KAPITEL 10 

QUÄLEN SIE SICH NICHT 

Es ist schwierig,

mit dem Bauch zu diskutieren,

denn der Bauch hat keine Ohren.

 

Plutarch

 

Wie konnte ich das nur zulassen?

 

Oprah Winfrey

In wohlhabenden Ländern gibt es kaum etwas, das so universell begehrenswert erscheint wie ein flacher Bauch. Aber je mehr Geld wir verdienen und je mehr wir davon der Diätbranche zahlen, umso unerreichbarer scheint dieses Ideal. Abnehmen ist der beliebteste Neujahrsvorsatz, Jahr für Jahr, Diät für abgebrochene Diät. Langfristig erweist sich die überwiegende Mehrzahl aller Diäten als Flop. Deshalb werden wir Ihnen nicht versprechen, dass Sie für den Rest Ihres Lebens schlank bleiben werden. Aber wir können Ihnen verraten, mit welchen Techniken Sie am ehesten abnehmen, und wollen gleich mit ein paar guten Nachrichten beginnen. Wenn Sie ein ehrliches Interesse daran haben, Ihr Gewicht zu kontrollieren, dann benötigen Sie die Disziplin, die folgenden drei Regeln zu beherzigen:

  1. Machen Sie nie eine Diät.

  2. Versprechen Sie nie, dass Sie in Zukunft auf Schokolade oder irgendein anderes Lebensmittel verzichten werden.

  3. Egal ob es um andere geht oder um Sie selbst: Machen Sie nie den Fehler, Übergewicht mit Willensschwäche gleichzusetzen.

Auch wenn es Ihnen nicht gelungen ist, die fünf Kilo abzuspecken, die sie loswerden wollten, dann bedeutet das noch lange nicht, dass Sie jetzt eine Diät machen oder allen Süßigkeiten abschwören müssen. Vor allem sollten Sie nicht den Glauben verlieren, dass Sie in der Lage sind, andere Dinge zu erreichen, denn Übergewicht hat nichts mit Willensschwäche zu tun, wie viele Menschen meinen. Wenn Sie Ihre Zeitgenossen fragen, wofür sie ihre Selbstdisziplin aufwenden, dann antworten die meisten vermutlich: um Diät zu halten. Davon gingen auch die meisten Experten jahrzehntelang aus. Wenn Wissenschaftler auf Fachtagungen oder in wissenschaftlichen Artikeln ein Beispiel für Probleme mit der Selbstdisziplin suchen, dann verweisen sie nach wie vor gern auf Diäten.

Unlängst haben Wissenschaftler jedoch festgestellt, dass es keinen direkten Zusammenhang zwischen Selbstdisziplin und Abnehmen gibt. Stattdessen fanden sie etwas, das man zu Ehren der ungekrönten Diät-Königin als Oprah-Paradox165 bezeichnen könnte. Nachdem Oprah Winfrey ihre Fernsehlaufbahn als Nachrichtensprecherin begonnen hatte, legte sie von 56 auf 63 Kilogramm zu. Sie suchte einen Ernährungsexperten auf, der sie auf eine Diät von 1 200 Kalorien pro Tag setzte. Damit speckte sie in der ersten Woche 3 Kilo ab und innerhalb eines Monats war sie wieder auf 56 Kilogramm. Aber allmählich legte sie die verlorenen Pfunde wieder zu. Als sie bei 96 Kilogramm angekommen war, ernährte sie sich vier Monate lang nur von Flüssignahrung und kam damit wieder bis auf 65 Kilogramm. Doch ein paar Jahre später brachte sie mehr denn je auf die Waage, nämlich 107 Kilogramm. Damals füllte sie ihr Tagebuch mit Gebeten, Gott möge ihr doch beim Abnehmen helfen. Als sie für den Emmy nominiert wurde, betete sie, ihr Konkurrent Phil Donahue möge gewinnen, weil sie sich auf diese Weise »die Peinlichkeit ersparte, meinen fetten Hintern aus dem Sitz schälen und den Gang hinunter auf die Bühne watscheln zu müssen«, wie sie sich später erinnerte. Sie hatte längst alle Hoffnung aufgegeben, als sie den Coach Bob Greene kennen lernte, der ihr Leben genauso radikal verändern sollte wie sie seines.

Greene schrieb Bestseller mit Trainingsroutinen und Rezepten, die er bei Oprah Winfrey anwendete, und verkaufte seine eigene Produktlinie Best Life. Unter der Anleitung von Greene, ihrem persönlichen Koch (der seine eigenen Bestseller schrieb), Ernährungsfachleuten, Ärzten und anderen Experten aus ihrer Sendung stellte Winfrey ihre Ernährung, ihr Sportprogramm und ihr ganzes Leben um. Sie erstellte Wochenpläne mit sämtlichen Mahlzeiten, in denen sie genau aufführte, wann sie Thunfisch aß, wann Lachs und wann Salat. Ihre Assistenten planten ihren Tagesablauf um ihre Mahlzeiten und Fitnessprogramme herum. Sie erhielt emotionale Unterstützung von Freundinnen wie der New-Age-Autorin Marianne Williamson, mit der sie sich über das Verhältnis von Körpergewicht und Liebe austauschte.

Das Ergebnis präsentierte sie im Jahr 2005 auf dem Cover ihrer Zeitschrift: eine strahlende, schlanke Frau von 72 Kilogramm (trotz dieses Triumphs war sie allerdings immer noch fast 10 Kilogramm schwerer als zu Beginn ihrer ersten Diät). Mit ihrer Erfolgsgeschichte begeisterte sie ihre Fans und den Anthropologen George Armelagos von der Emory University. Dieser nutzte ihr Beispiel, um einen historischen Wandel zu beschreiben, den er als Heinrich-VIII.-und-Oprah-Winfrey-Effekt166 bezeichnete. Im 16. Jahrhunderts war es gar nicht einfach, einen derartigen Bauchumfang zu erwerben und zu halten wie der englische König Heinrich VIII. Mit seiner Diät beschäftigte er Hundertschaften von Bauern, Gärtnern, Fischern, Jägern, Metzgern, Köchen und anderen Dienern. Aber heute wird selbst das Fußvolk problemlos so dick wie Heinrich VIII. – tatsächlich leiden arme Menschen tendenziell eher an Übergewicht als die Angehörigen der herrschenden Klassen. Ein schlanker Körper ist ein Statussymbol, weil es den meisten Menschen so schwerfällt, ihn zu erhalten, wenn sie nicht gerade mit den richtigen Genen gesegnet sind. Um schlank zu bleiben, sind heute die Ressourcen einer Oprah Winfrey und eine Schar neuer Vasallen – Coaches, Köche, Ernährungsberater, Psychologen und Assistenten – erforderlich.

