KAPITEL 7 

MIT TRICKS DURCH SCHWIERIGE ZEITEN 

Selbstbeherrschung

ist wichtiger

als Schießpulver.

 

Henry Morton Stanley102

Als Henry Morton Stanley103 im Jahr 1887 den Kongo hinauffuhr, stieß er unfreiwillig ein fatales gesellschaftliches Experiment an. Seine erste Expedition, die er als Journalist in das Herz des afrikanischen Kontinents unternommen hatte, lag bereits 16 Jahre zurück. Damals hatte er Berühmtheit erlangt, weil er einen schottischen Missionar aufgespürt und mit den Worten »Dr. Livingstone, nehme ich an« begrüßt hatte. Mit seinen inzwischen 46 Jahren war Stanley ein erfahrener Forscher und führte seine dritte Expedition nach Afrika. Während er in den unbekannten Regenwald vordrang, ließ er in einem Lager am Flussufer eine Gruppe zurück, um auf Nachschub zu warten. Dort sorgten die Anführer der Nachhut, die aus den besten Familien Großbritanniens stammten, für einen internationalen Skandal.

Diese Männer, die zusammen mit einem britischen Militärarzt ein Fort auf der Route übernahmen, verloren kurz nach Stanleys Aufbruch jegliche Selbstbeherrschung. Sie verweigerten kranken Afrikanern, die zu ihrer Gruppe gehörten, jede medizinische Behandlung und ließen sie an behandelbaren Krankheiten und Lebensmittelvergiftungen sterben. Sie entführten junge afrikanische Frauen und hielten sie als Sexsklavinnen. Als eine der jungen Frauen weinend flehte, zu ihren Eltern zurückkehren zu dürfen, lachten sie nur; eine andere, die entkam, fingen sie wieder ein und fesselten sie, um eine weitere Flucht zu verhindern. Der britische Befehlshaber des Forts misshandelte und verstümmelte Afrikaner. Einige stieß er sie mit einem scharfen Stahlstock, andere ließ er wegen lächerlicher Vergehen halb totprügeln oder erschießen. Die meisten seiner Offiziere äußerten keinen Widerspruch. Als eine Frau der Pygmäen und ihre Kinder, die in der Nähe des Forts lebten, beim Diebstahl von Lebensmitteln erwischt wurden, ließ er ihnen die Ohren abschneiden. Andere Diebe wurden erschossen und hingerichtet, und ihre Köpfe wurden zur Warnung vor dem Fort auf Spießen ausgestellt. Einer der Offiziere der Nachhut, ein Biologe und Erbe des Whiskeyfabrikanten Jameson, bezahlte Kannibalen dafür, ein elfjähriges Mädchen zu töten und zu essen, damit er das Ritual zeichnen konnte.

Etwa zu dieser Zeit brach Joseph Conrad104 zu seiner Reise auf dem Kongo auf. Ein Jahrzehnt später sollte er den enthemmten Imperialisten Kurtz erfinden, die Hauptfigur seines Romans Herz der Finsternis. Kurtz ließ es »an Hemmungen bei der Befriedigung seiner verschiedenen Lüste fehlen«, da er »innerlich hohl« war – und »die Wildnis hatte diesen Mangel schnell bemerkt«. Die europäischen Leser lernten die Gefahren der afrikanischen Wildnis auch aus der Lektüre von Berichten über Stanleys Nachhut kennen. Kritiker forderten ein Ende dieser Expeditionen, und sehr zu Stanleys Bedauern sollte es tatsächlich die letzte ihrer Art gewesen sein. Auch er verurteilte das Verhalten seiner Männer, denn obwohl er die Gefahren der Wildnis nur zu gut kannte, hielt er sie für bezähmbar.

Während seine Nachhut Amok lief, hielt er nämlich in einer sehr viel wilderen Umgebung die Disziplin aufrecht. Zusammen mit der Vorhut der Expedition suchte er monatelang einen Weg durch den undurchdringlichen Ituri-Regenwald. Während sie sich durch Wolkenbrüche und hüfttiefen Schlamm kämpften, mussten sie sich riesigen Schwärmen von Stechmücken und Horden von Ameisen erwehren. Dabei wurden sie von dauerndem Hunger ausgemergelt, von nässenden Wunden und blutenden Blasen gequält und von Malaria und Durchfall heimgesucht. Sie wurden von Einheimischen mit Giftpfeilen und Speeren verwundet, getötet und manchmal auch gegessen. Während der schrecklichsten Phase starben jeden Tag mehrere Angehörige der Gruppe an Krankheit und Hunger. Von denen, die Stanley ins »finsterste Afrika« folgten, wie er diesen Urwald nannte, auf dessen Boden kaum Licht fiel, kam nicht einmal jeder Dritte wieder zurück.

Nur wenige Entdecker der Geschichte haben vergleichbares Elend und Schrecken erlebt. Eine der wenigen Expeditionen, die ähnlich mörderisch verlief, war diejenige, die Stanley selbst Jahre zuvor quer durch den Kontinent und zu den Quellen des Kongos und des Nils geführt hatte. Doch Stanley hatte Jahr für Jahr und Expedition für Expedition sämtliche Schrecknisse durchgestanden. Seine europäischen Begleiter bewunderten seine Willenskraft. Afrikaner nannten ihn Bula Matari, den Steinbrecher. Die einheimischen Führer und Träger, die seine Expeditionen überlebten, schlossen sich ihm wieder und wieder an, denn sie bewunderten nicht nur seine Ausdauer und Entschlossenheit, sondern auch seine Güte und seinen Gleichmut unter höllischen Bedingungen. Während andere der Wildnis die Schuld gaben, wenn sich vermeintlich zivilisierte Männer in Wilde verwandelten, behauptete Stanley, sie diszipliniere ihn: »Ich behaupte nicht, ein feiner Mensch zu sein. Aber nachdem ich mein Leben als ungebildeter und ungeduldiger Mann begann, haben mich genau jene Erfahrungen in Afrika geschult, von denen es heute heißt, sie zersetzten den Charakter der Europäer.«

Was lernte er? Warum ertappte ihn die Wildnis nicht auch bei einer Schwäche? Die Künstler und Intellektuellen seiner Zeit waren von Stanleys Taten fasziniert. Der amerikanische Schriftsteller Mark Twain105 mutmaßte, Stanley sei einer der wenigen seiner Zeitgenossen, an die man sich in hundert Jahren noch erinnern werde. »Wenn ich das, was ich in meinem kurzen Leben geleistet habe, mit dem vergleiche, was Stanley in seinem vermutlich kürzeren Leben geleistet hat, dann fegt dieser Vergleich mein turmhohes Selbstbewusstsein hinweg und lässt nichts als den Keller übrig.« Der russische Dramatiker Anton Tschechow106 erklärte, Stanley sei mehr wert als Dutzende Schulen und Hunderte guter Bücher. Er sah Stanleys »hartnäckiges und unbezwingbares Streben nach einem Ziel und seine Gleichgültigkeit gegenüber Entbehrungen, Gefahren und Versuchungen« als Zeichen »größter moralischer Stärke«.

