KAPITEL 5

DISZIPLIN MACHT SICH BEZAHLT 

Ich habe nie einen Mann gekannt,

der zu träge war, sich um seine

Angelegenheiten und Finanzen zu

kümmern und nicht in Schwierigkeiten

geraten wäre; wem die Geldprobleme

zur Gewohnheit werden, der nimmt es

mit der Ehrlichkeit selten genau.

Gott verhüte, dass dies je

dein Schicksal werde.

 

Charles Darwin78 in einem Brief an seinen Sohn, dem er einen Scheck zur Begleichung von dessen Schulden beilegte

 

Die Leute haben einfach keine Lust,

Buchhalter zu spielen.

 

Aaron Patzer, Gründer von mint.com

Vor kurzem suchte ein reuiger Geldverschwender den Rat eines Experten, um seiner Schulden Herr zu werden. Er wandte sich an Neuro-Ökonomen der Universität Stanford, die das Gehirn von Menschen beim Einkaufen beobachten – so gut das eben in einem Hirnscanner geht. Die Wissenschaftler maßen die Aktivität der Inselrinde im Gehirn ihrer Probanden, während diese darüber nachdachten, Geld für elektronische Spielsachen, Bücher und anderes auszugeben. Diese Hirnregion regt sich immer dann, wenn wir etwas Unangenehmes sehen oder hören, und genau das war der Fall, wenn die Geizhälse unter den untersuchten Personen den Preis dieser Dinge sahen. Aber wenn ein typischer Geldverschwender auf Einkaufstour ging, blieb die Inselrinde ruhig – selbst wenn er darüber nachdachte, sein sauer verdientes Geld für eine Uhr auszugeben, die je nach Stimmung die Farbe wechselte.

Aber besagter Geldverschwender war kein ganz hoffnungsloser Fall. Vielleicht sollten wir an dieser Stelle der Vollständigkeit halber erwähnen, dass es sich um John Tierney handelte. Der Hirnscan79 bestätigte zwar seine verschwenderische Grundhaltung, denn während er darüber nachdachte, sein Geld für überflüssigen Nippes auszugeben, zuckte seine Inselrinde nicht im Geringsten. Doch dann griffen die Wissenschaftler zu einem Trick und hielten Tierney seine letzte Kreditkartenabrechnung vor die Nase. Endlich reagierte sein Gehirn mit Missfallen: Als Tierney die nicht bezahlte Rechnung über 2 178,23 Dollar sah, sichteten die Neuro-Ökonomen immerhin ein leises Flackern in der Inselrinde.

Das war ermutigend. Aber wie ließ sich diese Erkenntnis nutzen? Die Wissenschaftler konnten ihm doch nicht im Einkaufszentrum hinterherlaufen und ihm seine Kreditkartenabrechnung unter die Nase halten, um ihn an die Konsequenzen seines Kaufrauschs zu erinnern. Die beste Lösung war, ihm ein Budget vorzugeben und ihm zu helfen, seine Ausgaben zu kontrollieren, genau wie dies Charles Darwin mit seinem Sohn gemacht hatte. Das war jedoch leichter gesagt als getan.

Zum Glück gibt es Aaron Patzer. Patzer wäre ein Sohn ganz nach Darwins Geschmack gewesen. Schon als Jugendlicher führte er peinlich genau Buch über seine Ausgaben und verbrachte seine Sonntage damit, sie am Computer zu kategorisieren. Irgendwann, während er bei einem Start-up in Silicon Valley arbeitete, gab er diese Angewohnheit eine Zeit lang auf. Als er sich dann hinsetzte, um seine Finanzen zu überprüfen, hatte er plötzlich Hunderte von Transaktionen zu verarbeiten. Es musste doch eine bessere Möglichkeit geben, seine Freizeit zu verbringen, dachte er sich. Konnte das nicht ein Computer übernehmen? Also gründete er das Unternehmen Mint.com80 und war damit so erfolgreich, dass er es nach nur zwei Jahren für 170 Millionen Dollar an Intuit verkaufte.

Inzwischen verfolgt Mint die Finanzen von fast sechs Millionen Kunden. Damit ist es eines der größten Experimente zum zweiten entscheidenden Schritt der Selbstdisziplin: der Kontrolle des Verhaltens. Nebenbei handelt es sich um eine ermutigende Entwicklung in der Geschichte der künstlichen Intelligenz. Wie andere Unternehmen, die verschiedene Aspekt Ihres Lebens elektronisch überwachen – Ihr Gewicht, Ihren Schlaf, Ihre Fitness –, verwendet Mint Computer für ein zutiefst humanistisches Projekt. Seit Frankenstein befürchten Science-Fiction-Autoren, die künstliche Intelligenz könnte sich ihrer eigenen Macht bewusst werden und sich gegen ihre Schöpfer auflehnen. Politische Autoren sorgen sich über die Folgen umfassender Überwachung durch Computer – Big Brother is watching you! Aber obwohl Maschinen immer mehr können und wir heute von immer mehr Computern beobachtet werden, haben sie noch kein Bewusstsein entwickelt und sind nicht im Begriff, die Macht an sich zu reißen. Im Gegenteil, sie helfen uns, bewusster zu werden.