Doch selbst deren Unterstützung ist kein Erfolgsgarant, wie die Zuschauer von Oprah beobachten konnten und wie Winfrey selbst in einem erfrischend offenen Artikel vier Jahre nach ihrer triumphalen Cover-Story einräumte. Diesmal zeigte das Titelblatt die alte Oprah mit 72 Kilogramm neben der neuen mit 90 Kilogramm. »Ich bin sauer auf mich«, gestand sie ihren Leserinnen. »Ich schäme mich. Ich kann es einfach nicht glauben, dass ich mir nach all den Jahren und all den Dingen, die ich gelernt habe, immer noch Gedanken über mein Gewicht machen muss. Ich schaue mein schlankes Ich an und frage mich: ›Wie konnte ich das nur zulassen?‹« Sie suchte die Erklärung in einer Mischung aus Überarbeitung und gesundheitlichen Problemen, die möglicherweise beide ihren Willen schwächten. Aber Oprah Winfrey ist offensichtlich eine ausgesprochen disziplinierte Frau. Ohne ihre Selbstdisziplin wäre sie nie so erfolgreich geworden, wie sie es ist. Sie besitzt einen außergewöhnlichen Willen, erstklassige professionelle Unterstützung, einen Kader von aufopfernden Betreuern, nicht zu vergessen den Druck, jeden Tag vor Millionen von Menschen aufzutreten, die jedes zusätzliche Gramm an ihrem Körper genau registrierten. Doch trotz aller Kraft, Motivation und Ressourcen war sie nicht in der Lage gewesen, ihr Gewicht zu halten.

Deshalb nennen wir es das Oprah-Paradox: Selbst ungewöhnlich disziplinierte Menschen haben gelegentlich Probleme, ihr Gewicht zu halten. Dank ihres Willens sind sie in vielen Bereichen erfolgreich – in der Schule und im Beruf genauso wie in persönlichen Beziehungen oder auf dem Gebiet der Emotionen –, aber wenn es um die Gewichtskontrolle geht, stehen sie vor denselben Schwierigkeiten wie alle anderen Menschen. Zusammen mit einigen Kollegen aus den Niederlanden wertete Baumeister Dutzende von Untersuchungen über Menschen mit großer Selbstdisziplin aus und stellte fest, dass diese ihr Gewicht nur unwesentlich besser kontrollierten als der Rest der Bevölkerung. Dieses Muster bestätigte sich in einer Untersuchung über übergewichtige Studenten167, die Baumeister zusammen mit Joyce Ehrlinger, Will Crescioni und Kollegen von der Florida State University durchführte. Studenten, die in Persönlichkeitstests mehr Disziplin aufwiesen, besaßen eine etwas bessere Ausgangsposition, weil sie durchschnittlich weniger Übergewicht hatten und regelmäßiger Sport trieben als andere, und dieser Vorteil wurde im Laufe des dreimonatigen Programms größer, weil sie sich eher an die Ernährungs- und Fitnessregeln hielten. Doch obwohl ihnen ihre Selbstdisziplin bei der Gewichtskontrolle half, fiel der Unterschied gering aus, sowohl zu Beginn der Untersuchung als auch an deren Ende. Disziplin war zwar hilfreich, aber nur bis zu einem gewissen Punkt.

Hätten die Wissenschaftler die Teilnehmer nach dem Ende des Programms weiter beoabachtet, hätten sie vermutlich festgestellt, dass viele die abgespeckten Pfunde gleich wieder draufgefuttert hatten, genau wie Oprah Winfrey und zahllose andere vor und nach ihr. Ihre Selbstdisziplin half ihnen vermutlich, ihr Fitnessprogramm zu absolvieren, aber Sport allein reicht nicht aus, um abzunehmen.168 Es klingt zwar logisch, dass der Körper Kalorien verbrennt und deshalb abspeckt, aber Wissenschaftler haben nachgewiesen, dass der Körper nur mit Hunger reagiert, weshalb zusätzlicher Sport nicht unbedingt dazu führt, dass wir langfristig abnehmen. (Trotzdem ist Sport aus allen möglichen anderen Gründen natürlich sehr zu empfehlen.) Egal ob Sie diszipliniert sind, Sport treiben oder Diät halten oder nicht – die Chancen, dass Sie dauerhaft abnehmen, stehen denkbar schlecht.

Das liegt unter anderem an unserer Biologie. Wenn Sie Ihren Willen aktivieren, um Ihren Eingangsordner abzuarbeiten, einen Bericht zu schreiben oder zu joggen, hat Ihr Körper damit wenig zu tun. Er wird nicht physisch bedroht, wenn Sie sich dazu durchringen, Ihre Rechnungen zu bezahlen statt fernzusehen. Es ist ihm egal, ob Sie einen Bericht schreiben oder im Internet surfen. Ihr Körper schickt Ihnen zwar Schmerzsignale, wenn Sie es mit dem Sport übertreiben, aber er empfindet Joggen nicht als Existenzbedrohung. Anders die Diät. Wie die junge Oprah Winfrey feststellte, macht der Körper ein oder zwei Diäten mit, doch dann setzt er sich zur Wehr. Wenn übergewichtige Laborratten zum ersten Mal auf Diät gesetzt werden, nehmen sie ab. Aber wenn sie danach wieder nach Belieben fressen dürfen, nehmen sie allmählich wieder zu. Und werden sie ein weiteres Mal auf Diät gesetzt, brauchen sie diesmal länger, um abzuspecken. Wenn sie das Spiel drei- oder viermal mitgemacht haben, funktioniert die Diät nicht mehr: Sie nehmen nicht mehr ab, obwohl sie weniger Kalorien zu sich nehmen.169

Die Evolution begünstigte Menschen, die eine Hungersnot überleben konnten, und wenn der Körper einmal erlebt hat, was es bedeutet, nicht genug zu essen bekommen, dann lernt er, um jedes Pfund zu kämpfen. Wenn Sie eine Diät machen, nimmt Ihr Körper an, dass es sich um eine Hungersnot handelt, und klammert sich an jede Fettzelle. Sie sollten sich die Fähigkeit, in einer einmaligen Aktion drastisch an Gewicht zu verlieren, gut aufheben – vielleicht benötigen Sie sie später einmal, wenn Ihre Gesundheit oder Ihr Überleben davon abhängt, dass Sie rasch ein paar Kilos loswerden können.

Statt schnell abzunehmen, sind Sie besser beraten, mit Hilfe Ihrer Selbstdisziplin allmähliche und dafür dauerhafte Veränderungen herbeizuführen. Vor allem müssen Sie Ihre Strategien sorgfältig auswählen, denn bei jedem Schritt des Prozesses stehen Sie vor gewaltigen Herausforderungen: angefangen von der Zielsetzung über die Selbstbeobachtung bis zur Stärkung Ihrer Willenskraft. Die Kuchentheke ist schließlich keine alltägliche Herausforderung – sie ist eher so etwas wie ein Wirbelsturm.

Der erste Schritt zur Selbstdisziplinierung sind realistische Ziele. Wenn Sie abnehmen wollen, können Sie in den Spiegel sehen, sich wiegen und einen vernünftigen Plan aufstellen. Das ist eine sinnvolle Strategie, doch die wenigsten Menschen gehen so vor. Die meisten setzen sich vollkommen unrealistische Ziele, weshalb der englische Buchmacher William Hill anbietet, gegen jeden zu wetten, der abnehmen will. Die Wettagentur bietet Gewinnchancen von bis zu 50 zu 1 und lässt die Teilnehmer selbst festlegen, wie viel sie über welchen Zeitraum abnehmen wollen. Es klingt verrückt, dass ein Buchmacher die Teilnehmer nicht nur die Bedingungen, sondern sogar das Ergebnis bestimmen lässt – das wäre so, als würde ein Läufer darauf wetten, eine Zeit zu unterbieten, die er selbst vorgibt. Trotzdem, und obwohl die Gewinner bis zu 5 000 Euro gewinnen konnten, verlieren 80 Prozent der Teilnehmer.