Aber das britische Establishment begegnete dem Journalisten aus Amerika mit Misstrauen, und nach dem Skandal um seine Nachhut waren sofort eifersüchtige Gegenspieler zur Stelle, die seine Forschungsexpeditionen kritisierten. Im folgenden Jahrhundert geriet er immer mehr in Verruf, und Biografen und Historiker kritisierten seine Expeditionen und seine Verbindungen zu Leopold II., dem unersättlichen belgischen König, dessen Elfenbeinhändler Joseph Conrad später als Vorlage für Herz der Finsternis dienen sollten. Als sich das Zeitalter des Kolonialismus dem Ende zuneigte und die viktorianische Charakterbildung aus der Mode kam, galt Stanley weniger als Vorbild der Selbstbeherrschung, sondern eher als eiserner Egomane, brutaler Ausbeuter und rücksichtsloser Imperialist, der sich seinen Weg durch Afrika gehauen und geschossen habe. Dieser grausame Eroberer wurde oft als Gegenteil des sanftmütigen Dr. Livingstone gezeichnet, diesen einsamen Reisenden, der den Kontinent durchstreifte, um Seelen zu retten.

Doch in den letzten Jahren wandelte sich sein Bild ein weiteres Mal. Heute sehen wir einen Stanley, der für ein modernes Publikum sehr viel spannender ist als der furchtlose Held oder der rücksichtslose Imperialist. Dieser Entdecker überlebte die Wildnis nicht aufgrund seiner Selbstsucht oder seines ehernen Willens, sondern weil er wusste, dass der Wille Grenzen hat, und der deshalb langfristige Strategien entwickelte, die Psychologen erst allmählich zu verstehen beginnen.

Diesen neuen Stanley entdeckte ausgerechnet der Livingstone-Biograf Tim Jeal, ein britischer Romanautor. Bei seinen Recherchen zu David Livingstone begann Jeal, das beliebte Bild des Gegensatzpaars Livingstone-Stanley zu hinterfragen. In den vergangenen Jahren tauchten Tausende Briefe und Aufzeichnungen Stanleys auf, und Jeal benutzte diese, um die Biografie des Entdeckers neu zu schreiben. Das Ergebnis ist sein Buch Stanley. Diese begeistert gefeierte Biografie zeichnet den Entdecker als zutiefst problematischen Menschen, der uns durch seine Mischung aus Ehrgeiz und Unsicherheit, Tugend und Lüge umso mutiger und menschlicher erscheint. Seine Selbstbeherrschung in der Wildnis wird umso bemerkenswerter, wenn man die Geheimnisse kennt, die er in seinem Herzen barg.

Die Empathielücke

Wenn die Selbstdisziplin teilweise erblich ist – und davon kann man ausgehen –, dann hatte Stanley eigentlich schlechte Karten. Er kam in Wales als Kind einer unverheirateten achtzehnjährigen Frau zur Welt, die nach ihm vier weitere uneheliche Kinder von mindestens zwei Männern hatte. Seinen Vater lernte er nie kennen. Seine Mutter lieferte ihn kurz nach seiner Geburt bei ihrem Vater ab, der sich um den Kleinen kümmerte. Der Großvater starb, als der Junge sechs Jahre alt war, und eine andere Familie nahm ihn bei sich auf. Doch schon bald unternahmen seine neuen Pflegeeltern einen Ausflug mit ihm. Sie sagten ihm, sie wollten ihn seiner neuen Tante vorstellen, doch stattdessen endete der verwirrte Junge in einem großen Haus mit dicken Mauern. Es war das Arbeitshaus. Noch als Erwachsener sollte sich Stanley an den Moment erinnern, in dem die verräterischen Pflegeeltern flüchteten, die Tür hinter ihnen zuschlug, und er zum ersten Mal »dieses furchtbare Gefühl der völligen Einsamkeit« erlebte.

Der Junge, der damals noch John Rowlands hieß, sollte später alles tun, um die Schande des Arbeitshauses und das Stigma der unehelichen Geburt zu verbergen. Nachdem er im Alter von 15 Jahren das Arbeitshaus verlassen hatte und nach New Orleans ausgewandert war, leugnete er seine walisische Herkunft, gab sich als Amerikaner aus und legte sich sogar einen amerikanischen Zungenschlag zu. Er nannte sich Henry Morton Stanley und behauptete, er habe den Namen seines Stiefvaters angenommen, eines freundlichen und fleißigen Baumwollhändlers aus New Orleans. Seine Adoptiveltern hätten ihn zur Selbstbeherrschung erzogen, log er, und die letzten Worte seiner Fantasiemutter lauteten angeblich: »Sei ein guter Junge.«

»Eines seiner Lieblingsthemen war die Redlichkeit«, behauptete Stanley von seinem erfundenen Stiefvater.107 »Er erklärte, deren Übung verleiht dem Willen Kraft, die er genauso benötige wie ein Muskel. Der Wille muss gestärkt werden, um weltlichen Begierden und niederen Gelüsten zu widerstehen, und ist einer der besten Verbündeten, den das Gewissen haben kann.« Es ist nicht verwunderlich, dass der Rat des fiktiven Vaters genau zu den Regeln passte, die sich Stanley selbst auferlegte, um nicht in die Laster seiner eigenen Eltern zu verfallen. Während er im Alter von elf Jahren im Arbeitshaus lebte, experimentierte er bereits mit dem Willen, indem er sich zusätzliche Herausforderungen auferlegte:

 

Ich stand um Mitternacht auf, um im Geheimen mit meinem bösen Ich zu ringen. Während meine Gefährten ruhig schliefen, kniete ich mich auf den Boden und öffnete mein Herz vor dem, der alles sieht und alles weiß … Ich gelobte, nicht nach mehr Essen zu verlangen, und um ihm zu beweisen, dass ich den Magen und seine Schmerzen verachtete, verteilte ich eine der drei Mahlzeiten unter den anderen Kindern. Die Hälfte meines Puddings gab ich Ffoulkes, welcher der Gier verfallen war. Und wenn ich je etwas besaß, das den Neid eines anderen erregte, dann gab ich es sofort her.108

 

Tugend erforderte Geduld, wie er bald feststellen musste. »Manchmal schien es ganz und gar vergebens, gegen das Böse ankämpfen zu wollen, doch mit jedem Schritt stellten sich winzige Verbesserungen ein und der Charakter entwickelte sich immer weiter.« Im Alter von 26 Jahren war er ein erfolgreicher Kriegsberichterstatter und predigte seinen Freunden die Selbstbeherrschung. Als einer vorschlug, er solle Urlaub machen, lehnte er großsprecherisch ab und behauptete, er könne nicht ohne das Rattern der Eisenbahn leben. Er würde den Urlaub nicht genießen können, da ihn sein Gewissen plage, wenn er seine Zeit verschwende. Nichts konnte ihn davon abbringen, seine Ziele zu verfolgen: »Damit meine ich meine Hingabe, meine Selbstverleugnung und meine unermüdliche Energie, um mein eigener Herr zu werden.«

Doch in Afrika erkannte Stanley die Grenzen des Willens. Auch wenn er behauptete, seine Erfahrungen auf dem Kontinent hätten seinen Willen gestärkt, sah er auch, welchen Tribut Afrika von Menschen forderte, die nicht an diese Strapazen und Versuchungen gewöhnt waren. »Wer diese Erfahrungen nicht selbst gemacht hat, kann kaum beurteilen, welche Selbstbeherrschung jeder von uns in dieser Umgebung aufzubringen hatte«, schrieb er über seine Expedition im Ituri-Regenwald. Als Stanley von den Grausamkeiten und Entgleisungen seiner Nachhut erfuhr, notierte er in seinem Tagebuch, die meisten Menschen würden daraus vermutlich den falschen Schluss ziehen, der Mensch sei von Natur aus böse. Die Menschen zu Hause in der Zivilisation könnten kaum nachvollziehen, welche Veränderungen in den Männern seit ihrem Aufbruch in England vorgegangen waren:

