KAPITEL 2

DIE KRAFT DER WILLENSKRAFT

Ich kann nicht beurteilen, ob die Einnahme von Lebensmitteln mit Konservierungsstoffen oder hohem Zuckergehalt die Persönlichkeit eines Menschen verändern oder aggressives Verhalten provozieren kann. Deshalb will ich das hier auch gar nicht behaupten.

Es gibt allerdings eine kleine Gruppe von Psychiatern, die einen Zusammenhang sieht.

 

Schlussplädoyer der Verteidigung im Prozess gegen den »Junkfood-Mörder«, Dan White37

 

Ich habe furchtbare PMS, ich glaube,

ich bin einfach ein bisschen durchgedreht.

 

Melanie Griffith auf die Frage, warum sie die Scheidung eingereicht hatte, um sie sofort wieder zurückzuziehen38

Wenn die Willenskraft mehr als eine Metapher ist und hinter dieser Tugend tatsächlich eine Kraft steckt – woher stammt sie? Die Antwort ergab sich eher zufällig aus einem gescheiterten Experiment, welches durch Mardi Gras inspiriert wurde. Mardi Gras ist der Faschingsdienstag, der Tag vor Aschermittwoch, an dem die Menschen noch einmal ihren Gelüsten freien Lauf lassen können, ehe die Fastenzeit beginnt. In einigen Gegenden der Vereinigten Staaten ist der Tag als »Pfannkuchen-Tag« bekannt und beginnt mit einem großen Frühstück, bei dem jeder so viele Pfannkuchen in sich hineinstopft, wie er essen kann. Bäcker der verschiedenen Kulturen backen in der sogenannten fünften Jahreszeit besondere Leckereien, die sich zwar von einem Land zum anderen unterscheiden, aber vor allem aus gewaltigen Mengen Zucker, Ei, Mehl, Butter und Schmalz bestehen. Doch die Völlerei ist erst der Anfang.

Von Venedig über New Orleans bis Rio de Janeiro gehen die Karnevalsnarren vom Gebäck zu interessanteren Lastern über und lassen hinter den traditionellen Masken die Zügel schießen. Es ist der einzige Tag des Jahres, an dem Sie nur mit einem Hut bekleidet durch die Straßen gehen und sich vor einem betrunkenen Publikum stolz in Ihrer ganzen Pracht und Herrlichkeit präsentieren können. Der Verlust der Selbstbeherrschung wird zur Tugend.

In Mexiko werden verheiratete Männer einen Tag lang von ihren ehelichen Pflichten entbunden. Am Faschingsdienstag sind selbst strenge Puritaner nachsichtig gestimmt; sie feiern Shrove Tuesday, den Tag der Vergebung der Sünden.

Aus theologischer Sicht ist der Karneval eine verwirrende Angelegenheit. Warum sollte der Klerus zum öffentlichen Laster auffordern und dies pauschal vergeben? Warum sollte er geplante Sünden nachsehen? Warum sollte ein gütiger, gnädiger Gott so viele ohnehin schon übergewichtige Menschen auch noch dazu anhalten, sich mit fettigem Gebäck vollzustopfen?

Aus psychologischer Sicht dagegen ist der Karneval schon eher verständlich: Wenn die Gläubigen vor Beginn der Fastenzeit sich noch einmal entspannen, sammeln sie vielleicht die Willenskraft, die notwendig ist, um die Wochen der Fastenzeit durchzustehen. Dennoch waren Wissenschaftler nie besonders begeistert von der Mardi-Gras-Theorie, zumindest nicht so begeistert wie die Pfannkuchenesser mit ihren Pfauenfedern im Haar von ihren Pfannkuchen. Trotzdem schien es einen Versuch wert. Statt eines Faschingsfrühstücks rührte Baumeister in seinem Labor leckere Milchshakes mit Fruchteis an und verteilte sie in der Pause zwischen zwei Experimenten an Versuchsteilnehmer. Eine Vergleichsgruppe musste in der Pause dagegen langweilige, vergilbte Zeitschriften lesen oder bekam alternativ ein fades, fettarmes Mixgetränk vorgesetzt, das die Teilnehmer sogar noch widerlicher fanden als die Zeitschriften.

Wie von der Mardi-Gras-Theorie vorhergesagt, schien der Milchshake die Willenskraft der Teilnehmer aufzupäppeln und ließ sie die nächste Aufgabe besser als erwartet erledigen. Die verwöhnten Teilnehmer wiesen mehr Selbstdisziplin auf als diejenigen, die bloß in den alten Magazinen blättern durften. So weit, so gut. Aber interessanterweise zeigte das fade Mixgetränk dieselbe Wirkung wie der leckere Milchshake, was bedeutete, dass man sich nicht verwöhnen muss, um Willenskraft zu entwickeln. Die Mardi-Gras-Theorie schien also doch nicht zu stimmen. Nicht nur, dass die Wissenschaftler keine Entschuldigung mehr hatten, durch die Straßen von New Orleans zu ziehen, war das Ergebnis fast schon peinlich. Als Matthew Gailliot, der die Untersuchung leitete, seinem Doktorvater Baumeister das Ergebnis vorstellte, konnte er ihm gar nicht in die Augen sehen.

Baumeister gab sich optimistisch. Vielleicht war die Untersuchung ja doch nicht gescheitert. Irgendetwas war passiert, denn schließlich hatten beide Gruppen die Ego-Erschöpfung überwunden. Die Frage war nur, warum sogar die fade Medizin gewirkt hatte. Also suchten die Wissenschaftler nach einer anderen Erklärung für den Schub an Selbstdisziplin. Wenn es nicht die Lust war, waren es vielleicht die Kalorien?39

Zuerst schien der Gedanke absurd. Warum sollte die Einnahme eines faden Mixgetränks die Leistung bei einem Laborexperiment steigern? Jahrzehntelang hatten Psychologen die Leistung bei geistigen Aufgaben untersucht, ohne sich zu fragen, ob sie durch ein Getränk beeinflusst werden könnte. In ihren Augen war das menschliche Gehirn nicht mehr als ein Computer, und sie wollten beobachten, wie diese Maschine Information verarbeitete. Bei dem Versuch, die menschlichen Schaltkreise zu erforschen, übersahen sie ein ganz entscheidendes Bauteil des Apparats: den Stecker.