Vor allem Frauen verlieren diese Wetten170, was angesichts der unrealistischen Ziele, die sich viele setzen, nicht weiter verwunderlich ist. Sie schauen in den Spiegel und haben einen unmöglichen Traum: einen kurvenreichen171 Körper mit dem vermeintlichen Idealmaß von 90-60-90 – mit anderen Worten eine genetische Anomalie oder das Produkt einer Schönheitsoperation.

Angesichts dieses Ideals ist es kein Wunder, wenn sich so viele Menschen unmögliche Ziele setzen. Wenn Sie Ihr Spiegelbild hassen, müssen Sie schon sehr diszipliniert sein, um nicht gleich eine Hungerkur zu machen. Um sich zu bremsen, sollten Sie sich daran erinnern, dass eine Diät in der Regel zunächst wirkt, aber langfristig zum Scheitern verurteilt ist.172 Um das zu verstehen, wollen wir uns zunächst ein sonderbares Phänomen ansehen, dass wir nach dem Verzehr von Milchshakes im Labor beobachtet haben.

Der Scheißegal-Effekt

Die Versuchspersonen kamen hungrig ins Labor, denn sie hatten einige Stunden vor dem Experiment keine Nahrung mehr zu sich genommen. Eine Gruppe bekam nichts zu essen, eine zweite einen kleinen Milchshake und eine dritte zwei riesige Milchshakes, nach denen sich jeder normale Mensch pappsatt gefühlt hätte. Dann sollten sich die Teilnehmer als Lebensmitteltester betätigen.

Das war natürlich ein Trick. Wenn Versuchsteilnehmer wissen, dass sie im Rahmen einer Studie zu ihrem Essverhalten beim Essen beobachtet werden, verlieren sie plötzlich den Appetit und verwandeln sich in Vorbilder der Enthaltsamkeit. Deshalb taten die Wissenschaftler so, als interessierten sie sich nur für das Geschmacksurteil, setzten die Teilnehmer in abgeschirmte Kabinen, stellten ihnen Schüsseln mit Plätzchen vor die Nase und gaben ihnen einen Fragebogen. Die Teilnehmer konnten so viel essen, wie sie wollten, und selbst wenn sie alles aufaßen, konnten sie sich immer noch einreden, dass sie das Gebäck einfach besonders gründlich testeten. Sie wussten nicht, dass sich niemand für ihr Geschmacksurteil interessierte, sondern nur dafür, wie viele Plätzchen sie aßen, welchen Einfluss der Milchshake hatte und wie sich diejenigen Teilnehmer verhielten, die zum Zeitpunkt des Tests Diät hielten.

Wer nicht auf Diät war, reagierte wie vorherzusehen. Wer gerade zwei riesige Milchshakes getrunken hatte, knabberte ein wenig an den Plätzchen und füllte den Fragebogen schnell aus. Wer nur einen kleinen Milchshake getrunken hatte, aß mehr, und wer hungrig in die Kabine kam, futterte die Schüsselchen fast leer. So weit, so gut.

Jedoch reagierten diejenigen Teilnehmer, die Diät hielten, auf genau umgekehrte Weise. Wer gerade zwei riesige Milchshakes getrunken hatte, aß mehr Plätzchen als jemand, der seit Stunden nichts gegessen hatte. Das Ergebnis erstaunte die Wissenschaftler unter der Leitung von Peter Herman. Ungläubig führten sie weitere Experimente durch, doch die Ergebnisse waren dieselben. Allmählich begannen sie zu verstehen, warum sich selbst Menschen, die ihre Ernährung streng kontrollieren, mit einem Mal nicht mehr beherrschen können.

Die Forscher tauften das Phänomen »gegenregulierende Nahrungsaufnahme« – untereinander sprachen sie weniger formell ganz einfach vom »Scheißegal-Effekt«173. Wer Diät hält, hat jeden Tag ein festes Kalorienziel vor Augen, und wer diese Latte unerwartet reißt, wie im Experiment durch die beiden Milchshakes, hat das Gefühl, die Diät für diesen Tag in den Sand gesetzt zu haben. Der Tag wird innerlich abgehakt, egal was sonst noch passiert. Erst morgen lässt sich die Diät wieder aufnehmen. Also denken die Betroffenen: »Scheißegal, dann kann ich mir ja heute den Bauch vollschlagen« – und mit der folgenden Fressorgie legen sie mehr Kalorien zu als mit dem ursprünglichen Ausrutscher. Das ist natürlich vollkommen irrational, und die Betroffenen scheinen sich nicht bewusst zu sein, welchen Schaden sie mit dieser Völlerei anrichten.

Dies zeigte ein Nachfolgeexperiment, das Hermans Kollegin Janet Polivy durchführte. Wieder kamen die Testpersonen hungrig ins Labor, und wieder wurde einigen der Teilnehmer, die Diät hielten, eine Portion vorgesetzt, mit der sie ihre tägliche Kalorienration sprengten. Zum Abschluss bekamen alle Teilnehmer geviertelte Sandwiches. Danach wurden alle unvorbereitet gefragt, wie viele Viertel sie verzehrt hatten.

Den meisten Teilnehmern fiel es nicht schwer, diese Frage zu beantworten – sie hatten ja gerade erst gegessen und wussten, wie viele Stücke sie zu sich genommen hatten. Nur eine Gruppe war erstaunlich ahnungslos: diejenigen Teilnehmer, die Diät hielten und die erlaubte Kalorienmenge überschritten hatten. Einige schätzten die Zahl zu niedrig, andere zu hoch, und alle lagen deutlich weiter daneben als die anderen, die noch innerhalb ihres Kalorienlimits lagen oder keine Diät hielten. Solange die Diät für diesen Tag noch nicht überschritten war, beobachteten die Diäthaltenden ihre Kalorienaufnahme. Sobald sie die Diät gebrochen hatten174, erlagen sie dem Scheißegal-Effekt, schlossen ihre Augen und aßen weiter.

Wie wir wissen, ist die Selbstbeobachtung nach der Zielsetzung der wichtigste Aspekt der Selbstdisziplin – aber wie kann sich jemand selbst überwachen, der nicht mehr auf seinen Teller schaut? Alternativen könnten sie darauf achten, wenn der Körper signalisiert, dass er satt ist. Aber wenn wir auf Diät sind, versagt auch diese Strategie.