 

Zu Hause hatten diese Männer keinerlei Anlass, ihre natürliche Wildheit zu zeigen … Plötzlich wurden sie nach Afrika und in dessen Elend versetzt. Sie mussten ohne Braten, Brot, Wein, Bücher, Zeitungen, Gesellschaft und Freunde auskommen. Das Fieber packte sie und zerstörte ihren Geist und ihren Körper. Die Angst verdrängte ihre Menschlichkeit, die Anstrengung ihre Güte und die Sorge ihre Freude … bis sie moralisch und körperlich nur noch ein Schatten derjenigen Männer waren, die sie in der englischen Gesellschaft gewesen waren.109

 

Was Stanley hier beschreibt, ist ein Phänomen, das der Wirtschaftswissenschaftler George Loewenstein später als »Empathielücke zwischen heiß und kalt«110 bezeichnen sollte: die Unfähigkeit, in einem kühlen, rationalen Moment zu erkennen, wie wir uns in einem Moment der Hitze, Leidenschaft und Versuchung verhalten werden. Zu Hause in England nahmen sich diese Männer mit kühlem Kopf vor, sich tugendhaft zu verhalten, doch sie konnten sich nicht vorstellen, wie anders sie in der Hitze des Dschungels empfinden würden. Die Empathielücke stellt bis heute eine der größten Herausforderungen an die Selbstdisziplin dar, wenn auch in nicht ganz so extremer Form. Die meisten Menschen kennen sie eher aus Erlebnissen wie dem Folgenden, das eine unserer Bekannten hatte. Die Frau wuchs als einziges Kind in einer Kommune von idealistischen Hippies auf, die unter anderem das Ideal vertraten, sich nur von gesunden und natürlichen Lebensmitteln zu ernähren. Ihre Mutter meinte jedoch, das Mädchen dürfe ruhig gelegentlich ein paar Süßigkeiten aus dem Supermarkt essen. Dafür musste sie eine Menge Spott über sich ergehen lassen und sich Vorträge über die Gefahren des Zuckers, die Schrecken des Junkfood und die Verschwörung der unmoralischen Lebensmittelkonzerne anhören. Die Mutter kaufte die Süßigkeiten trotzdem, aber bald stand sie vor einem unerwarteten Problem: Sie verschwanden auf unerklärliche Weise. Spät abends, nachdem die Kommunarden große Mengen von Naturprodukten wie Wein und Cannabis zu sich genommen hatten, schmolz die Willenskraft und damit die Verachtung für Junkfood dahin und der Appetit nach Zucker wuchs. Viele Eltern müssen Süßigkeiten vor ihren Kindern verstecken, doch diese Mutter stellte bald fest, dass ihr Kind der einzige Mensch war, dem sie das Versteck verraten durfte. Sie musste die Süßigkeiten verstecken, weil die Erwachsenen unter der Empathielücke litten. Am Tag verteufelten sie alles Junkfood, weil sie nicht wussten, wie sehr sie sich nach dem bösen Zuckerkram sehnen würden, wenn sie breit und müde waren.

Wenn Sie Regeln für Ihr künftiges Verhalten aufstellen, tun Sie das oft mit einem kühlen Kopf und gehen unrealistische Verpflichtungen ein. »Es ist leicht, mit vollem Bauch einen Diätplan aufzustellen«, meint Loewenstein, der an der Carnegie Mellon University unterrichtet. Genauso leicht ist es, keusch zu sein, solange man nicht sexuell erregt ist, wie Loewenstein und Dan Ariely feststellten, als sie heterosexuellen jungen Männern einige intime Fragen stellten. Sie sollten sich vorstellen, eine junge Frau, zu der sie sich hingezogen fühlten, schlage ihnen einen Dreier mit einem anderen Mann vor – würden sie sich darauf einlassen? Konnten sie sich vorstellen, mit einer vierzig Jahre älteren Frau zu schlafen? Oder mit einem zwölfjährigen Mädchen? Würden sie einer Frau vorspielen, sie seien in sie verliebt, um sie ins Bett zu bekommen? Würden sie ein Nein überhören? Würden sie eine Frau betrunken machen oder ihr Drogen einflößen, um ihr die Hemmungen zu nehmen?

Als die Männer diese Fragen beantworteten, saßen sie an einem Computer in einem Labor – ein reichlich kühler Zustand – und waren ehrlich überzeugt, dass sie dergleichen natürlich niemals tun würden. Aber in einem zweiten Schritt sollten die Teilnehmer masturbieren und diese Fragen im Zustand sexueller Erregung noch einmal beantworten. In diesem heißen Zustand sah die Sache schon ganz anders aus. Was vorher völlig ausgeschlossen schien, war plötzlich durchaus im Bereich des Möglichen. Es war natürlich nur ein Experiment, aber es zeigte, dass die Wildnis auch sie bei einer Schwäche ertappen könnte. Sobald es heiß wird, wird das Undenkbar erstaunlich denkbar.

Die Willenskraft mag die größte Stärke des Menschen sein, aber wir sind gut beraten, uns nicht immer auf sie zu verlassen. Heben Sie sich diese Stärke für Notfälle auf. Schon Stanley erkannte, dass man sich die Willenskraft mit einigen Techniken für Situationen aufsparen kann, in denen sie unerlässlich ist. Paradoxerweise ist Willenskraft nötig, um diese Techniken umzusetzen, aber auf lange Sicht helfen sie Ihnen, dass Sie in Situationen, in denen Sie zum Überleben ein starkes Herz benötigen, weniger erschöpft sind.

Freiwillige Selbstverpflichtung

Stanley reiste im Alter von dreißig Jahren zum ersten Mal nach Afrika, als er im Auftrag des New York Herald nach dem verschollenen Livingstone suchte. Während des ersten Teils der Reise kämpfte er sich durch Sümpfe und rang mit der Malaria und ihren »verrückten Visionen, rasenden Kopfschmerzen und schrecklicher Übelkeit«, die ihn wochenlang ins Delirium stürzte. Außerdem geriet die Expedition in einen Stammeskrieg und entkam nur knapp einem Blutbad. Nach sechs Monaten waren so viele seiner Begleiter gestorben oder geflüchtet, dass nur noch 34 Männer übrig waren, kaum ein Viertel der ursprünglichen Gruppe und viel zu wenig für die Reise durch das feindliche Land, das vor ihnen lag. Stanley wurde immer wieder vom Fieber geschüttelt und machte sich Sorgen, da erfahrene arabische Reisende ihn gewarnt hatten, dass auf dem weiteren Weg der sichere Tod auf ihn warte. Eines Abends schrieb er zwischen Fieberanfällen einen Brief an sich selbst:

 

Ich habe einen heiligen Eid geschworen, dass ich meine Suche unter keinen Umständen aufgeben werde, bis ich Livingstone tot oder lebendig gefunden habe, und diesen Eid werde ich halten, solange ich noch Leben in mir spüre … Kein Mensch wird mich aufhalten, nur der Tod kann mich daran hindern. Aber auch nicht der Tod, denn ich sterbe nicht, ich werde nicht sterben, ich kann nicht sterben!111

 