Ohne Energie sind die besten Schaltkreise nutzlos, im Computer genau wie im Gehirn. Psychologen brauchten jedoch eine Weile, um darauf zu kommen, und diese Erkenntnis stammte nicht aus Computermodellen, sondern aus der Biologie. Die Transformation der Psychologie unter dem Einfluss der Biologie war eine der wichtigsten Entwicklungen Ende des 20. Jahrhunderts. Einige Wissenschaftler fanden heraus, dass unsere Persönlichkeit und unsere Intelligenz zum Teil von unseren Genen bestimmt werden. Andere konnten zeigen, dass sich unser Sexualverhalten über die Evolutionsgeschichte erklären lässt und bestimmte Ähnlichkeit zum Sexualverhalten vieler Tierarten aufweist. Neurowissenschaftler kartografierten das Gehirn. Andere Forscher stellten fest, wie Hormone auf unser Verhalten wirken. Von allen Seiten wurden Psychologen daran erinnert, dass der menschliche Geist in einem Körper steckt.

Aufgrund dieser neuen Gewichtung der Biologie zögerten die Psychologen, das Ergebnis aus dem Milchshake-Experiment einfach zu verwerfen. Ehe sie ihr Mixgetränk in den Ausguss schütteten, warfen sie also einen Blick auf die Liste der Inhaltsstoffe und hörten sich Geschichten wie die von Jim Turner an.

Nahrung fürs Gehirn

Der Komiker Jim Turner hat in Dutzenden Kinofilmen und Fernsehserien mitgespielt. Aber seine dramatischste Darbietung reservierte er für seine Frau. Eines Nachts träumte er, er sei dafür zuständig, alles Unrecht in der Welt wiedergutzumachen. Es war eine anstrengende Aufgabe, selbst im Traum, bis er die Teleportation entdeckte. Um an einen anderen Ort zu reisen, musste er sich nur vorstellen, dass er bereits da war, und schon war er tatsächlich dort angelangt. Er reiste in seine Heimatstadt in Iowa, nach New York, nach Griechenland und sogar zum Mond. Als er aufwachte, war er überzeugt, dass er noch immer so reisen konnte. Er versuchte, seine Frau davon zu überzeugen, und rief wieder und wieder: »Denk dich einfach hin!«

Seine Frau hatte eine bessere Idee. Turner ist Diabetiker, also gab sie ihm ein Glas Orangensaft. Er war noch so aufgekratzt, dass er sich einen Teil des Safts ins Gesicht schüttete, aufsprang und seine neuen Fähigkeiten demonstrierte, indem er einen Rückwärtssalto aufs Bett hinlegte. Zu ihrer Erleichterung tat der Fruchtsaft seine Wirkung, und Turner beruhigte sich. Zumindest glaubte seine Frau, der Wahn habe ein Ende. Aber der Saft hatte ihn keineswegs beruhigt. Im Gegenteil, er hatte ihm neue Energie zugeführt.

Genauer gesagt wurde der Saft in Glukose umgewandelt, einen einfachen Zucker, den der Körper aus allen möglichen Nahrungsmitteln herstellt, nicht nur aus süßen. Die Glukose, die bei der Verdauung entsteht, gelangt in den Blutkreislauf und wird durch den Körper gepumpt. Die Muskeln benötigen große Mengen an Glukose, genau wie Herz und Leber. Auch das Immunsystem verarbeitet Glukose, aber nur sporadisch; solange Sie gesund sind, genügen ihm geringe Mengen, aber wenn Sie mit einer Erkältung kämpfen, schlägt es zu und hat einen Riesenappetit darauf. Deshalb schlafen kranke Menschen mehr als gewöhnlich: Der Körper nutzt so viel Energie wie möglich zur Bekämpfung der Krankheit, dass für Sport, Sex oder Streit wenig übrig bleibt. Selbst zum Denken reicht es nicht mehr, denn auch dieser Prozess benötigt große Mengen Glukose. Der Zucker gelangt allerdings nicht direkt ins Gehirn, sondern wird in Neurotransmitter, die Botenstoffe der Gehirnzellen, umgewandelt. Wenn Sie plötzlich keine Neurotransmitter mehr hätten, könnten Sie nicht mehr denken.

Auf den Zusammenhang zwischen Glukose und Selbstdisziplin stießen Wissenschaftler bei der Untersuchung von Hypoglykämie-Patienten, die zu niedrigen Blutzuckerwerte neigen. Die Forscher stellten fest, dass diese Menschen mehr Schwierigkeiten haben als andere, sich zu konzentrieren und bei Provokation ihre negativen Emotionen zu zügeln. Sie leiden insgesamt stärker unter Angst und sind weniger glücklich als der Durchschnitt. Unter Kriminellen und gewalttätigen Menschen ist die Hypoglykämie ebenfalls verbreitet, weshalb kreative Anwälte schon versucht haben, Unterzuckerung als Grund für die Unzurechnungsfähigkeit ihrer Mandanten anzuführen.

Der bekannteste Fall war der Prozess gegen Dan White, der wegen Mordes an zwei Politikern der Stadt San Francisco angeklagt wurde: Bürgermeister George Moscone und Harvey Milk, Stadtrat und wohl der bekannteste schwule Politiker der Vereinigten Staaten. Als ein psychiatrischer Gutachter der Verteidigung anführte, White habe in den Monaten vor den Morden große Mengen »Twinkies« und andere Süßigkeiten verzehrt, machten sich Journalisten über seine »Twinkie-Verteidigung« lustig. Die Verteidigung führte jedoch nicht nur den plötzlichen Anstieg und Absturz seiner Blutzuckerwerte als Erklärung für die Morde an, sondern behauptete weiter, White leide unter schweren Depressionen. Als Beweis (nicht als Ursache) führte sie seinen übermäßigen Konsum von Junkfood an. Als White mit einer relativ glimpflichen Strafe davonkam, meinte die Öffentlichkeit, dies sei der Twinkie-Verteidigung zu verdanken, und war verständlicherweise erbost.

Andere Verteidiger gingen tatsächlich so weit, die Blutzuckerprobleme ihrer Mandanten als Grund für eine Strafminderung anzuführen. Wie man die moralischen Aspekte auch beurteilen mag, es gab in der Tat wissenschaftliche Untersuchungen, die einen Zusammenhang zwischen niedrigen Blutzuckerwerten und kriminellem Verhalten herstellten. Eine Studie stellte fest, dass 90 Prozent aller frisch inhaftierten jugendlichen Straftäter unterdurchschnittliche Blutzuckerwerte aufwiesen. Andere Untersuchungen kamen zu dem Ergebnis, dass Menschen mit Hypoglykämie mit größerer Wahrscheinlichkeit eine Reihe von Delikten begingen, angefangen von Verstößen gegen die Straßenverkehrsordnung, Beleidigungen und Ladendiebstahl über Zerstörung von fremden Eigentum, Exhibitionismus und Masturbation in der Öffentlichkeit bis hin zu Betrug, Brandstiftung, Vergewaltigung in der Ehe und Kindesmissbrauch.