Die Zwickmühle der Diät

Wir Menschen verfügen über die angeborene Fähigkeit, genau die richtige Menge an Nahrung zu uns zu nehmen. Wenn ein Neugeborenes Nahrung benötigt, verspürt es Hunger. Wenn der Körper genug Nahrung zu sich genommen hat, will das Baby nichts mehr essen. Leider schwächt sich diese Fähigkeit etwa mit der Einschulung ab, und einige Menschen verlieren sie fast völlig – vor allem diejenigen, die sie am dringendsten benötigen. Wissenschaftler rätseln seit Jahrzehnten, warum dem so ist, und führten in den sechziger Jahren Experimente durch, mit denen die Essforschung revolutioniert wurde.

In einer Versuchsanordnung brachten Wissenschaftler eine manipulierte Uhr175 an der Wand eines Raums an, in dem Testpersonen Stapel von Fragebögen ausfüllen sollten. Süßigkeiten wurden bereitgestellt, von denen die Testpersonen so viel essen konnten, wie sie wollten. Wurde die Uhr beschleunigt, aßen die übergewichtigen Teilnehmer mehr als andere, denn die Uhr signalisierte ihnen, dass die Mittagessenszeit näher rückte und sie daher hungrig sein müssten. Statt auf die Signale ihres Körpers zu hören, richteten sie sich nach der Uhr. In einem anderen Experiment reichten die Wissenschaftler mal geschälte, mal ungeschälte Erdnüsse. Bei normalgewichtigen Versuchspersonen schien der Unterschied keine Rolle zu spielen, sie aßen in beiden Fällen etwa die gleiche Menge an Erdnüssen. Übergewichtige Teilnehmer aßen dagegen mehr Erdnüsse, wenn sie diese erst schälen mussten – offenbar stellten sie in dieser Form eine größere Verlockung dar. Wieder reagierten übergewichtige Teilnehmer vor allem auf äußere Signale. Daher zogen die Wissenschaftler zunächst den Schluss, dass sie deshalb übergewichtig seien, weil sie die Signale des Körpers ignorierten.

Die Theorie klang vernünftig, aber irgendwann stellten die Wissenschaftler fest, dass sie Ursache und Wirkung verwechselt hatten. Es funktionierte genau andersherum: Aufgrund ihres Übergewichtes hielten diese Menschen eher Diät, und diese Diät sorgte wiederum dafür, dass sie sich eher auf äußere als auf innere Signale verließen. Denn was ist eine Diät anderes als eine Reihe äußerlicher Regeln? Wer Diät hält, richtet sich nach einem Plan, nicht nach seinem Hungergefühl. Diät zu halten bedeutet, oft Hunger zu haben (auch wenn die Werbung das Gegenteil suggeriert).

Genauer gesagt bedeutet eine Diät, nicht zu essen, wenn Sie Hunger haben, und das Hungergefühl am besten zu unterdrücken. Das heißt vor allem, das Startsignal des Essens zu unterdrücken, aber da Start und Stopp zusammenhängen, verlieren Sie auch den Kontakt zum Stopp-Signal, vor allem wenn die Diät genaue Mengenvorgaben beinhaltet. Sie essen nach Regeln, was hervorragend funktioniert, solange Sie sich an sie halten. Aber sobald Sie die Regeln brechen – und das passiert unweigerlich früher oder später –, verlieren Sie die Orientierung. Deshalb essen Menschen, die Diät halten oder übergewichtig sind, nach zwei riesigen Milchshakes nicht nur weiter, sondern sie essen mehr. Ihre Mägen sind voll, aber sie fühlen sich nicht satt. Sie verfügen nur über diese eine klare Regel, und wenn sie die erst einmal gebrochen haben, gibt es kein Halten mehr.

Nun könnten Sie einwenden, dass sich daraus nur eine Lektion ziehen lässt: Wer eine Diät macht, sollte nicht an Experimenten mit Milchshakes teilnehmen. Wären die Teilnehmer nicht ins Labor gegangen und hätten dort diese Kalorienbomben zu sich genommen, dann hätten sie ihre Diät nicht gebrochen. Wenn sie sich immer an die Regeln halten und nie ihr Tageslimit überschreiten, würden sie nie dem Scheißegal-Effekt zum Opfer fallen. Sie hätten zwar Hunger, aber sie würden nie in eine Fressorgie verfallen, solange sie den Willen haben, sich an die Regeln zu halten.

Das klingt ganz vernünftig, bis man den Willen der Diäthalter mit Kinofilmen, Eis und M&Ms auf die Probe stellt, wie dies Kathleen Vohs und Todd Heatherton taten. Die Psychologen rekrutierten junge Frauen, durchweg chronische Diäthalterinnen, und drückten kräftig auf ihre Tränendrüsen, indem sie ihnen eine besonders schmalzige Szene aus dem Film Zeit der Zärtlichkeit zeigten. Die Hälfte der Testpersonen sollte ihre emotionalen Reaktionen unterdrücken, die andere durfte ihren Gefühlen freien Lauf lassen. Danach sollten sie einen Fragebogen zu ihrem Gemütszustand ausfüllen und schließlich eine scheinbar nicht damit zusammenhängende Aufgabe lösen und den Geschmack verschiedener Eiscremes bewerten. Die Wissenschaftler setzten den Testpersonen das Eis in unterschiedlich großen und nicht ganz gefüllten Behältern vor, um ihnen den Eindruck zu vermitteln, dass niemand mitbekommen würde, wie viel Eis sie aßen.

Natürlich wurden die Behälter vorher und nachher genauestens gewogen. Dabei stellten die Wissenschaftler keinen Zusammenhang zwischen der Stimmung der Teilnehmerinnen und der verzehrten Eismenge fest. Das Entscheidende war ihr Wille: Frauen, die während des Films ihre Emotionen unterdrücken mussten, fiel es schwerer, ihren Appetit zu zügeln. Nachdem sie ihre Willenskraft schon während des Films geschwächt hatten, aßen sie rund 50 Prozent mehr Eis als die Frauen, die während des Films nach Herzenslust weinen durften. Essen und Diäthalten werden also von Dingen beeinflusst, die scheinbar nichts mit ihnen zu tun haben. Wenn Ihre Willenskraft geschwächt wird, weil Sie während eines Films Ihre Tränen zurückhalten mussten, schlagen Sie sich später in einem scheinbar völlig anderen Kontext eher den Bauch voll.

In einem anderen Test wurden junge Frauen auf Diät mit einer vollen Schüssel M&Ms in Versuchung geführt, während sie einen Tierfilm über Schafe sahen (der nicht auf die Tränendrüsen drückte). Einige der Frauen hatten die Schüssel direkt vor die Nase, weshalb sie dauernd der Versuchung widerstehen mussten; die übrigen mussten aufstehen und den Raum durchqueren, um an die Süßigkeiten zu kommen. Später, in einem anderen Raum, in dem kein Essen in Sicht war, sollten die Frauen unlösbare logische Aufgaben bearbeiten, mit denen im Labor oft die Selbstdisziplin gemessen wird. Solche Teilnehmerinnen, die direkt vor den Süßigkeiten gesessen hatten, warfen eher das Handtuch als die anderen, was bedeutet, dass ihr Wille geschwächt worden war, weil sie der Versuchung hatten widerstehen müssen. Wenn Sie Diät halten und Ihre Selbstdisziplin wahren wollen, sollten Sie also die Nähe zu Süßigkeiten vermeiden. Selbst wenn Sie dieser Versuchung widerstehen, wird Ihre Willenskraft geschwächt, weshalb Sie der nächsten Versuchung umso eher erliegen.