Selbst im Fieberwahn dürfte Stanley kaum wirklich geglaubt haben, dass er mit diesem Brief den Tod bezwingen konnte. Der Brief war vielmehr Teil einer Strategie, mit der er sich seine Willenskraft bewahrte und die er immer wieder mit großem Erfolg einsetzte: die Selbstverpflichtung. Die Strategie besteht im Grunde nur darin, sich unwiderruflich auf den richtigen Weg festzulegen. Sie wissen zwar, dass Sie unterwegs immer wieder versucht sein werden, von diesem Weg abzuweichen, und dass Ihr Wille schwach wird. Deshalb machen Sie es sich von vornherein unmöglich, diesen Pfad zu verlassen. Auch Odysseus und seine Männer benutzten die Strategie der Selbstverpflichtung, um am tödlichen Gesang der Sirenen vorüberzusegeln. Odysseus ließ sich an den Mast fesseln, um die Sirenen hören zu können, aber keine Möglichkeit zu haben, das Schiff in ihre Richtung zu steuern. Und seine Männer verstopften sich die Ohren mit Bienenwachs, um den Gesang nicht zu hören; damit gerieten sie erst gar nicht in Versuchung, was in jedem Fall die bessere Strategie ist. Wenn Sie nicht Roulette spielen wollen, ist es besser, sie gehen erst gar nicht ins Kasino, statt zwischen den Tischen auf und ab zu gehen und darauf zu zählen, dass Ihre Freunde Sie schon am Spielen hindern werden.

Natürlich kann niemand alle Versuchungen vorhersehen, schon gar nicht heutzutage. Egal was Sie tun, um reale Spielkasinos zu vermeiden, die virtuellen Spielkasinos sind nie weit, ganz zu schweigen von all den anderen Versuchungen, die rund um die Uhr im Internet locken. Aber die Technologie, die neue Sünden erfindet, bietet auch neue Möglichkeiten, sich vor ihnen zu schützen. Ein moderner Odysseus kann seinem Browser die Ohren verstopfen, damit der bestimmte Seiten nicht mehr anzeigt. Und ein moderner Stanley kann das Internet genauso nutzen wie der Entdecker die Medien seiner Zeit: In seinen Briefen, Berichten und Erklärungen versprach er immer wieder, sein Ziel zu erreichen und sich ehrenhaft zu verhalten, denn er wusste, wenn er berühmt würde, dann würden seine Fehltritte Schlagzeilen machen. Nachdem er seine Männer vor den Gefahren der Trunksucht gewarnt und sie ermahnt hatte, sexuellen Versuchungen in Afrika zu widerstehen, würden seine eigenen Verfehlungen in umso grellerem Licht erscheinen. Nachdem er in die Rolle des Bula Matari, des unerschütterlichen Steinbrechers geschlüpft war, zwang er sich, ihr auch gerecht zu werden. Mit seinen Schwüren und seinem Image habe er von vornherein verhindern wollen, dass er durch Willensschwäche scheiterte, so sein Biograf Jeal.

Heute muss man nicht berühmt sein, um Angst haben zu müssen, in einem schwachen Moment seinen Ruf zu ruinieren. Mit Hilfe der sozialen Netzwerke, die ihre Sünden schonungslos offenlegen, können Sie sich zu tugendhaftem Verhalten zwingen. Ein Beispiel ist die »Bloßstellungsdiät«112 des Schriftstellers Drew Magary, der versprach, sich jeden Tag zu wiegen und sein Gewicht auf Twitter zu veröffentlichen. Daran hielt er sich – und speckte prompt in fünf Monaten 25 Kilogramm ab. Wenn Sie die Bloßstellung jemand anderem überlassen wollen, können Sie ein Programm namens Covenant Eyes113 installieren, das die Webseiten registriert, die Sie besuchen, und dann eine Liste an eine vorab bestimmte Person schickt, zum Beispiel Ihren Chef oder Ihre Frau. Oder Sie können eine Selbstverpflichtung bei stickK.com eingehen, einem Unternehmen, das von den beiden Wirtschaftswissenschaftlern Ian Ayres und Dean Karlan gegründet wurde. Sie können jedes beliebige Ziel wählen – abnehmen, mit dem Nägelkauen aufhören, weniger fossile Brennstoffe verwenden, Ihre Ex nicht mehr anrufen – und werden automatisch bestraft, wenn Sie Ihr Ziel nicht erreichen. Dabei können Sie sich selbst kontrollieren oder einen unparteiischen Schiedsrichter über Erfolg oder Misserfolg urteilen lassen. Die Strafe könnte ganz einfach eine E-Mail an vorab benannte Freunde und Verwandte oder alternativ auch Ihre Feinde sein. Sie können sich aber auch selbst eine Geldstrafe auferlegen und zum Beispiel automatisch eine Spende an eine gemeinnützige Einrichtung überweisen. Wenn Sie einen besonderen Anreiz wollen, können Sie eine Organisation wählen, die Sie auf gar keinen Fall unterstützen möchten, wie zum Beispiel eine politische Partei, bei der Sie auch mit vorgehaltener Pistole nicht Ihr Kreuzchen machen würden. Die Nutzer von stickK.com114 scheinen sich vor allem durch finanzielle Anreize zu motivieren (wie auch Stanley, der Geschichten finden musste, um Artikel und Bücher zu verkaufen) sowie durch die Anwesenheit eines Schiedsrichters. Nutzer, die keine Geldstrafe und keinen Schiedsrichter vorsehen, kommen auf eine Erfolgsquote von 35 Prozent, die anderen dagegen von bis zu 80 Prozent; und wer eine Strafe von 100 Dollar vorsieht, hat wiederum mehr Erfolgschancen als jemand, der nur 20 Dollar aufs Spiel setzt – zumindest nach Angaben von stickK.com, das keine unabhängige Überprüfung vornehmen lässt. Die tatsächliche Erfolgsquote liegt vermutlich etwas niedriger, da Schiedsrichter möglicherweise zögern, Ergebnisse zu melden, die ihren Freunden oder Angehörigen finanziell schaden könnten. Und natürlich handelt es sich um eine nicht repräsentative Auswahl von Menschen, die bereits motiviert sind, ihr Verhalten zu verändern, weshalb es schwer nachprüfbar ist, welche Rolle die Selbstverpflichtung bei stickK.com bei der Umsetzung der Vorsätze spielt. Aber die Wirksamkeit von Verträgen mit Schiedsrichtern und Strafen konnte in einem wissenschaftlichen Experiment nachgewiesen werden, das von Dean Karlan und anderen Ökonomen durchgeführt wurde.

An dem Experiment nahmen 2 000 philippinische Raucher115 teil, die mit dem Rauchen aufhören wollten. Die Hälfte der Teilnehmer konnte einen Vertrag mit einer Bank abschließen und wöchentlich Geld auf ein Konto überweisen, das keinerlei Zinsen abwarf. Die Wissenschaftler schlugen den Rauchern vor, dieselbe Summe zu überweisen, die sie in der Regel für ihre Zigaretten ausgaben, aber der Betrag war freiwillig, und die Teilnehmer mussten auch gar nichts überweisen (was einige auch taten). Nach sechs Monaten mussten sie sich einem Urintest unterziehen. Wurde bei dem Test Nikotin im Körper nachgewiesen, verloren die Teilnehmer das eingezahlte Geld und die Bank überwies den gesamten Betrag an eine gemeinnützige Einrichtung. Aus finanzieller Sicht war es für die Raucher ein schlechtes Geschäft. Hätten sie ihr Geld auf ein einfaches Sparkonto eingezahlt, dann hätten sie wenigstens Zinsen dafür bekommen. Aber nicht nur, dass sie keine Zinsen erhielten, sie liefen außerdem Gefahr, alles zu verlieren – und tatsächlich bestand mehr als die Hälfte der Teilnehmer den Test nach sechs Monaten nicht. Das Bedürfnis nach dem Glimmstängel war so überwältigend, dass die meisten Raucher ihm nachgaben, obwohl sie wussten, dass sie damit das gesamte Geld verloren.