In einer bemerkenswerten Studie untersuchten finnische Wissenschaftler die Glukosetoleranz von Häftlingen, die kurz vor der Entlassung standen. Dann beobachteten sie, wer aus dieser Gruppe wieder straffällig wurde. Natürlich haben viele Faktoren einen Einfluss darauf, ob ein ehemaliger Knacki wieder Verbrechen begeht oder nicht: Gruppenzwang, Eheprobleme, Arbeitssituation, Drogenmissbrauch und so weiter. Aber allein nach Auswertung des Glukosetests konnten die Wissenschaftler mit 80-prozentiger Wahrscheinlichkeit vorhersagen, wer rückfällig werden würde und wer nicht. Aufgrund ihrer beeinträchtigten Glukosetoleranz, die es dem Körper erschwert, Nahrung in Energie zu verwandeln, verfügten diese Männer offenbar über ein geringeres Maß an Selbstdisziplin.40 Die Nahrung wird in Glukose umgewandelt und gelangt ins Blut, doch dort wird sie nicht von den Organen aufgenommen. Das heißt, diese Menschen haben einen Überschuss von Zucker im Blut, was ungefähr so ist, als hätten sie jede Menge Feuerholz, aber keine Streichhölzer. Der Zucker zirkuliert ungenutzt durch den Körper und wird nicht in Hirn- und Muskelaktivität umgewandelt. Erreicht dieser überschüssige Zucker ein bestimmtes Niveau, spricht man von Diabetes.

Natürlich sind die meisten Diabetiker nicht kriminell, sondern haben sich und ihren Blutzuckerspiegel unter Kontrolle, indem sie auf sich achten und wenn nötig Insulin spritzen. Genau wie Jim Turner können sie so die schwierigsten Aufgaben meistern. Aber wenn sie sich nicht sorgfältig beobachten, können sich ungewöhnliche Probleme ergeben. In Persönlichkeitstests haben Wissenschaftler beispielsweise festgestellt, dass Diabetiker impulsiver reagieren und ein aufbrausenderes Temperament haben als andere Leute ihres Alters. Bei zeitintensiven Aufgaben lassen sie sich leichter ablenken. Häufiger haben sie Probleme mit Alkoholmissbrauch, Angst und Depression. In Krankenhäusern und anderen Einrichtungen machen Diabetiker mehr Ärger als andere Patienten. Im Alltag reagieren sie aggressiver in Stresssituationen. Der Umgang mit Belastungen erfordert Selbstbeherrschung, und genau daran hapert es, wenn der Körper das Gehirn nicht ausreichend mit Brennstoff versorgt.

Jim Turner hat seine ganz eigene Art, mit dem Problem umzugehen: seine Ein-Mann-Show mit dem Titel »Diabetes: Mein Kampf mit Jim Turner«41. In einer Anekdote erinnert er sich zum Beispiel an einen Streit mit seinem pubertierenden Sohn, in dessen Verlauf er, der vermeintlich erwachsene, derart wütend wurde, dass er nach draußen rannte und die Tür seines Wagens eintrat. »Es gibt Momente, in denen mein Sohn sieht, dass ich die Sache nicht im Griff habe, in denen er mir ein Glas Saft einflößt, und in denen er Angst hat, weil ich einfach nicht da bin.«

Als Entschuldigung für die Delle in der Autotür führt Turner keine Twinkie-Verteidigung ins Feld und zergeht auch nicht vor Selbstmitleid. In der Regel habe er den Diabetes unter Kontrolle, und er habe ihn nicht daran gehindert, glücklich zu sein und seine Träume zu verwirklichen (abgesehen von der Teleportation). Trotzdem erkennt Turner die emotionalen Konsequenzen der Glukose. »Da gibt es so viele kleine Momente, die ich verpasst habe, in denen ich zum Beispiel nicht für meinen Sohn da war, weil ich gerade mit der Unterzuckerung zu kämpfen hatte und nicht mitbekommen habe, was eigentlich los war. Das ist das Schlimmste an der Krankheit.«

Aber was genau passiert in diesen Momenten mit Turner? Die einzelnen Anekdoten lassen genauso wenig einen definitiven Schluss zu wie die ausführlichen Untersuchungen, die zeigen, dass sich Diabetiker weniger gut im Griff haben als andere Menschen. Ein Zusammenhang ist noch lange keine Ursache. In den Sozialwissenschaften sind wirklich eindeutige Schlussfolgerungen nur dann zulässig, wenn alle anderen Erklärungen ausgeschlossen werden können. Einige Menschen kommen zufrieden ins Labor, andere aggressiv, wieder andere sind besorgt und mit ihren Gedanken woanders. Die Wissenschaftler können unmöglich sicherstellen, dass die durchschnittlichen Versuchsteilnehmer in verschiedenen Experimenten sich gleich verhalten – sie können sich lediglich auf die Gesetze der Statistik verlassen. Wenn sie ihre Versuchspersonen nach dem Zufallsprinzip auf Behandlungs- und Kontrollgruppen verteilen, gleichen sich die Unterschiede aus.

Wenn Sie beispielsweise untersuchen wollen, wie sich der Blutzuckerspiegel auf die Aggression auswirkt, müssen Sie einkalkulieren, dass einige Menschen von Natur aus mehr oder weniger friedlich sind als andere. Um zu zeigen, dass Glukose für die Aggression verantwortlich ist, müssen ungefähr gleich viele aggressive Testteilnehmer in der Glukose- wie in der Kontrollgruppe sein. Die Verteilung nach dem Zufallsprinzip ist in der Regel eine gute Lösung. Mit Hilfe dieser repräsentativen Gruppen können Sie erkennen, wie die unterschiedlichen Experimente anschlagen.

