann habe ich Panik bekommen«, gesteht Carey. »An dem Tag, an dem nichts mehr in meinem Eingangsordner war – keine Anrufe, keine E-Mails, nichts, kein Blatt Papier –, hatte ich das Gefühl, dass eine Last von mir abgefallen ist. Ich hatte das Gefühl, ich komme gerade vom Meditieren aus der Wüste. Ich hatte keine Sorgen mehr. Ich war euphorisch.«

Seither besucht ihn Allen nur noch einmal im Monat, und dank seiner Hilfe ist sein Schreibtisch aufgeräumt. Manchmal erlebt Carey zwar seine Rückschläge, etwa wenn er unterwegs war und sich das »Zeug« angesammelt hat. Aber er weiß jetzt, dass er es abarbeiten wird. Er kann ein Buch lesen oder einen Yogakurs besuchen, ohne sich schuldig fühlen zu müssen. Nachdem der Alltagskram erledigt ist, kann er sich um die wichtigen Dinge kümmern, etwa darum, seine Comedys zu schreiben. »Es gibt nichts Schlimmeres, als schreiben zu wollen, wenn das Telefon blinkt und Sie einen Stapel Briefe und E-Mails vor der Nase haben«, sagt er. »Das wird einfach nichts. Aber wenn Sie wissen, dass der andere Kram erledigt ist, können Sie sich konzentrieren. Dann sind Sie viel kreativer.« Genau das ist der Grund für den Erfolg von GTD in Unternehmen und im Alltag. Und das ist der Grund, warum Schauspieler, Künstler und andere kreative Menschen von Allens Ordnern und Mappen schwärmen.

»Egal ob Sie Ihren Garten anlegen, ein Foto machen oder ein Buch schreiben wollen: Es gehört dazu, dass Sie ein kreatives Chaos schaffen können«, meint Allen. »Aber dazu brauchen Sie eine aufgeräumte Bühne. Mehr als ein Chaos ist zu viel. Stellen Sie sich vor, Sie wollen Gott finden. Aber wenn Sie kein Katzenfutter im Haus haben, dann sollten Sie sich schleunigst überlegen, wo sie welches herbekommen. Sonst nimmt das Katzenfutter viel mehr Aufmerksamkeit in Anspruch als nötig und hindert Sie daran, Gott zu finden.«

Aber warum ist es so schwierig, das Katzenfutter auf die Liste zu setzen? Warum bezahlen Manager Allen 20 000 Dollar am Tag und suchen immer noch nach Entschuldigungen, um vor dem Zeug auf Ihrem Schreibtisch Reißaus zu nehmen? Manchmal muss Allen die Manager sogar aus der Männertoilette holen und an den Schreibtisch zurückzerren. Nachdem er so oft zugesehen hat, wie seine Klienten über den trivialsten Entscheidungen und nächsten Schritten leiden, ist ihm klargeworden, was das Wort »entscheiden« mit »scheiden« und »verabschieden« zu tun hat.

»Wenn wir uns entscheiden, was wir mit unserem Zeug machen oder welchen Film wir sehen wollen, dann denken wir nicht, was für tolle Möglichkeiten wir haben. Eine Stimme in uns sagt uns, wenn ich diesen Film sehe, dann kann ich die anderen Filme nicht sehen. Sie können die ganze Zeit über meinen, dass Sie wissen, was Sie tun, aber wenn Sie vor der Entscheidung stehen, dann hören Sie diesen Dialog in Ihrem Kopf: ›Ich hab Recht, ich hab Unrecht, ich hab Recht, ich hab Unrecht …‹ Wenn Sie eine Entscheidung treffen, dann heißt es, Abschied nehmen, und Sie fallen in dieses existenzielle Loch.«

Existenzielle Löcher lassen sich im Labor nur schwer beobachten. Aber wenn jemand lange in diesem Loch zubringt, hat das Konsequenzen, und die sind leichter zu messen. In dieser Lage verhalten sich manche Menschen wie Eliot Spitzer, dem wir im nächsten Kapitel begegnen.