Die gute Nachricht war, dass viele Raucher tatsächlich ganz mit dem Rauchen aufhörten und auch nach den sechs Monaten nicht wieder damit anfingen. Nach der Urinprobe endete das Programm offiziell, die Teilnehmer hatten keine Ahnung, dass sie weiter beobachtet werden würden. Doch die Wissenschaftler wollten herausfinden, ob der Effekt ihres Programms von Dauer war, und baten die Teilnehmer ein halbes Jahr später überraschend zu einem weiteren Test. Auch nach dem Wegfall des finanziellen Anreizes wirkte das Programm nach: Verglichen mit einem Kontrollprogramm ohne freiwillige Selbstverpflichtung besaß dieses Programm auch nach einem Jahr noch eine um 40 Prozent höhere Erfolgsquote. Der zeitlich befristete Anreiz hatte also eine dauerhafte Verhaltensänderung bewirkt. Was als Selbstverpflichtung begann, wurde zu einer Gewohnheit.

Das Gehirn auf Autopilot

Stellen Sie sich vor, Sie sind Henry Morton Stanley und wachen an einem besonders finsteren Morgen auf. Sie quälen sich aus Ihrem Zelt im Regenwald. Es ist natürlich dunkel. Es ist schon seit Monaten dunkel. Ihr Magen, der schon auf früheren Expeditionen von Parasiten, Krankheiten und gewaltigen Mengen von Chinin und anderen Medikamenten zerfressen wurde, drückt Sie noch furchtbarer als sonst. Sie und Ihre Männer müssen sich von Beeren, Wurzeln, Pilzen, Würmern, Raupen, Ameisen und Schnecken ernähren – wenn Sie denn welche finden. Vor ein paar Tagen haben Sie Ihren Esel erschossen, um Ihrer Gruppe eine Mahlzeit zu gönnen. Die halb verhungerten Männer haben jede Faser des Tieres verschlungen, sich am Ende um die Hufe gestritten und noch das Blut vom Boden aufgeleckt, ehe es in der Erde versickerte.

Dutzende Ihrer Begleiter sind von Hunger, Krankheiten und eiternden Wunden so geschwächt, dass Sie sie auf einer Lichtung zurückließen, die von Ihren Männern nur »das Hungerlager« genannt wird. Sie befürchten, dass sich Ihr eigenes Lager nicht allzu sehr von diesem Hungerlager unterscheidet, und malen sich in schrecklichen Details aus, wie Sie und die anderen zusammenbrechen und elendig im Urwald sterben. Sie stellen sich vor, wie die Insekten auf jeden toten Körper reagieren: »Noch bevor er kalt ist, kommt erst ein ›Scout‹, dann noch einer, dann ein Dutzend und schließlich Tausende wilder gelber Aasfresser in ihren glänzenden Hornrüstungen. In einigen Tagen sind nur noch ein paar Lumpen und ein glänzender, weißer Schädel übrig.«

Aber noch sind Sie nicht tot. Sie haben zwar nichts zu essen, aber noch sind Sie am Leben. Jetzt, da Sie aufgestanden sind und dem ersten Ruf der Natur gefolgt sind, was tun Sie?

Für Stanley war die Antwort einfach: Er rasierte sich. Einer seiner Diener in England erinnerte sich später: »Er hat mir oft erzählt, dass er es sich auf seinen Expeditionen zur Regel gemacht habe, sich jeden Morgen zu rasieren. Im Urwald, im Hungerlager, am Morgen vor einer Schlacht – er hat sich immer an diese Gewohnheit gehalten, egal wie schwierig die Umstände waren. Er hat mir erzählt, wie oft er sich mit kaltem Wasser oder mit stumpfen Rasiermessern rasiert hat.« Aber warum sollte sich jemand, der dem Hungertod ins Auge sieht, auf seiner morgendlichen Rasur bestehen? Als wir Stanleys Biografen nach dieser extremen Korrektheit im Dschungel befragten, meinte Jeal, es sei ein typischer Ausdruck seines Ordnungssinns gewesen.

»Stanley legte großen Wert auf sein Äußeres, auch bei seinen Kleidern. Er legte großen Wert auf eine klare Handschrift in seinen Tagebüchern und Briefen und hielt seine Sachen in Ordnung«, erklärte Jeal. »Er lobte eine ähnliche Ordentlichkeit bei Livingstone. Diese Ordnung war ein Gegengift gegen das zerstörerische Chaos der Natur.« Stanley gab eine ähnliche Erklärung dafür, warum er sich im Urwald rasierte: »Ich habe immer ein möglichst anständiges Äußeres gewahrt, aus Selbstdisziplin und aus Selbstachtung.«

Man könnte sich natürlich fragen, ob er seine Energie nicht besser anders hätte verwenden können, zum Beispiel für die Suche nach Nahrung. War dies nicht eine sinnlose Disziplin, mit der er nur seine Willenskraft schwächte, die ihm dann nicht mehr für überlebenswichtige Aufgaben zur Verfügung stand? Ganz im Gegenteil, Gewohnheiten wie diese können die Selbstdisziplin sogar noch verbessern, weil sie mit automatischen mentalen Prozessen zusammenhängen, die kaum Energie benötigen. Stanleys Überzeugung, dass ein Zusammenhang zwischen äußerer Ordnung und innerer Selbstdisziplin besteht, wurde unlängst in einer Reihe von bemerkenswerten Untersuchungen bestätigt. In einem Experiment saß eine Gruppe von Teilnehmern in einem aufgeräumten und sauberen Labor, während sie eine Reihe von Fragen beantwortete; hingegen bekam eine andere Gruppe dieselben Fragen in einem chaotischen Durcheinander vorgelegt. Die Teilnehmer, die im Chaos saßen, wiesen deutlich geringere Selbstdisziplin auf und waren beispielsweise eher bereit, jetzt eine kleine Summe einzustecken statt eine Woche auf eine größere Summe zu warten. Als man ihnen Getränke und eine Kleinigkeit zu essen anbot, entschieden sich die Teilnehmer im aufgeräumten Labor für Milch und Obst, die im Saustall dagegen für Cola und Schokoriegel.

In einem ähnlichen Online-Experiment beantwortete eine Gruppe von Teilnehmern Fragen auf einer übersichtlichen und gut gestalteten Website und eine andere auf einer unübersichtlichen Seite mit vielen Rechtschreibfehlern. Auf der schlecht gestalteten Seite gaben mehr Teilnehmer an, dass sie Risiken wagten statt auf Nummer sicher zu gehen, dass sie fluchten und Schimpfwörter verwendeten und dass sie eine sofortige kleine Belohnung einer späteren und größeren vorzogen. Auf einer unaufgeräumten Website waren auch weniger Menschen bereit, für eine gute Sache zu spenden. Wohltätigkeit und Großzügigkeit hängen mit Selbstdisziplin zusammen, zum einen, weil wir Selbstdisziplin benötigen, um unseren natürlichen Egoismus zu überwinden, und zum anderen, weil der Gedanke an andere unsere Selbstdisziplin steigern kann (darauf gehen wir später noch genauer ein). Der ordentliche Internetauftritt und das aufgeräumte Labor waren subtile Hinweise, mit denen die Teilnehmer unbewusst zu disziplinierten Entscheidungen und Hilfsbereitschaft motiviert wurden.116

Indem sich Stanley jeden Tag rasierte, gab er sich denselben Hinweis, ohne dabei viel geistige Energie zu verschwenden. Er musste nicht jeden Morgen bewusst die Entscheidung treffen, sich zu rasieren. Nachdem er einmal den Willen aufgebracht und es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, war die Rasur zu einem automatischen Prozess geworden, der keine Willenskraft mehr erforderte.