Nach diesem Prinzip führten beispielsweise Ernährungswissenschaftler ihre Versuche an Grundschulen durch. Die Kinder einer Schulklasse sollten das Frühstück zu Hause ausfallen lassen. Als sie in der Schule ankamen, erhielt die Hälfte, die nach dem Zufallsprinzip ausgewählt wurde, ein ordentliches Frühstück, die andere Hälfte nicht. In den ersten Unterrichtsstunden lernten die Kinder, die gefrühstückt hatten, besser und verhielten sich unauffälliger (die Beobachtung wurde von Wissenschaftlern vorgenommen, die nicht wussten, welche Kinder leere Mägen hatten). In der Pause bekamen die Kinder ein gesundes Pausenbrot, und die Unterschiede verschwanden.

Dass Glukose tatsächlich die magische Zutat ist, wurde in anderen Experimenten nachgewiesen, in denen der Blutzuckerspiegel von Testpersonen vor und nach einer einfachen Aufgabe gemessen wurde. Zum Beispiel sollten sie sich ein Video ansehen, in dem am unteren Bildrand immer wieder Wörter eingeblendet wurden. Ein Teil der Versuchspersonen wurde aufgefordert, die Wörter zu ignorieren, ein anderer erhielt keine Anweisungen und sollte sich nur entspannt das Video ansehen. Danach wurden die Werte erneut gemessen. Bei den entspannten Zuschauern waren sie gleich geblieben, aber bei denjenigen, die versucht hatten, die eingeblendeten Wörter zu ignorieren, war der Wert deutlich gesunken. Eine scheinbar kleine Übung zur Selbstdisziplin bewirkte einen spürbaren Rückgang der Hirnnahrung Glukose.

Um Ursache und Wirkung auseinanderhalten zu können, versuchten die Wissenschaftler, das Gehirn zwischendurch aufzutanken, und gaben den Testpersonen Limonade, die entweder mit Zucker oder mit Süßstoff gesüßt war. Der starke Zitronengeschmack machte es den Teilnehmern unmöglich zu erkennen, welches Süßungsmittel ihr Getränk enthielt. Der Zucker gab ihnen einen kurzen Energieschub, der Süßstoff lieferte keine Glukose und auch sonst keine Nährstoffe.

Die Auswirkungen des Zuckers zeigten sich in der Aggression, die Versuchspersonen bei einem Videospiel an den Tag legten. Zunächst verlief das Spiel normal, doch nach wenigen Runden erreichte es eine unlösbare Schwierigkeitsstufe. Alle Beteiligten reagierten frustriert, doch diejenigen, die das gezuckerte Getränk zu sich genommen hatten, murrten leise und spielten weiter. Die anderen begannen zu fluchen und schlugen auf den Computer ein.42 Als sich die Versuchsleiter, wie im Testdrehbuch vorgesehen, über die Leistung der Probanden lustig machten, reagierten die unterzuckerten Teilnehmer ungehaltener.

Wo keine Glukose ist, das ist auch kein Wille. Dieses Muster zeigte sich immer wieder und in unterschiedlichsten Situationen. Sogar Hunde wurden untersucht.43 Selbstbeherrschung ist zwar eine typisch menschliche Eigenschaft, die wir entwickelt haben, während wir zu zivilisierten Tieren wurden, doch sie ist keineswegs auf den Menschen beschränkt. Auch andere in Gruppen lebende Tiere benötigen ein gewisses Maß an Selbstdisziplin, wenn sie miteinander auskommen wollen. Und Hunde, die mit Menschen zusammenleben, müssen sich an Regeln halten, die ihnen aus Hundesicht vermutlich albern und willkürlich vorkommen, etwa das Verbot, den Schritt der (menschlichen) Gäste zu beschnüffeln.

Analog zu den Experimenten mit Menschen ermüdeten die Wissenschaftler zunächst die Willenskraft der Versuchshunde, indem sie sie zehn Minuten lang auf »Sitz!« und »Platz!« hören ließen. Eine Kontrollgruppe blieb einfach zehn Minuten lang in einem Käfig und musste keinerlei Selbstbeherrschung zeigen. Dann bekamen alle Hunde ein vertrautes Spielzeug, in dem ein Stückchen Wurst versteckt war. In der Vergangenheit hatten alle Hunde mit diesem Spielzeug gespielt und die Belohnung erfolgreich herausgefischt, doch im Experiment war das Spielzeug manipuliert, sodass die Hunde nicht mehr an die Wurst herankamen. Die Kontrollgruppe mühte sich mehrere Minuten lang ab, doch die Hunde, die vorher auf die Befehle hatten hören müssen, gaben schon nach weniger als einer Minute auf. Es war die bekannte Ego-Erschöpfung. Aber auch bei Hunden wirkte die Medizin. In einer zweiten Untersuchung erhielten die Hunde unterschiedliche Getränke, und die gezuckerten Getränke stellten die Willenskraft der Tiere wieder her. Derart gestärkt mühten sie sich nun genauso lange mit dem Spielzeug ab wie die Hunde, die im Käfig gesessen hatten. Die mit Süßstoff gesüßte Flüssigkeit zeigte, wie erwartet, keine Wirkung.

Trotz allem war die wachsende Gemeinde der Hirnforscher noch nicht vollends von dem Glukose-Zusammenhang überzeugt. Skeptiker wiesen darauf hin, dass der Energieverbrauch des Gehirns unabhängig von der Tätigkeit mehr oder minder konstant bleibt, was nicht mit der Vorstellung des Energiemangels zusammenzupassen schien. Einer der Skeptiker war Todd Heatherton, der früher mit Baumeister zusammengearbeitet hatte und inzwischen am Dartmouth College unterrichtete; dort war er ein Pionier der sozialen Neurowissenschaften, einer neuen Wissenschaft, die sich mit der Beziehung von Gehirnprozessen und Sozialverhalten beschäftigt. Er war überzeugt, dass die Ego-Erschöpfung existierte, aber er glaubte nicht, dass sie mit der Glukose zusammenhing.

Zur Überprüfung der Theorie entwickelte Heatherton einen ambitionierten Test. Er und seine Kollegen suchten Menschen, die gerade eine Diät machten, und maßen ihre Reaktionen auf Bilder von Essen. Dann zeigten sie den Teilnehmern ein komisches Video und untersagten ihnen das Lachen, um ihr Ego zu ermüden. Schließlich führten sie ihnen ein weiteres Mal Bilder von Lebensmitteln vor und maßen die Reaktionen ihres Gehirns (eine Kontrollgruppe bekam Landschaftsaufnahmen zu sehen). Frühere Untersuchungen von Heatherton und Kate Demos hatten gezeigt, dass diese Bilder Reaktionen in verschiedenen Hirnregionen auslösen, unter anderem im Nucleus accumbens und in der Amygdala. Diese Reaktionen traten wieder auf. Bei den Teilnehmern, die Diät hielten, sorgte die Ego-Erschöpfung für gesteigerte Aktivität im Nucleus accumbens und eine entsprechende Abnahme in der Amygdala. Das entscheidend Neue an diesem Experiment war eine Manipulation des Blutzuckerspiegels. Einige Teilnehmer erhielten ein zuckerhaltiges Getränk, das Glukose ins Blut und indirekt vermutlich auch ins Gehirn beförderte.