Es gibt jedoch noch eine weitere Möglichkeit, das Problem zu vermeiden, wie ein drittes Experiment mit jungen Frauen und Essen beweist. Diesmal führten Vohs und Heatherton ihr Experiment auch mit einer Kontrollgruppe von Frauen durch, die keine Diät hielten, und die Unterschiede waren bemerkenswert. Diese Frauen konnten neben verschiedenen Süßigkeiten sitzen, ohne ihre Willenskraft aufbieten zu müssen. Einige aßen davon, andere nicht, aber sie mussten sich nicht anstrengen, um der Versuchung zu widerstehen, und sie gingen relativ frisch an die nachfolgenden Aufgaben. Die Frauen, die Diät hielten, schwächten dagegen ihren Willen, weil sie mit der Versuchung rangen. Dasselbe passiert Diäthaltenden, die auf einer Party vor einem üppigen Buffet stehen: Eine Weile widerstehen sie, aber jeder Akt des Widerstands schwächt ihre Willenskraft. Und während ihre Willenskraft immer schwächer wird, kommt es zu einer weiteren und besonders ärgerlichen Herausforderung. Um der Versuchung weiterhin widerstehen zu können, müssen sie ihre verlorene Willenskraft wiederherstellen. Aber dazu benötigt der Körper Glukose. Sie befinden sich in einer Zwickmühle:

  1. Um dem Essen zu widerstehen, benötigen sie Willenskraft.

  2. Um Willenskraft zu haben, müssen sie essen.

Angesichts dieses Dilemmas sagt sich der eine oder die andere vermutlich, dass es besser sei, die Diät ein wenig zu lockern. Sie könnten sich einreden, dass es besser sei, ein bisschen zu essen, um das Gewissen zu beruhigen: »Ich musste die Diät brechen, um sie zu retten.« Aber sobald die Diät einmal gebrochen ist, tritt der Scheißegal-Effekt ein und die Völlerei beginnt.

Süßigkeiten sind besonders gefährlich, da die Selbstbeherrschung den Blutzuckerspiegel senkt. Wenn Sie je eine Diät gemacht haben, dann kennen Sie vielleicht dieses plötzliche Verlangen nach Schokolade oder Eis. Dabei handelt es sich jedoch nicht nur um unterdrückte Wünsche, die Sie verfolgen. Das Phänomen hat biologische Gründe: Der Körper »weiß«, dass er durch die Willensanstrengung Glukose verbrannt hat und dass Süßigkeiten den einfachsten Weg darstellen, wieder Zucker zuzuführen. Im Labor lösten Versuchspersonen Aufgaben, die nichts mit Essen oder Diäten zu tun hatten; danach hatten sie mehr Appetit auf Süßigkeiten als auf Salziges.176

Wenn das Bedürfnis überwältigend wird, können Sie verschiedene Strategien anwenden. Beispielsweise können Sie den Trick der aufgeschobenen Befriedigung anwenden und sich sagen, dass Sie später einen kleinen Nachtisch zu sich nehmen dürfen, wenn Ihnen dann noch danach gelüstet. (Diesen Trick stellen wir später vor.) Essen Sie inzwischen etwas anderes. Erinnern Sie sich daran, dass Ihr Körper Energie benötigt, weil er einen Teil durch die Selbstdisziplinierung verloren hat. Zwar verlangt er nach Süßem, aber das ist nur eine Möglichkeit, ihm Energie zuzuführen. Auch gesunde Ernährung liefert diese Energie. Danach sehnen Sie sich zwar gerade nicht, aber es wirkt trotzdem.

Erinnern Sie sich auch daran, dass Sie im geschwächten Zustand alles intensiver wahrnehmen als sonst, also auch Ihre Begierden. Eine Diät zehrt konstant an Ihrer Willenskraft, weshalb Sie dauernd geschwächt sind. Daher empfinden Sie alles besonders stark – leider auch Ihren Heißhunger. Das erklärt, warum viele Menschen auf Diät eine gewisse Stumpfheit gegenüber ihrem Körper und seinen Bedürfnissen entwickeln.

Aus dieser Zwickmühle gibt es keinen wundersamen Ausweg. Egal wie stark Ihr Wille ist, wenn Sie während Ihrer Diät lange genug neben der Kuchentheke sitzen und immer wieder Nein sagen, wird aus dem Nein irgendwann ein Ja. Meiden Sie am besten die Kuchentheke – oder besser noch, machen Sie erst gar keine Diät. Statt Ihre Willenskraft auf eine Hungerkur zu vergeuden, sollten Sie besser ausreichend Glukose zu sich nehmen, um Ihre Willenskraft zu bewahren und mit Hilfe dieser Selbstdisziplin langfristige Strategien verfolgen, die mehr versprechen.

Ihr Schlachtplan

Wenn Sie gut gegessen und ausreichend Glukose im Blut haben, können Sie sich mit klassischen Strategien der Selbstbeherrschung einen Schlachtplan zurechtlegen. Beginnen Sie mit der freiwilligen Selbstverpflichtung. Am wirkungsvollsten wäre natürlich ein Magenbypass, der Ihren Körper an der Nahrungsaufnahme hindert, aber es gibt natürlich auch humanere Formen. Zum Beispiel können Sie damit anfangen, alle Dickmacher aus Ihrer Sicht- und Reichweite zu verbannen: So sparen Sie Willenskraft und Kalorien. In einem Experiment aßen Büroangestellte ein Drittel weniger Süßigkeiten, wenn sie diese in einer Schublade und nicht auf dem Schreibtisch aufbewahrten.177 Wenn Sie verhindern wollen, dass Sie spätabends noch einmal an den Kühlschrank gehen, können Sie sich zum Beispiel gleich nach dem Abendessen die Zähne putzen; das hindert Sie zwar nicht daran, sich ein Betthupferl zu genehmigen, doch das Zähneputzen ist eine Angewohnheit, die wir mit dem Schlafengehen assoziieren und uns ein unbewusstes Signal gibt, dass danach nichts mehr gegessen wird. Auch auf einer bewussten Ebene werden die Kartoffelchips oder die Schokolade weniger attraktiv, denn vielleicht sind Sie zu faul, sich noch einmal die Zähne zu putzen.

Sie können auch kompliziertere Formen der Selbstverpflichtung wählen, etwa indem sie bei einem Buchmacher oder bei Internetanbietern wie fatbet.net oder stickK.com eine Wette abschließen, die Ihnen erlaubt, Ihre Ziele selbst festzulegen und Strafen einzuplanen. Eine harte Strafe, beispielsweise eine Spende von hundert oder tausend Euro für eine Organisation oder Partei, die Sie nicht ausstehen können, kann Sie motivieren. Aber erwarten Sie nicht, dass Geld Wunder wirkt, wenn Sie sich Unmögliches vornehmen. Ein realistisches Ziel wäre, 5 oder 10 Prozent Ihres Körpergewichts abzunehmen, doch darüber hinaus wird es schwierig. Die typischen Wetter bei William Hill wollen pro Woche anderthalb und insgesamt 35 Kilogramm abspecken – kein Wunder, dass sie ihre Wetten fast durch die Bank verlieren. Teilnehmer bei stickK.com schneiden deutlich besser ab, da die Seite nur Ziele von höchstens einem Kilo pro Woche und 18,5 Prozent des Körpergewichts zulässt.