So absurd Stanleys Ordnungssinn im Hungerlager auf den ersten Blick erscheinen mag, er passt zu den Mustern, die Baumeister in Zusammenarbeit mit Denise de Ridder und Catrin Finkenauer117 bestätigte. Die Wissenschaftler führten Untersuchungen mit Personen durch, die in Persönlichkeitstests besonders hohe Werte für Selbstdisziplin erzielt hatten, und unterschieden dabei zwei grobe Gruppen: unbewusste und bewusste Verhaltensweisen. Sie gingen davon aus, dass die Teilnehmer mit großer Selbstdisziplin diese vor allem in den vom Bewusstsein kontrollierten Verhaltensweisen ausspielen würden. Doch in der Meta-Analyse stellte sich heraus, dass das genaue Gegenteil der Fall war: Menschen mit großer Selbstdisziplin zeichneten sich vor allem dadurch aus, dass ihr Verhalten weitgehend automatisiert war.

Zunächst verblüffte dieses Resultat die Wissenschaftler, zeigte es doch, dass wir bei kontrollierten Verhaltensweisen keine Kontrolle ausüben. Wie konnte das sein? Sie überprüften die Ergebnisse, doch es konnte keinen Zweifel geben. Erst bei einer Überprüfung der ursprünglichen Untersuchungen verstanden sie die Bedeutung. Das Resultat stellte das bisherige Verständnis der Selbstdisziplin auf den Kopf.

Bei den automatisierten Verhaltensweisen handelte es sich um Gewohnheiten, während die bewusst kontrollierten Verhaltensweisen in der Regel einmalige Handlungen darstellten. Die Selbstdisziplin ist offenbar dann am effektivsten, wenn wir uns gute Gewohnheiten zu- und schlechte ablegen. Menschen mit einem hohen Maß an Selbstdisziplin benutzen eher Kondome und vermeiden schlechte Angewohnheiten wie Rauchen, Zwischenmahlzeiten und Alkoholmissbrauch. Zur Durchsetzung gesunder Verhaltensweisen ist zwar Willenskraft erforderlich – daher sind Menschen mit starkem Willen auch eher dazu in der Lage –, aber sobald sich die Gewohnheiten eingeschliffen haben, erfordern sie keine Anstrengung mehr.

Eine weitere unerwartete Erkenntnis ist die Tatsache, dass sich die Selbstdisziplin am stärksten auf die Leistung am Arbeitsplatz und in der Schule auswirkt, und am wenigsten auf die Ernährung. Obwohl Menschen mit relativ großer Selbstdisziplin ihr Gewicht effektiver kontrollieren, wirkt die Disziplin hier deutlich schwächer als in anderen Lebensbereichen. (Warum das so ist, und warum Diäten sinnlos sind, werden wir später noch sehen.) Ihre Selbstdisziplin hilft ihnen bei der emotionalen Anpassung (Glück, Selbstbewusstsein und Vermeidung von Depression) und im Umgang mit Freunden, Partnern und Verwandten. Am deutlichsten beeinflusste sie jedoch den Erfolg in Schule und Beruf, was einmal mehr unterstreicht, dass sich erfolgreiche Menschen vor allem auf gute Gewohnheiten verlassen. Einser-Schüler pauken nicht vor einer Prüfung die ganze Nacht hindurch, sondern lernen das ganze Jahr über regelmäßig. Und Arbeitnehmer und Selbstständige, die über einen langen Zeitraum hinweg konstant arbeiten, sind langfristig erfolgreicher.

In der Professorenzunft ist die Festanstellung beispielsweise eine große Hürde, und an den meisten Universitäten in den Vereinigten Staaten müssen Nachwuchswissenschaftler originelle und qualitativ hochwertige Veröffentlichungen vorlegen, um eine solche Stelle zu erhalten. Bildungsforscher Robert Boice118 untersuchte die Schreibgewohnheiten angehender Professoren und verfolgte ihre weitere Entwicklung. In einem Arbeitsumfeld ohne Vorgesetzte und Vorgaben entwickelten die Jungakademiker unterschiedliche Strategien, um sich selbst zu organisieren. Die einen recherchierten so lange, bis sie sämtliche Informationen zusammenhatten, und setzten sich dann hin, um das Manuskript auf einen Rutsch zu schreiben und dabei die eine oder andere Nachtschicht einzulegen. Andere schrieben dagegen konstant jeden Tag ein oder zwei Seiten, wieder andere wählten einen Ansatz irgendwo dazwischen. Als Boice die Nachwuchsakademiker Jahre später ein zweites Mal befragte, hatten sie sich sehr unterschiedlich entwickelt. Diejenigen, die jeden Tag ein paar Seiten geschrieben hatten, waren inzwischen fest angestellt. Die anderen hatten dagegen weniger Erfolg gehabt und viele arbeiteten gar nicht mehr an der Universität. Man kann angehenden Professoren und Schriftstellern also einen guten Rat mit auf den Weg geben: Schreiben Sie jeden Tag. Nutzen Sie Ihre Selbstdisziplin, um sich das Schreiben zur Gewohnheit zu machen, und Sie werden langfristig mit weniger Aufwand mehr produzieren.

Wir verbinden das Wort Willenskraft oft mit einmaligen Heldentaten: Wir legen am Ende eines Marathonlaufs einen Spurt hin, erdulden die Schmerzen der Geburt, stehen eine Verletzung durch, bewältigen eine Krise, widerstehen einer scheinbar unwiderstehlichen Versuchung und schaffen eine unmögliche Deadline. Selbst die kritischsten Biografen lobten Stanleys kreative Schübe kurz vor einem Abgabetermin. Nachdem er die schreckliche Expedition durch den Ituri-Regenwald überlebt hatte und in die Zivilisation zurückgekehrt war, schrieb er innerhalb kürzester Zeit seinen internationalen Bestseller Im dunkelsten Afrika. Von 6 Uhr morgens bis 11 Uhr abends saß er am Schreibtisch und schrieb in 50 Tagen ganze 900 Seiten nieder. Aber er wäre nie dazu in der Lage gewesen, wenn er nicht während der gesamten Expedition ausführliche Notizen gemacht und ordentlich Tagebuch geführt hätte. Sein Tagebuch war ihm genauso eine Angewohnheit wie seine morgendliche Rasur; so konnte er Tag für Tag schreiben und sich seine Willenskraft für die nächste unangenehme Überraschung im Dschungel aufsparen.