In einem wegweisenden Vortrag verkündete Heatherton44 die Ergebnisse des Versuchs vor der Society for Personality and Social Psychology, der weltgrößten Organisation von Sozialpsychologen, deren Vorsitz er damals innehatte. In seiner Begrüßungsansprache bei der Jahresversammlung 2011 in San Antonio berichtete er, dass Glukose die Erschöpfung des Gehirns tatsächlich aufhob, und gestand, dass ihn dieses Ergebnis sehr verblüfft hatte. (Baumeister, der im Publikum saß, erinnerte sich, wie erstaunt er selbst gewesen war, als in seinem Labor die Beziehung zur Glukose hergestellt worden war.) Heathertons Ergebnisse betätigten, dass die Glukose ein entscheidender Baustein der Willenskraft ist. Aber mehr noch, sie lösten das Rätsel, warum sich der Energieverbrauch des Gehirns insgesamt nicht veränderte. Offenbar verlagert sich bei der Ego-Erschöpfung die Aktivität des Gehirns von einem Teil auf einen anderen. Ihr Gehirn stellt nicht einfach den Betrieb ein, weil der Zuckerspiegel sinkt. Stattdessen unterlässt es bestimmte Tätigkeiten und nimmt andere auf. Das könnte auch erklären, warum wir manche Dinge intensiver wahrnehmen, wenn unser Ego erschöpft ist: Bestimmte Teile des Gehirns scheinen zu beschleunigen, während andere ihre Aktivität herunterfahren.

Wenn der Körper zur Selbstdisziplin Glukose verbraucht, bedeutet das dann, dass er Hunger nach Süßem bekommt? Die Antwort ist Ja – und das ist die schlechte Nachricht für all diejenigen, die ihre Selbstdisziplin mobilisieren wollen, um ihren Konsum von Süßigkeiten einzuschränken. Je mehr wir uns im Alltag beherrschen müssen, desto größer wird unser Appetit nach Süßem. Nicht nach Essen ganz allgemein, sondern nach Zucker. Versuchsteilnehmer, die an einer Übung zur Ego-Erschöpfung teilgenommen haben, greifen danach eher zu süßen als zu salzigen Häppchen. Selbst wer nur erwartet, sich in Kürze beherrschen zu müssen, scheint Hunger auf Süßes zu bekommen.45

Die Ergebnisse dieser Untersuchungen sind allerdings keine Entschuldigung, sich (oder seine Haustiere) mit Süßigkeiten vollzustopfen. Der Körper verlangt zwar nach Süßem, weil das sein Energiebedürfnis am schnellsten befriedigt, doch zuckerarme, proteinhaltige und andere nahrhafte Lebensmittel erfüllen denselben Zweck (wenn auch etwas langsamer). Aus dem Glukose-Effekt lassen sich jedoch einige nützliche Techniken zur Selbstbeherrschung ableiten. Außerdem beantwortet er eine Frage, die lange ein Rätsel darstellte: Warum haben Frauen an bestimmten Tagen des Monats einen Heißhunger nach Süßigkeiten?

Vom Teufel geritten

Was auch immer Sie von Jennifer Love Hewitts46 schauspielerischen Fähigkeiten halten mögen, Sie müssen zugeben, sie hatte in Shortcut to Happiness einen sehr originellen Auftritt. Nicht genug, dass sie an der Seite der Altstars Anthony Hopkins und Alec Baldwin spielte, was einer Jungschauspielerin allein schon die Knie schlottern lassen kann, sie schlüpfte außerdem noch in die Rolle des Teufels. Wenn Schauspieler, wie Theaterlehrer verlangen, »ihren Charakter ausfüllen« sollen, dann bietet die Rolle des Teufels sicher größere Schwierigkeiten als beispielsweise die einer Polizistin. Sie können keine Feldforschung anstellen und mit dem Teufel im Streifenwagen durch die Stadt fahren. Aber bei ihrer Vorbereitung auf ihre Rolle fand Hewitt eine andere Möglichkeit.

»Ich beobachtete, wie ich mich verhielt, wenn ich PMS hatte«, sagte sie. »Darauf habe ich meine Rolle des Satans aufgebaut.«

Wenn Sie das für eine sehr finstere Sicht des prämenstruellen Syndroms halten, dann sollten Sie einmal PMSCentral.com und andere Websites aufsuchen, auf denen Frauen Ratschläge und Witze zum Thema austauschen. Dort finden Sie Geschichten wie diese:

PMS ruiniert einen guten Teil meines Lebens. Ich habe geschwollene Augen, kann nicht klar denken, treffe die falschen Entscheidungen, habe hässliche emotionale Ausbrüche und eine irrationale Art zu denken, gebe zu viel Geld aus, kaufe Dinge, nur um sie wieder umzutauschen, kündige meine Arbeit, bin müde, genervt, weine, bin extrem sensibel, habe Schmerzen am ganzen Körper, starre vor mich hin und habe das Gefühl, dass ich nicht da bin.47

PMS wurde für alles verantwortlich gemacht, von Schokoladenorgien bis Mord. Als CSI-Star Marg Helgenberger bei einem Gala-Dinner mit einer sonderbaren Haarfarbe gesichtet wurde, erklärte sie: »Der Ton heißt PMS-Pink.48 Ich war gestern total auf PMS. Ich war verrückt! Keine Ahnung, was ich mir dabei gedacht habe.« Auch Melanie Griffith benutzte das Wort »verrückt«, um den Zustand vor Beginn der Menstruation zu beschreiben, in dem sie erst ihre Scheidung einreichte, nur um es sich sofort anders zu überlegen. Wieder und wieder berichten Frauen, wie sie von befremdlichen Regungen befallen werden.