Es ist durchaus möglich, durch eine drastische Umstellung der Ernährung schnell sehr viel Gewicht zu verlieren, aber was nützt Ihnen das, wenn die Diät zu streng ist, um sie dauerhaft durchzuhalten? Nehmen Sie sich besser kleinere Veränderungen vor, die Sie langfristig übernehmen können. Gestehen Sie sich Zeit zu, um Ihr Ziel zu erreichen, und lassen Sie nicht locker, denn die eigentliche Kunst besteht darin, die abgespeckten Pfunde nicht gleich wieder draufzufuttern. Wenn Sie zum Abnehmen ein System aus Strafen und Belohnungen verwenden, behalten sie es bei, um Ihr Gewicht weiterhin konstant zu halten.

Sie können es auch mit einer anderen Strategie versuchen, die Psychologen als »Umsetzungsplan«178 bezeichnen und die eine Möglichkeit darstellt, die Zeit und Energie zu minimieren, die Sie auf die Kontrolle Ihrer Gedanken verwenden. Statt einen generellen Plan zur Kalorienreduzierung aufzustellen, können Sie sich für spezifische Situationen automatische Reaktionen zurechtlegen. So können Sie sich etwa schon im Voraus überlegen, was Sie machen, wenn Sie auf einer Party von kalorienreichen Häppchen versucht werden. Der Umsetzungsplan sieht so aus: Wenn x passiert, dann tue ich y. Je mehr Verhaltensweisen Sie über solche automatisierten Prozesse kontrollieren, umso weniger Willenskraft vergeuden Sie. Das zeigt beispielsweise der klassische Stroop-Test, den wir im ersten Kapitel beschrieben haben. Wenn Sie das Wort »grün« in grüner Farbe geschrieben sehen, fällt es Ihnen nicht schwer, die Farbe der Tinte zu benennen, aber Sie brauchen länger, wenn das Wort »blau« in grüner Farbe gedruckt ist. Und Sie brauchen noch länger, wenn Ihr Wille vorher geschwächt wurde. Englische Wissenschaftler stellten jedoch fest, dass sich die Erschöpfung des Willens kompensieren lässt, wenn man sich entsprechend vorbereitet. Vor Beginn der Übung nahmen sich die Teilnehmer vor, nicht das ganze Wort anzuschauen, sondern nur den zweiten Buchstaben, um dessen Farbe zu identifizieren. Mit diesem Vorsatz automatisierten sie die Aufgabe, weshalb sie weniger Energie aufwenden mussten und sie selbst mit geschwächtem Willen gut lösten.

Ehe Sie auf eine Party gehen, können Sie beispielsweise einen einfachen Vorsatz fassen: Wenn es Kartoffelchips gibt, rühre ich sie nicht an. Oder: Wenn es ein Buffet gibt, esse ich nur Gemüse und mageres Fleisch. Das ist eine einfache, aber erstaunlich wirkungsvolle Möglichkeit der Selbstdisziplinierung. Wenn Sie die Entscheidung automatisieren, keine Kartoffelchips zu essen, können Sie sich auch noch spätabends daran halten, wenn Ihr Wille schwächer wird. Und da es sich um eine mühelose Übung handelt, können Sie auf die Kartoffelchips verzichten und haben immer noch genug Energie, um die nächste Versuchung abzuwehren.

Eine radikalere Variante der Selbstverpflichtung wäre es, die Party ausfallen zu lassen und sich kalorienärmere Freizeitangebote zu suchen – und schlankere Freunde. Was nicht heißen soll, dass Sie Ihren moppeligen Kumpel nicht mehr sehen dürfen – aber es besteht sehr wohl ein Zusammenhang zwischen Ihrem Gewicht und dem der Menschen in Ihrem Bekanntenkreis. Netzwerkforscher haben festgestellt, dass sich dick und dick genauso gern gesellt wie schlank und schlank.179 Dabei scheint gesellschaftliche Nähe eine größere Rolle zu spielen als räumliche Nähe: Sie nehmen eher zu, wenn Ihr Freund zunimmt, als wenn Ihr Nachbar zulegt. Es ist nicht einfach, Ursache und Wirkung auseinanderzuhalten, denn vermutlich suchen wir auch Menschen, die ähnliche Gewohnheiten pflegen wie wir. Aber genauso verstärken wir natürlich gegenseitig unsere Normen und Standards. Mitglieder von Weight Watchers180 nehmen unter anderem deshalb ab, weil sie mehr Zeit mit Menschen verbringen, die dasselbe Ziel verfolgen. Dieses Phänomen haben wir schon bei den Rauchern gesehen, die eher mit dem Rauchen aufhören, wenn Freunde und Verwandte mitziehen.

Der Gruppenzwang könnte eine Erklärung dafür sein, warum Menschen in Europa schlanker sind als in den Vereinigten Staaten: Sie halten sich an andere soziale Normen und essen zum Beispiel nur zu festen Essenszeiten. Wenn europäische Sozialwissenschaftler in die Vereinigten Staaten kommen, um in den Campus-Labors das Essverhalten zu studieren, sind sie regelmäßig verwundert, dass sie ihre Tests zu jeder beliebigen Uhrzeit durchführen können: Amerikanische Studenten essen immer und überall. In Ländern wie Frankreich oder Italien kann es jedoch schwierig werden, ein Restaurant zu finden, das außerhalb der Essenszeiten geöffnet ist. Diese sozialen Normen schaffen Gewohnheiten, die Willenskraft durch automatische mentale Prozesse ersetzen. Sie müssen keine bewusste Entscheidung treffen, ob Sie jetzt einen Imbiss zu sich nehmen oder nicht, sondern Sie können sich auf Ihren Umsetzungsplan verlassen: Es ist 16 Uhr, also esse ich nichts.

Mit Selbstkontrolle zur Selbstdisziplin

Wie oft sollten Sie sich auf die Waage stellen, wenn Sie abnehmen wollen? Viele Ernährungsberater empfehlen, sich nicht täglich zu wiegen, da das Gewicht schwankt und Sie an Tagen, an denen Sie aus unerfindlichen Gründen zunehmen, frustriert werden könnten.181 Wenn Sie Ihre Motivation erhalten wollen, so Experten, dann reiche es, wenn Sie sich einmal pro Woche wiegen. Dieser Rat überraschte Baumeister und andere Selbstregulationsexperten, hatten sie in ihrer Arbeit doch nachgewiesen, dass sorgfältige Kontrolle die Selbstdisziplin auf anderen Gebieten verbesserte. Daher führten sie eine langfristig angelegte Untersuchung unter Menschen durch, die abnehmen beziehungsweise nicht wieder zunehmen wollten. Einige der Teilnehmer wogen sich täglich, andere wöchentlich. Dabei stellte sich heraus, dass die Ernährungsberater irrten.