Rettungsanker und Leuchttürme

Im Alter von 33 Jahren, kurz nachdem er Livingstone aufgespürt hatte, verliebte sich Stanley. Bis dahin war er überzeugt gewesen, kein Glück bei Frauen zu haben, doch da er nach seiner Rückkehr nach London plötzlich eine Berühmtheit war, verbesserten sich auch seine Aussichten beim anderen Geschlecht. In London lernte er eine Amerikanerin namens Alice Pike kennen. Sie war erst 17 Jahre alt und hatte, wie er in seinem Tagebuch notierte, »keine Ahnung von afrikanischer Geografie und ist auch ansonsten reichlich ungebildet«. Doch er war über beide Ohren verliebt, und einen Monat nach ihrer ersten Begegnung verlobten sich die beiden. Sie wollten heiraten, sobald Stanley von seiner nächsten Afrika-Expedition zurückkehrte. Als er von der afrikanischen Ostküste ins Landesinnere aufbrach, trug er ihr Foto in ein Öltuch gewickelt an seinem Herzen. Sein acht Meter langes Boot, das seine Männer auf der ersten Etappe durch den Urwald schleppten und mit dem er als erster Europäer die großen Seen im Herzen Afrikas umsegeln sollte, hatte er auf den Namen Lady Alice getauft. Mit der Lady Alice wollte er den Lualaba hinunterfahren und sehen, wo er mündete – vielleicht in den Nil (wie Livingstone meinte), vielleicht in den Niger, vielleicht aber auch in den Kongo (wie Stanley korrekt vermutete). Das wusste niemand, denn selbst die gefürchteten arabischen Sklavenhändler hatten sich durch Geschichten von kriegerischen Kannibalen abschrecken lassen, das Gebiet zu erkunden.

Bevor er zu seiner Fahrt flussabwärts aufbrach, schrieb Stanley seiner Verlobten, er habe 25 Kilogramm verloren, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten, und bringe nur noch 54 Kilogramm auf die Waage. Er litt unter einem weiteren Malariaanfall und zitterte vor Kälte, obwohl die Temperatur tagsüber und in der Sonne auf fast 60 Grad stieg. Er befürchtete, dass ihm noch Schlimmeres bevorstand, doch in dem letzten Brief, den er seiner Verlobten vor Erreichen der afrikanischen Westküste schreiben sollte, interessierte ihn das nicht. »Meine Liebe für Dich glüht unverändert, Du bist mein Traum, mein Halt, meine Hoffnung und mein Leuchtturm«, schrieb er. »Ich werde dich in Ehren halten, bis wir uns wiedersehen oder mich der Tod holt.«

An diese Hoffnung klammerte sich Stanley auf den nächsten fünfeinhalbtausend Kilometern. Er fuhr mit der Lady Alice den Kongo hinunter, überlebte Angriffe von Kannibalen, die mit dem Kriegsschrei »Niama! Niama! – Fleisch! Fleisch!« über die Expedition herfielen. Nur die Hälfte seiner Begleiter erreichte mit ihm die Atlantikküste auf einer Reise, die fast drei Jahre lang dauern und außer ihm alle europäischen Teilnehmer das Leben kosten sollte. Wieder in der Zivilisation, suchte Stanley ungeduldig nach Liebesbriefen von seiner Verlobten. Stattdessen fand er einen Brief von seinem Verleger, der ihm Unangenehmes zu überbringen hatte: »Nun komme ich zu einer delikaten Nachricht, von der ich lange überlegt habe, ob ich sie Ihnen jetzt mitteilen oder bis zu Ihrer Ankunft warten soll. Aber ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich Sie besser gleich informiere, dass Ihre Freundin Alice Pike geheiratet hat!« Stanley war erschüttert, dass ihn die Frau seiner Träume verlassen (und den Sohn eines Fabrikanten von Eisenbahnwaggons aus Ohio geheiratet) hatte. Daran änderte auch ein kurzer Brief seiner Angebeteten nichts, die ihn zum Erfolg seiner Expedition beglückwünschte, beiläufig ihre Heirat erwähnte und einräumte, dass die Lady Alice »eine treuere Freundin war als die Alice, nach der sie benannt ist«. Für Stanley war der Vorfall ein weiterer Beweis für sein Pech in Liebesdingen. Er hatte offenbar das Foto der falschen Frau am Herzen getragen.

Aber so tragisch seine Liebe endete, sie hatte ihm doch etwas gebracht: Sie hatte ihn von seinem Leid abgelenkt. Er mochte sich in ihr getäuscht haben, doch er war so klug gewesen, sich für seine Reise einen »Halt« und einen »Leuchtturm« zu suchen, die weit von seiner finsteren Umgebung entfernt waren. Es war eine Erfolgsstrategie, wie sie in einfacherer Form auch die Kinder in dem klassischen Marshmallow-Experiment verwendeten. Die Kinder, die das Marshmallow anstarrten, verloren rasch jeden Willen und erlagen der Versuchung, es sofort zu essen; aber diejenigen, die sich ablenkten, indem sie sich im Zimmer umsahen oder sich einfach die Augen zuhielten, ertrugen die Wartezeit. Notärzte greifen zu einem ähnlichen Trick, wenn sie sich mit Patienten über ein beliebiges Thema unterhalten, um sie von ihrem Schmerz abzulenken. Und Hebammen halten Frauen während der Wehen davon ab, die Augen zu schließen, um zu verhindern, dass sie sich auf ihren Schmerz konzentrieren. Sie alle erkennen den Nutzen dessen, was Stanley als »Selbstvergessenheit« bezeichnete. Er sah die Schuld für das Fehlverhalten seiner Nachhut in der Entscheidung der Führer, zu lange im Lager zu bleiben und auf Nachschub zu warten, statt ihm in den Urwald zu folgen. »Die Medizin gegen ihre Zweifel und Ängste wäre die Aktivität gewesen«, schrieb er. Stattdessen ertrugen sie die »tödliche Monotonie«. So schlimm es für ihn war, sich mit den kranken, hungernden und sterbenden Männern durch den Urwald zu kämpfen: »Die dauernden Beschäftigungen waren zu anstrengend und interessant, um Raum für niedere Gedanken zu lassen.« Stanley betrachtete Aktivität als geistigen Rettungsanker:

 

Zum Schutz gegen Verzweiflung und Wahnsinn griff ich zur Selbstvergessenheit und dem Interesse, das mir meine Aufgabe bot. Mein Lohn war das Bewusstsein, dass meine Kameraden meinen Einsatz zu schätzen wussten und wir durch gemeinsame Sympathien und Ziele verbunden waren. Dies gab mir die Kraft, mich meinen mitmenschlichen Aufgaben zu widmen, und festigte meine Moral.119

 

Wenn Stanley von »gemeinsamen Sympathien« und »mitmenschlichen Aufgaben« schreibt, dann könnte sich der Verdacht aufdrängen, dass er damit vor allem sich selbst diente. Stanley stand in dem Ruf, kalt und streng zu sein. Er war schließlich der Mann, der mit der kühlsten Begrüßung aller Zeiten in die Geschichtsbücher einging: »Dr. Livingstone, I presume? – Dr. Livingstone, nehme ich an?« Selbst die Viktorianer empfanden diese Formel als lächerlich steif für zwei Briten, die sich mitten im afrikanischen Urwald begegneten. Das Interessante an diesem berühmten Gruß ist jedoch, so sein Biograf Jeal, dass Stanley ihn so nie aussprach. Zum ersten Mal taucht er in Stanleys Artikel für den New York Herald auf, den Stanley lange nach der Begegnung verfasste. Keiner der beiden Männer erwähnte diesen Satz in seinen Aufzeichnungen, Stanley riss die entscheidende Seite aus seinem Tagebuch heraus. Der Entdecker, der wegen seiner Kindheit im Arbeitshaus unter Minderwertigkeitskomplexen litt, dichtete diesen Gruß offenbar nachträglich, um einen möglichst würdevollen Eindruck zu erwecken. Er bewunderte die Steifheit der britischen Gentleman-Reisenden und bemühte sich, ihre Kühle zu imitieren, indem er seine Abenteuer möglichst distanziert beschrieb. Aber er verfügte weder über ihr Flair noch über ihre Diskretion. Während sie in ihren Büchern gewalttätige Auseinandersetzungen und Disziplinarmaßnahmen während ihrer Expeditionen verschwiegen oder herunterspielten, übertrieb Stanley diese Ereignisse, um sich als Draufgänger darzustellen und seine Artikel und Bücher zu verkaufen.