Auch Wissenschaftler interessierten sich für diese geheimnisvollen Stimmungsumschwünge. Aus Sicht der Evolutionspsychologen ist es für eine Frau im besten gebärfähigen Alter eigentlich kontraproduktiv, wenn sie nicht mit den Menschen in ihrer Umgebung auskommt. Ist Mitgefühl nicht eine entscheidende Fähigkeit bei der Kindererziehung? Wäre es nicht besser, eine gute Beziehung zum Partner aufrechtzuerhalten, der schließlich den Nachwuchs ernähren soll? Einige Wissenschaftler wiesen darauf hin, dass die Frauen nur dann in die prämenstruelle Phase ihres Zyklus eintreten, wenn sie während des Eisprungs nicht geschwängert wurden und spekulierten, ob die natürliche Auslese Frauen bevorzugt haben könnte, die kratzbürstig auf unfruchtbare Männern reagierten und sie auf diese Weise loswurden, um sich einen Neuen zu suchen. Aber es ist vollkommen unklar, ob es sich dabei tatsächlich um einen evolutionären Vorteil handelte und ob dieser Druck in der afrikanischen Savanne wirklich wirksam war. Unter den Jägern und Sammlern war PMS vermutlich weniger ein Problem, da Frauen die meiste Zeit über entweder schwanger waren oder stillten.

Wie dem auch sei, inzwischen gibt es eine solide physiologische Erklärung für das prämenstruelle Syndrom,49 die nichts mit befremdlichen Impulsen zu tun hat. Kurz vor der Menstruation, während der sogenannten Lutealphase, lenkt der Körper der Frau große Mengen Energie in die Eierstöcke und in die Produktion weiblicher Hormone. Je mehr Energie und Glukose jedoch in das Reproduktionssystem umgeleitet werden, umso weniger bleibt für den Rest des Körpers, der mit einem gesteigerten Verlangen nach mehr Treibstoff reagiert. Schokolade und andere Süßigkeiten sind besonders attraktiv, weil sie dem Körper sofort Glukose zuführen, aber im Grunde hilft jede Form von Nahrung, weshalb Frauen dazu neigen, während dieser Phase mehr zu essen. Eine Untersuchung fand heraus, dass Frauen in dieser Zeit beim Mittagessen durchschnittlich 810 Kilokalorien zu sich nehmen, also rund 170 mehr als im restlichen Monat.

Trotzdem bekommen viele Frauen noch immer nicht genug Kalorien. Die figurbewusste Frau von heute nimmt nicht genug zusätzliche Nahrung zu sich, um während dieser Tage ihren gesteigerten Glukosebedarf zu decken. Aber wenn nicht genug Energie vorhanden ist, muss der Körper rationieren, und da der Reproduktionsapparat Vorrang hat, bleibt weniger für die Willenskraft übrig. Normalerweise haben sich Frauen besser im Griff als Männer, doch in der Lutealphase stehen sie vor größeren Problemen, sich zu beherrschen.

In dieser Zeit geben Frauen mehr Geld aus und tätigen mehr Spontankäufe als sonst. Sie rauchen und trinken mehr, und zwar nicht nur, weil ihnen Zigaretten und Alkohol besser schmecken. Vor allem Frauen mit Alkoholproblemen oder mit einer Geschichte des Alkoholmissbrauchs in der Familie schenken sich ein paar Gläser mehr ein. In der Lutealphase trinken Frauen eher einen über den Durst, schnupfen Kokain oder nehmen andere Drogen. PMS führt nicht zu spezifischen Verhaltensproblemen; vielmehr scheinen Frauen insgesamt unbeherrschter, weshalb sich alle möglichen Probleme verstärken.

Eine Droge, deren Konsum nicht gesteigert wird, ist bezeichnenderweise Marihuana. Anders als Kokain oder Opiate versetzt Marihuana nicht in Euphoriezustände. Es verstärkt lediglich bereits vorhandene Gefühle. Wenn PMS an sich schon schlimm genug ist, dann ist eine Droge, die dieses Gefühl auch noch verstärkt, nicht sonderlich attraktiv. Außerdem verursacht Marihuana nicht dasselbe Verlangen wie Nikotin, Alkohol, Kokain und andere Drogen, weshalb Marihuana-Konsumenten beim Verlust der Selbstbeherrschung nicht unbedingt anfälliger für die Versuchung werden.

Wissenschaftler haben festgestellt, dass Frauen, die zu PMS neigen, doppelt so häufig am Arbeitsplatz fehlen wie Frauen ohne PMS. Grund dafür sind zum einen natürlich die Schmerzen, die mit PMS einhergehen, aber einige Frauen machen auch einfach blau, weil sie in dieser Zeit über weniger Selbstdisziplin verfügen. Es ist schwieriger, sich an die Spielregeln zu halten, wenn der Körper unterzuckert ist. In Frauengefängnissen brechen die Insassen in der Lutealphase mehr Regeln. Aggression und Gewalttaten – legale wie illegale – erreichen bei Frauen, die unter PMS leiden, an diesen Tagen ihren Höhepunkt. Frauen werden zwar selten gewalttätig, aber viele berichten über Stimmungsschwankungen in dieser Phase. Sie reagieren häufiger mit Gefühlsausbrüchen und leiden stärker. Sie führen mehr Auseinandersetzungen mit ihren Partnern und Kollegen. Insgesamt werden sie weniger gesellig und meiden andere Menschen, was an sich keine schlechte Idee ist, wenn sie den Konflikten aus dem Weg gehen wollen, die sich in Interaktionen ergeben könnten.

Nach der herkömmlichen Erklärung ist die Lutealphase direkt für die negativen Emotionen verantwortlich, doch diese Erklärung passt nicht zu den Daten. Frauen sind nicht in gleichem Maße von negativen Emotionen betroffen. Als Amanda Palmer als lebende Statue am Harvard Square stand, stellte sie fest, dass PMS ihre Selbstdisziplin beeinträchtigte, weil es positive und negative Emotionen verursachte.

»Ich bin insgesamt sensibler und weine öfter, wenn ich PMS habe. Wenn ich auf der Kiste gestanden habe und irgendetwas Emotionales passiert ist, hat das sofort auf mich gewirkt«, erinnert sie sich. »Es hat schon gereicht, dass niemand vorbeigekommen ist und mich zehn Minuten lang angestarrt hat. Plötzlich hatte ich das Gefühl, dass die Welt einsam und kalt ist und mich niemand lieb hat. Das andere Extrem war ein 95-jähriger Mann, der langsam auf mich zugehumpelt kam, fünf Minuten gebraucht hat, um einen Fünf-Dollar-Schein aus seinem Geldbeutel zu ziehen und in mein Körbchen zu legen, und mich dann mit seinen weisen Augen angeschaut hat. Ich war völlig aufgelöst und habe versucht, so viel Liebe wie möglich zu übertragen, ohne zu sprechen oder mich zu bewegen.«

Die Beschreibung ist typisch für das, was viele Frauen in der Lutealphase durchmachen: Sie erleben ein Wechselbad der Gefühle und reagieren heftig auf bestimmte Ereignisse. Auch wenn sie sich vornehmen, sich nicht zu ärgern, regen sie sich unwillkürlich selbst über Kleinigkeiten auf. Sie sind sich natürlich nicht darüber bewusst, dass ihr Körper plötzlich der Selbstdisziplin die Treibstoffzufuhr gekappt hat, und sind überrascht, dass sie sich weniger im Griff haben als sonst.