Wer sich täglich auf die Waage stellte, war bei der Gewichtskontrolle effektiver, verfiel seltener in Fressorgien und zeigte keine Anzeichen von Frustration angesichts der täglichen Konfrontation mit der Waage. Bei allen eigentümlichen Herausforderungen, die das Abspecken mit sich bringt, ist eine klassische Strategie noch immer die erfolgreichste: Je sorgfältiger und häufiger Sie sich kontrollieren, umso besser haben Sie sich im Griff. Wenn es Ihnen zu mühsam ist, jeden Tag Ihr Gewicht zu notieren, gibt es inzwischen Waagen, die das für Sie übernehmen. Einige Modelle senden die Tageswerte an Ihren Computer oder Ihr Smartphone, das Ihnen eine Tabelle erstellt.

Selbst einfache Formen der Kontrolle können sehr effektiv sein. Das erkannten Wissenschaftler, als sie einem sonderbaren Phänomen auf die Spur kamen: Warum nehmen Häftlinge zu? An der unwiderstehlichen Gefängniskost kann es jedenfalls nicht liegen, wenn männliche Häftlinge bei ihrer Entlassung dicker sind als bei ihrer Einweisung. Der Grund, so Brian Wansink von der Cornell University, ist die Tatsache, dass die Häftlinge keine Gürtel und keine enge Kleidung tragen. In ihren Overalls und weiten Hosen bemerken sie nicht, wenn der Bund zwackt oder sie ihren Gürtel um ein Loch weiter machen müssen.182

Aber Sie können nicht nur Ihren Körper beobachten, sondern auch das, was Sie ihm zuführen. Wenn Sie genauestens Buch darüber führen, was Sie essen, nehmen Sie vermutlich weniger Kalorien zu sich. In einer Untersuchung nahmen die Teilnehmer, die Tagebuch führten, doppelt so viel ab wie Kontrollgruppen, die andere Techniken verwendeten.183 Es hilft auch, wenn Sie im Auge behalten, wie viele Kalorien eine bestimmte Mahlzeit enthält, auch wenn das oft nicht ganz einfach ist. Selbst Menschen, die regelmäßig Diät halten, unterschätzen die Essensmenge auf dem Teller, vor allem bei größeren Portionen. Die Warnungen der Ernährungsexperten und die Tricks der Lebensmittelindustrie tragen wenig zur Aufklärung bei, Etiketten wie »fettarm« oder »organisch«184 erzeugen lediglich den Anschein von gesunder Ernährung.185 Tierney ging diesem Phänomen im ernährungsbewussten Stadtteil Park Slope, Brooklyn, nach und zeigte seinen Versuchspersonen ein Foto von einem Teller mit Geflügelsalat und einer Cola sowie ein zweites Foto, auf dem zusätzlich ein paar Cracker mit der gut lesbaren Aufschrift »frei von mehrfach gesättigten Fettsäuren« zu sehen waren. Die Befragten waren so gefesselt von der vermeintlichen Qualität der Cracker, dass sie die zweite Mahlzeit mit den Crackern für kalorienärmer einschätzten als die erste und identische ohne Cracker. Das Etikett verwandelte das Essen auf magische Weise in eine Diätmahlzeit. Andere Untersuchungen zeigen, dass Laien und Experten den Kaloriengehalt von Nahrungsmitteln mit der Aufschrift »fettarm« grundsätzlich unterschätzen und sich entsprechend größere Portionen einverleiben.

Um diese Probleme in den Griff zu bekommen, können Sie beispielsweise genauer auf die Kalorienangaben auf der Packung oder, so vorhanden, auf der Speisekarte achten. Inzwischen gibt es auch Smartphone-Apps, die Kalorien überwachen. Wenn keine Kalorienangabe vorhanden ist, können Sie zumindest versuchen, auf die Essensmenge auf Ihrem Teller zu achten, was die allerwenigsten tun. Viele Menschen sehen während des Essens fern oder unterhalten sich, und beides führt zu einer erhöhten Kalorienaufnahme. Wissenschaftler haben mehrfach nachgewiesen, dass wir vor dem Fernseher mehr essen, und zwar umso mehr, je interessanter der Film ist.186 Ein Untersuchungsergebnis zeigte, dass Frauen dreimal so viel aßen, wenn ihnen ein Film gefiel.

Auch beim Essen mit der Familie oder Freunden, wenn wir mehr auf die Gesellschaft und weniger auf unseren Teller achten, nehmen wir mehr zu uns.187 Kommen Wein und Bier dazu, passen wir noch weniger auf, da Alkohol die Selbstwahrnehmung und damit unsere Selbstbeobachtung einschränkt. Aber auch im nüchternen Zustand sind wir oft so unaufmerksam, dass wir unbeirrt von einem Teller essen, der dauernd (und heimlich) nachgefüllt wird. Dies zeigte Brian Wansink mit einem Experiment, in dem er Suppenteller mit versteckten Schläuchen nachfüllte: Die Versuchsteilnehmer löffelten brav immer weiter, weil sie einfach daran gewöhnt sind, alles zu essen, was man ihnen vorsetzt.188 Wenn Sie sich nicht durch Ihr Hungergefühl leiten lassen, sondern durch äußerliche Signale, dann sind Sie besonders anfällig, wenn Ihnen große Portionen vorgesetzt werden. Das passiert schnell, ohne dass Sie sich dessen bewusst werden: Wenn die Mahlzeit auf einem großen Teller serviert wird und die Getränke in weiten Gläsern, unterschätzen wir die Menge, weil wir generell ein schlechtes Gefühl für Volumen besitzen.189 Wenn in einem Kino die Popcorntüten nur in einer Dimension größer und zum Beispiel dreimal so hoch würden, dann würden Sie sofort erkennen, dass eine Tüte dreimal so viel Popcorn enthält. Aber wenn die Tüte nicht nur höher, sondern gleichzeitig breiter und dicker wird, dann kann sich das Volumen verdreifachen, ohne dass Sie es mitbekommen. Also bestellen Sie die große Tüte und futtern das Popcorn bis zum letzten Krümel. Sie haben zwar keinen Einfluss auf die Größe der Verpackungen und Teller in Kinos und Restaurants, aber zu Hause können Sie Ihre Portionen reduzieren, indem Sie kleine Teller und schmale Gläser verwenden.

Sie können Ihren Konsum auch reduzieren, wenn Sie sich nach dem Essen mit dem Abräumen Zeit lassen. In einem Experiment in einer Kneipe aßen die Besucher deutlich weniger Hähnchenflügel, wenn die Kellner die Teller mit den Knochen auf dem Tisch stehen ließen. An anderen Tischen, an denen die Kellner zügig abräumten, schienen die Besucher zu vergessen, wie viel sie bereits gegessen hatten, aber an den Tischen, an denen die Besucher den Beweis vor Augen hatten, war dies nicht möglich. Die Knochen übernahmen die Kontrolle für die Besucher.