So kam es, dass Stanley lange als einer der brutalsten Entdecker seiner Epoche galt, obwohl er sich in Wirklichkeit gegenüber den Afrikanern ungewöhnlich menschlich verhielt, selbst im Vergleich zum frommen Dr. Livingstone. Für seine Zeit besaß Stanley erstaunlich wenige Vorurteile. Er sprach fließend Suaheli und pflegte lebenslange Freundschaften zu seinen afrikanischen Begleitern. Auf der anderen Seite bestrafte er europäische Offiziere, die Afrikaner unter ihrem Befehl misshandelten, und forderte seine Männer auf, sich jeder Gewalt gegen einheimische Dorfbewohner zu enthalten. Zwar griff er manchmal zu den Waffen, wenn Verhandlungen scheiterten und Geschenke ihre Wirkung verfehlten, doch das Bild eines Stanley, der sich seinen Weg durch Afrika schießt, ist ein Mythos. Sein Erfolgsgeheimnis waren nicht die Kämpfe, die er in seinen Büchern so lebhaft schildert, sondern zwei Prinzipien, die er nach seiner letzten Expedition so zusammenfasste:

 

Unter der Anspannung der drohenden Gefahr habe ich zweierlei gelernt: Erstens, dass Selbstbeherrschung wichtiger ist als Schießpulver, und zweitens, dass Selbstbeherrschung unter den Herausforderungen der Reisen in Afrika unmöglich ist ohne echte, wahrhaft empfundene Sympathie für die Einheimischen, denen man begegnet.

 

Wie Stanley erkannte, geht es bei der Selbstbeherrschung um mehr als das »Selbst«. Dank der Willenskraft sind wir in der Lage, mit anderen auszukommen und Impulse zu überwinden, die auf egoistischen, kurzsichtigen Interessen beruhen. Im Laufe der Menschheitsgeschichte waren Religionen und ihre Gebote verbreitete Mittel, um Menschen von ihrem egoistischen Verhalten abzubringen. Wie wir noch sehen werden, ist die Religion bis heute eine effektive Strategie der Selbstdisziplinierung. Aber was können Sie tun, wenn Sie wie Stanley kein gläubiger Mensch sind? Stanley hatte seinen Glauben als junger Mann im Amerikanischen Bürgerkrieg verloren und stand vor einer Frage, die auch andere Zeitgenossen umtrieb: Wie können wir uns moralisch verhalten, wenn unsere Triebe nicht mehr von den Geboten der Religion gezügelt werden? Wie Stanley beantworteten viele Atheisten diese Frage, indem sie sich nach außen weiterhin zur Religion bekannten und gleichzeitig versuchten, ein weltliches »Pflichtgefühl« herzustellen. Während seines furchtbaren Marsches durch den Ituri-Urwald ermahnte Stanley seine Männer mit einem Zitat aus Tennysons Ode auf den Tod des Duke of Wellington: »In der Geschichte unserer Insel führte oft der Weg der Pflicht zum Ruhm.«

Stanleys Männer zeigten nicht immer Verständnis für diese hochtrabende Gesinnung und konnten den Spruch irgendwann nicht mehr hören, aber dahinter steckte ein wirksames Prinzip der Selbstdisziplin: Konzentrieren Sie sich auf erhabene Ideale. Die Wirkung dieser Strategie wurde unlängst von Wissenschaftlern unter der Leitung von Kentaro Fujita von der New York University und seinem Doktorvater Yaacov Trope untersucht.120 Mit einer Reihe von Tricks schafften sie es, das Denken ihrer Testpersonen auf eine hohe beziehungsweise niedere Ebene zu verlagern. Zum Beispiel sollten einige Versuchsteilnehmer darüber nachdenken, warum Menschen etwas taten, und andere, wie sie es taten. Die Frage »warum« ist auf die Zukunft und eine höhere Ebene gerichtet, die Frage »wie« dagegen auf die Gegenwart und eine niedrigere Ebene. Alternativ brachten sie die Teilnehmer dazu, abstrakter beziehungsweise konkreter zu denken.

Diese Manipulation des Denkens hat an sich noch nichts mit der Selbstdisziplin zu tun. Trotzdem ergab sich ein erstaunlich eindeutiger Zusammenhang: Je höher oder abstrakter die Teilnehmer dachten, desto selbstbeherrschter waren sie: Sie verzichteten auf eine kurzfristige Belohnung und drückten den Handmuskeltrainer mit größerer Ausdauer. Enges, konkretes und gegenwartsbezogenes Denken beeinträchtigt die Selbstdisziplin, breites, abstraktes und zukunftsbezogenes Denken fördert sie dagegen. Deshalb beherrschen sich religiöse Menschen besser und deshalb profitieren Nichtgläubige wie Stanley von einer Tugendethik mit hochfliegenden Idealen. Stanley verband seinen persönlichen Ehrgeiz immer mit einem Bedürfnis, »ein guter Mensch« zu sein, wie es seine imaginäre Mutter auf dem Sterbebett von ihm verlangt hatte. Wie Livingstone fand er seine Berufung, als er Zeuge der Verheerungen wurde, die arabische und ostafrikanische Sklavenhändler anrichteten. Von da an sah er es als seinen Auftrag an, dem Sklavenhandel ein Ende zu bereiten.

Was Stanley letztlich half, den Urwald und die Ablehnung durch seine Familie, seine Verlobte und das britische Establishment zu ertragen, war sein Glaube an seine »heilige Aufgabe«. So pathetisch das in unseren Ohren klingen mag, ihm war es ernst damit. »Ich wurde nicht auf die Welt gesandt, um glücklich zu sein«, schrieb er. »Ich wurde gesandt, um besondere Aufgaben zu übernehmen.« Während seiner Fahrt auf dem Kongo schrieb er sich selbst Ermahnungen wie »Ich hasse das Böse und liebe das Gute«. Am Tiefpunkt der Fahrt, nachdem zwei seiner engsten Vertrauten ertrunken waren, er selbst dem Hungertod nahe schien und es nicht so aussah, als würden sie je wieder etwas zu essen finden, tröstete er sich mit den erhabensten Gedanken, die ihm in diesem Moment einfielen:

 

Mein armer Körper hat furchtbar gelitten. Er ist erniedrigt, getreten, müde, krank und beinahe unter seiner Bürde zusammengebrochen. Aber dies ist nur ein kleiner Teil dessen, was ich bin. Mein wahres Ich liegt verborgen im Dunkeln und war stets zu erhaben und groß für diesen elenden Körper, der es täglich behinderte.

 

Gab Stanley in diesem Moment der Verzweiflung der Religion nach und stellte sich vor, dass er vielleicht doch so etwas wie eine unsterbliche Seele haben könnte? Vielleicht. Aber vor dem Hintergrund seines lebenslangen Kampfes und der Strategien, die er entwickelt hatte, um seine Kräfte in der Wildnis zu erhalten, hatte er vermutlich etwas Weltlicheres im Sinn. Sein »wahres Ich«, wie Bula Matari es sah, war sein Wille.