Viele Frauen empfinden den Alltag als belastender; in der Lutealphase beschreiben sie mehr negative und weniger positive Ereignisse. Die Welt bleibt natürlich dieselbe, nur haben die Frauen das Gefühl, schlechter mit ihr fertig zu werden. Wenn PMS die emotionale Kontrolle schwächt, erscheint ihnen dasselbe Missgeschick sehr viel schrecklicher. Dieselbe Aufgabe am Arbeitsplatz wird anstrengender, wenn sie über weniger Energie verfügen, sich auf sie zu konzentrieren. Unter streng kontrollierten Laborbedingungen zeigten Frauen in der Lutealphase schlechtere Leistung als zu anderen Zeiten des Menstrualzyklus – und zwar alle, nicht nur Frauen, denen PMS zu schaffen machte. Ob sie prämenstruelle Symptome hatten oder nicht, ihr Körper litt unter Glukosemangel.

Wir wollen das Problem nicht übertreiben, denn die meisten Frauen kommen zu Hause und an ihrem Arbeitsplatz sehr gut damit zurecht, und wir wollen keinesfalls behaupten, Frauen besäßen weniger Willenskraft als Männer. Im Gegenteil, Frauen haben generell weniger Probleme mit der Selbstdisziplin als Männer: Sie begehen weniger Gewaltverbrechen und werden seltener alkohol- oder drogenabhängig. Die Selbstdisziplin ist einer der Gründe, weshalb Mädchen in der Schule bessere Noten bekommen als Jungen. Es geht lediglich darum zu zeigen, dass die Selbstdisziplin mit den Rhythmen des Körpers und den Schwankungen der Energieversorgung zusammenhängt. Eine Frau mit der Selbstdisziplin einer Heiligen könnte in der Lutealphase ein bisschen weniger heilig sein. Genau wie Hypoglykämie und Diabetes demonstriert PMS, was passiert, wenn der Körper nicht genug Glukose bekommt. Und jeder von uns, Männer und Frauen, Diabetiker und Nicht-Diabetiker, hat gelegentlich nicht genug Glukose im Blut. Jeder von uns erliegt irgendwann Frustrationen und Ärger, jeder steht manchmal vor scheinbar unlösbaren Problemen und wird von Impulsen heimgesucht, die sich fremd, wenn nicht teuflisch anfühlen können.

Üblicherweise hat das Problem mit uns selbst zu tun. Die Welt ist nicht plötzlich kalt und grausam geworden. Es ist nicht der Teufel, der uns mit finsteren Versuchungen quält. Wir sind einfach weniger gut in der Lage, mit unseren alltäglichen Impulsen und Problemen umzugehen. Die Provokation kann durchaus real sein – vielleicht haben Sie ja guten Grund, wütend auf Ihren Chef zu sein oder Scheidungswünsche zu hegen (Melanie Griffith ließ sich später doch noch von Don Johnson scheiden). Aber Sie werden diese Probleme erst lösen, wenn sie Ihre Emotionen im Griff haben, und das beginnt damit, dass Sie Ihr Glukoseproblem in den Griff bekommen.

Durch Essen zu einem starken Willen

Da wir nun wissen, welche Probleme durch Glukosemangel hervorgerufen werden, können wir nach Lösungen suchen und uns erfreulicheren Themen zuwenden, zum Beispiel gutem Essen und einem Mittagsschläfchen. Auf den nächsten Seiten haben wir einige Strategien für Sie zusammengestellt, mit denen Sie den Glukose-Effekt für sich nutzen können:

Füttern Sie die Disziplin

Nicht den Teufel, sondern Ihre Dämonen oder die der Menschen in Ihrer Umgebung. Glukosemangel kann selbst den charmantesten Partner und die liebenswerteste Partnerin in ein unausstehliches Monster verwandeln. Der altbekannte Rat, mit einem ordentlichen Frühstück zu beginnen, gilt im Grunde nicht nur morgens, sondern den ganzen Tag über, vor allem wenn Sie körperlich oder geistig gefordert sind. Wenn Sie eine Prüfung, eine wichtige Besprechung oder ein entscheidendes Projekt vor sich haben, dann sollten Sie es nicht ohne Glukose angehen. Vermeiden Sie es tunlichst, vier Stunden nach dem Mittagessen mit Ihrem Chef zu streiten. Diskutieren Sie ernste Probleme mit Ihrem Partner nicht vor dem Essen. Wenn Sie eine romantische Italienrundfahrt unternehmen, fahren Sie nicht um 19 Uhr in eine verwinkelte Altstadt und suchen mit leerem Magen nach dem Hotel: Ihr Auto mag das gepflasterte Labyrinth überstehen, aber Ihre Beziehung vielleicht nicht.

Vor allem sparen Sie nicht an Kalorien, wenn Sie mit ernsteren Problemen als Ihrem Übergewicht zu kämpfen haben. Wenn Sie mit dem Rauchen aufhören wollen, versuchen Sie das nicht, während Sie gleichzeitig eine Diät machen. Vielleicht sollten Sie sogar lieber ein paar Kalorien mehr einrechnen, da Sie nun Ihren Appetit nicht mehr mit dem Nikotin unterdrücken und mehr Hunger verspüren. Als Wissenschaftler Zuckerpillen an Raucher vergaben, die mit dem Rauchen aufhören wollten, führte dies zu besseren Erfolgen, vor allem wenn die Zuckerpillen mit anderen Therapien wie zum Beispiel dem Nikotinpflaster kombiniert wurden.