Sag niemals nie

Das Ergebnis einer Diät ist in der Regel deprimierend, aber hin und wieder gibt es auch Ausnahmen. Deshalb haben wir uns die beste Nachricht für den Schluss aufgehoben. Sie stammt aus einem Nachtisch-Experiment, das Marketingexperten durchführten, um ein entscheidendes Problem der Selbstbeherrschung zu erforschen: Warum ist es so schwer, Nein zu sagen? Mark Twain brachte es in seinem Roman Tom Sawyer auf den Punkt: »Wenn man verspricht, etwas nicht zu tun, dann kann man ganz sicher sein, dass man genau das will.« Das ist einer der frustrierendsten Aspekte der menschlichen Psyche, doch Nicole Mead und Vanessa Patrick fanden Möglichkeiten, wie wir uns selbst austricksen können.

Die beiden Wissenschaftlerinnen begannen mit einem Gedankenexperiment, in dem sie den Teilnehmern Bilder von leckeren Törtchen und Eisbechern präsentierten. Die Versuchspersonen sollten sich vorstellen, dass diese Leckereien im Restaurant auf einem Dessertwagen an ihren Tisch gerollt werden. Einige sollten sich ausmalen, ihren Lieblingsnachtisch auszuwählen und zu essen. Der Rest stellte sich dagegen vor, auf den Nachtisch zu verzichten; die eine Hälfte dieser Gruppe sollte sich vorstellen, dass sie ganz verzichtete, die andere, dass sie den Genuss auf einen späteren Zeitpunkt aufschob.

Danach ermittelten die Wissenschaftlerinnen, wie oft die Gedanken der Teilnehmer später zum Nachtisch abschweiften. Sie wussten, dass wir aufgrund des Zeigarnik-Effekts immer wieder an nicht abgeschlossene Aufgaben denken müssen, weshalb sie annahmen, dass vor allem diejenigen Teilnehmer, die den Nachtisch aufgeschoben hatten, von Gedanken daran heimgesucht würden. Erstaunlicherweise wurden die Genuss-Aufschieber weniger von Gedanken an Süßes gequält als die beiden anderen Gruppen. Mead und Patrick waren davon ausgegangen, dass der Verzicht weniger Verlangen wecken würde, da das Gehirn den Fall für abgeschlossen hielt. Aber das Gegenteil trat ein: Der aufgeschobene Genuss suchte die Versuchspersonen weniger heim als der verbotene.190 Beim Nachtisch wollte das Gehirn offenbar kein Nein gelten lassen, zumindest nicht in diesem Experiment.

Was aber, wenn tatsächliches Essen auf dem Spiel stand? Um das herauszufinden, ließen die beiden Forscherinnen ihre Testpersonen einzeln einen Kurzfilm sehen und setzten ihnen dabei eine Schüssel M&Ms vor die Nase. Einige Teilnehmer sollten sich vorstellen, sie hätten sich entschieden, dass sie während des Films so viele davon essen konnten, wie sie wollten. Andere sollten sich vorstellen, dass sie gar keine Süßigkeiten essen wollten. Und die dritte Gruppe sollte sich vornehmen, die M&Ms nicht jetzt zu essen, sondern später. Die Anweisungen wirkten: Die Teilnehmer der ersten Gruppe aßen deutlich mehr als die der beiden anderen Gruppen. Nach dem Film sollten die Teilnehmer ein paar Fragebögen zur Qualität des Labors ausfüllen, danach war das Experiment nach Ansicht der Teilnehmer beendet.

Während die Teilnehmer den Fragebogen ausfüllten, reichten ihnen die Wissenschaftlerinnen scheinbar spontan die Schüssel mit den M&Ms und sagten: »Sie sind für heute die Letzte, die anderen sind schon alle weg, und die sind übrig. Bedienen Sie sich!« Dann verließen sie den Raum und ließen die Testperson mit dem Fragebogen und der Schüssel allein, offenbar ohne sich weiter dafür zu interessieren. Aber wie immer passierte nichts spontan und zufällig. Die Wissenschaftlerinnen hatten die Schüssel zuvor gewogen und wogen sie ein weiteres Mal, nachdem die Testperson gegangen war.

Als die Teilnehmer, die den Genuss aufgeschoben hatten, mit den M&Ms allein waren, hatten sie die Chance, ordentlich zuzuschlagen. Man sollte vermuten, dass sie die Süßigkeiten jetzt mit beiden Händen in sich hineinstopften, während die Teilnehmer, die verzichtet hatten, stark blieben und vielleicht ein paar davon aßen. Doch das genaue Gegenteil war der Fall. Teilnehmer, die den Genuss aufgeschoben hatten, aßen deutlich weniger als diejenigen, die ganz verzichtet hatten.

Das ist eine bemerkenswerte Erkenntnis. Wenn Sie sich sagen: »Das kann ich später essen«, funktioniert das in Ihrem Gehirn fast so, als würden Sie es schon jetzt essen. Es befriedigt das Bedürfnis bis zu einem gewissen Punkt und kann bei der Unterdrückung des Verlangens wirksamer sein als der tatsächliche Verzehr. Die Teilnehmer, die den Genuss aufgeschoben hatten, aßen beim Ausfüllen des Fragebogens sogar noch weniger als diejenigen, die während des Films nach Belieben zuschlagen durften. Der Effekt schien also nachzuwirken. Am Tag nach dem Experiment erhielten die Teilnehmer eine E-Mail mit der Frage: »Wenn Ihnen jetzt jemand M&Ms anbieten würde, wie viele würden Sie essen?« Die Teilnehmer, die den Genuss aufgeschoben hatten, verspürten weniger Verlangen als die Teilnehmer, die verzichtet hatten, oder diejenigen, die nach Herzenslust essen durften.

Wenn Willenskraft erforderlich ist, um einen Nachtisch auszuschlagen, dann fällt es Ihrem Gehirn offenbar leichter, »später« zu sagen als »nie«. Auf lange Sicht wollen Sie weniger und konsumieren weniger. Außerdem ist der Genuss größer, wie ein anderes Experiment ergab. Die Teilnehmer sollten angeben, wie viel es ihnen wert wäre, ihren Lieblingsstar jetzt zu küssen, und wie viel, wenn sie ihn in drei Tagen küssen durften. In der Regel zahlen wir mehr für sofortige Befriedigung, aber in diesem Fall waren die Teilnehmer bereit, für den aufgeschobenen Genuss mehr zu zahlen, weil sie die Erwartung drei Tage lang genießen konnten. Der aufgeschobene Genuss einer Crème brûlée oder eines Stücks Sachertorte gibt ihnen Gelegenheit, die Vorfreude zu genießen. Wenn Sie die Süßigkeit schließlich essen, verspüren Sie ein geringeres Bedürfnis, sich vollzustopfen, und mäßigen sich eher. Aber wenn Sie dem Nachtisch völlig abgeschworen haben und der Versuchung schließlich nachgeben, dann tritt der Scheißegal-Effekt ein und Sie schaufeln los.

Sagen Sie also niemals nie, wenn’s ums Essen geht. Und starren Sie nicht sehnsüchtig auf die verbotenen Kuchenstücke, wenn der Dessertwagen an Ihrem Tisch vorüberrollt. Sagen Sie sich einfach, dass Sie früher oder später alle probieren werden – nur nicht heute.