Vermeiden Sie Zucker

Es ist vielleicht ein bisschen ironisch, dass Psychologen bei der Erforschung der Selbstdisziplin ihre Testpersonen so gern mit Zucker füttern, wo doch die meisten Menschen gern den Willen aufbringen würden, Süßigkeiten zu widerstehen. Aber das tun die Wissenschaftler vor allem, weil Zucker schnell wirkt. Zuckerwasser liefert einen raschen Energieschub und ermöglicht es den Wissenschaftlern, die Auswirkungen der Glukose innerhalb eines kurzen Zeitraums zu beobachten. Weder sie noch die Testpersonen müssen stundenlang warten, bis der Körper komplexere Energielieferanten wie Proteine verdaut hat.

Es mag durchaus Zeiten geben, in denen Sie mit Hilfe des Zuckers Ihre Selbstdisziplin kurzfristig anschieben können, etwa vor einer zeitlich überschaubaren Aufgabe wie einer Mathematikprüfung. Wenn Sie mit dem Rauchen aufhören, können Sie sich für Notfälle ein Bonbon in die Tasche stecken, um ein plötzliches Verlangen nach einer Zigarette abzustellen. Doch auf den Energieschub durch Zucker folgt ein rascher Absturz und Sie fühlen sich noch schwächer, weshalb dies als langfristige Strategie nicht ratsam ist. Wir wollen Ihnen auf keinen Fall empfehlen, sich nur von Cola und Süßigkeiten zu ernähren. Im Labor können zuckerhaltige Getränke zwar kurzfristig die prämenstruellen Symptome verringern. Aber im Alltag halten Sie sich besser an die Beobachtung der Soul-Sängerin Mary J. Blige50, die über die Stimmungsschwankungen und Einkaufstouren während ihrer PMS-Phasen sagte: »Zucker macht es nur noch schlimmer.«

Wählen Sie nachhaltige »Treibstoffe«

Ihr Körper wandelt fast jede Nahrung in Glukose um, wenn auch mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Nahrungsmittel, die rasch umgewandelt werden, besitzen einen hohen Glykämischen Index (GI). Dazu gehören Kohlenhydrate wie Weißbrot, Kartoffeln, weißer Reis und natürlich die Süßigkeiten an der Supermarktkasse. Sie geben Ihnen einen plötzlichen Energieschub, auf den ein ebenso plötzlicher Absturz folgt. Danach fehlen Ihnen wieder Glukose und Selbstbeherrschung, und allzu können Sie dem Zuckerschub in Form von Kuchen und Süßigkeiten nicht widerstehen, nach dem Ihr Körper verlangt. Die Krapfen-Orgien mögen auf Faschingsfeiern für gute Laune sorgen, aber für den Rest des Jahres sind sie nicht zu empfehlen.

Um Ihre konstante Selbstdisziplin zu erhalten, sind Sie besser beraten, wenn Sie Lebensmittel mit einem niedrigen GI zu sich nehmen: die meisten Gemüse, Nüsse (zum Beispiel Erdnüsse und Cashewkerne), viele Früchte (zum Beispiel Äpfel, Birnen und Beeren), Käse, Fisch, Fleisch, Olivenöl und andere »gute« Fette. (Diese Lebensmittel mit niedrigem GI helfen Ihnen nebenbei, auf Ihre Linie zu achten.) Die Vorteile einer ausgewogenen Ernährung haben sich bei Frauen mit PMS gezeigt, die weniger Symptome haben, wenn sie sich gesünder ernähren. Außerdem wurde eine Reihe von Versuchen mit Zehntausenden Jugendlichen in Strafanstalten durchgeführt. Als die Gefängnisleitung zuckerhaltige Nahrung und raffinierte Kohlenhydrate vom Speisezettel strich und durch Obst, Gemüse und Vollkornprodukte ersetzte, gingen Ausbruchsversuche, Gewalt und andere Probleme deutlich zurück.

Wenn Sie krank sind

Wenn Sie das nächste Mal darüber nachdenken, ob Sie Ihren schmerzenden Körper ins Büro schleppen sollen, bedenken Sie Folgendes: Mit einer schweren Erkältung sind Sie nachgewiesenermaßen weniger fahrtüchtig als mit einem leichten Alkoholrausch.51 Das liegt daran, dass Ihr Immunsystem so viel Glukose in Ihrem Körper abzwackt, dass weniger für Ihr Gehirn übrig bleibt.

Aber wenn Sie nicht einmal genug Glukose zum Autofahren haben, was wollen Sie dann im Büro (wenn Sie denn dort ankommen)? Manchmal kann man einen Job einfach absitzen, aber wenn Sie wichtige Aufgaben zu erledigen haben, sollten Sie sich nicht auf Ihr geschwächtes Gehirn verlassen. Wenn Sie einen wichtigen Termin haben, vermeiden Sie Themen, die Ihre Selbstbeherrschung auf die Probe stellen könnten. Wenn Sie ein wichtiges Projekt leiten, treffen Sie keine Entscheidungen, die sich nicht wieder rückgängig machen lassen. Und erwarten Sie keine Spitzenleistungen von anderen, die husten und schniefen. Wenn Ihr Kind am Tag einer Prüfung erkältet ist, schicken Sie es nicht zur Schule, sondern lassen Sie es die Prüfung nachschreiben.

Wenn Sie müde sind, schlafen Sie

Das sollte eigentlich offensichtlich sein, aber nicht nur zeternde Kleinkinder wehren sich gegen das Nickerchen, das sie so nötig haben. Erwachsene schlafen regelmäßig zu wenig, und das Ergebnis ist mangelnde Selbstbeherrschung. Im Schlaf benötigt der Körper weniger Glukose und optimiert deren Verwertung. Schlafmangel verschlechtert dagegen die Glukoseverwertung, was sich unmittelbar auf die Selbstdisziplin auswirkt und langfristig ein Diabetesrisiko bedeutet.

Eine neuere Untersuchung ergab, dass sich unausgeschlafene Arbeitnehmer unkollegialer verhalten.52 Beispielsweise schrieben sie sich eher Erfolge zu, die anderen gebührten. In einem Laborversuch, in dem es Bargeld zu gewinnen gab, versuchten unausgeschlafene Teilnehmer mit größerer Wahrscheinlichkeit, ihre Mitspieler zu betrügen. Schlafmangel hat eine Reihe von negativen Auswirkungen auf Körper und Geist. Dazu gehört die Erschöpfung der Selbstdisziplin und verwandter Prozesse wie der Entscheidungsfindung. Um Ihre Willenskraft optimal zu nutzen, verwenden Sie sie, um ausreichend Zeit für Ihren Schlaf zu reservieren. Am nächsten Tag sind Sie besser drauf, und in der folgenden Nacht schlafen Sie besser.