Das Ich-Bewusstsein ist eine sonderbare Eigenschaft unter Tieren. Hunde bellen einen Spiegel an, weil sie nicht erkennen, dass sie sich selbst darin sehen. Auch die meisten anderen Tiere verstehen das Prinzip des Spiegels nicht. Um das zu überprüfen, malen ihnen Wissenschaftler in einem Test mit geruchloser Farbe einen Punkt auf den Körper und setzen sie vor einen Spiegel.81 Sie wollen beobachten, ob das Tier den Punkt auf seinem Körper berührt oder auf andere Weise erkennt, dass sich der Punkt in seinem Gesicht befindet (etwa indem es sich dreht, um den Farbtupfer besser zu sehen). Schimpansen und andere Menschenaffen bestehen den Test, genau wie Delfine, Elefanten und eine Hand voll anderer Arten, aber die meisten Tiere fallen durch. Wenn sie den Tupfen berühren wollen, greifen sie in den Spiegel. Auch Kleinkinder verstehen das Prinzip erst ab einem Alter von etwa zwei Jahren. Selbst wenn sie nicht mitbekommen, wie die Farbe angebracht wird, berühren sie den Tupfen, wenn sie ihn im Spiegel sehen, und reagieren oft freudig überrascht. Das ist leider nur die erste Phase des Bewusstseins. Schon bald wandelt sich das Ich-Bewusstsein in den Fluch der Pubertät. Die unbeschwerte Selbsterkenntnis der Kindheit weicht der Scham, mit der Jugendliche jeden vermeintlichen Makel an sich entdecken. Sie werfen einen Blick in den Spiegel und stellen sich eine Frage, mit der sich Psychologen schon seit Jahrzehnten beschäftigen: Warum? Warum werden wir unserer selbst bewusst, wenn es uns nur unzufrieden macht?

Ich sehe mich, also …

In den siebziger Jahren begannen Sozialpsychologen allmählich zu verstehen, wie sich das Ich-Bewusstsein82 beim Menschen entwickelte. Robert Wicklund und Shelley Duval, die auf diesem Gebiet Pionierarbeit leisteten, wurden anfangs von ihren Kollegen belächelt, die ihre Untersuchungen für unwissenschaftlich hielten. Aber irgendwann ließen sich die Ergebnisse nicht mehr ignorieren. Wenn Menschen vor einen Spiegel gestellt werden oder wenn man ihnen sagt, dass ihr Verhalten gefilmt wird, verändern sie ihr Verhalten. Diese bewussteren Menschen zeigen bessere Leistungen bei Laborexperimenten, sie füllen Fragebögen ehrlicher aus, ihre Handlungen sind in sich stimmiger und stehen eher mit ihren Werten in Einklang.

Ein Muster ist besonders auffällig. Wenn wir einen Tisch sehen, dann denken wir vermutlich nur: »Das ist ein Tisch.« Aber wenn wir uns selbst sehen, reagieren wir nicht so neutral. Wann immer wir unsere Aufmerksamkeit auf uns selbst richten, vergleichen wir uns offenbar mit einem Wunschbild, das wir von uns selbst haben. Wenn wir uns selbst im Spiegel sehen, denken wir nicht nur: »Das bin ich.« Stattdessen denken wir eher: »Meine Haare sind ja völlig zerzaust« oder: »Das Hemd steht mir gut« oder: »Habe ich zugenommen?«. Unser Ich-Bewusstsein scheint immer mit einem Vergleich zwischen uns und unserem Ideal einherzugehen.

Die beiden Psychologen verwendeten dafür einen Begriff: Standard. Das Ich-Bewusstsein scheint mit einem Abgleich mit Standards zusammenzuhängen. Zunächst gingen sie davon aus, dass es sich bei diesen Standards um Perfektionsideale handelte. Das würde allerdings bedeuten, dass das Ich-Bewusstsein fast immer unangenehm ist, denn wir sind schließlich nie vollkommen. Das klang plausibel, vor allem wenn man versuchte, die Scham der pubertierenden Jugendlichen zu verstehen, aber aus evolutionärer Sicht schien es rätselhaft. Warum sollten unsere Vorfahren gelernt haben, sich mit unerreichbaren Maßstäben zu messen? Welchen evolutionären Vorteil sollte es haben, wenn man sich dauernd schlecht fühlt? Die Vorstellung, dass das Ich-Bewusstsein etwas Unangenehmes sein soll, passt auch nicht zu der Freude, die viele Menschen vor und nach der Pubertät empfinden, wenn sie über sich selbst nachdenken oder in den Spiegel sehen. Weitere Untersuchungen zeigten, dass viele Menschen sich gut fühlen, wenn sie sich mit dem vermeintlichen »Durchschnitt« vergleichen, der natürlich immer schlechter ist als wir selbst. Genauso können wir uns freuen, wenn wir unser gegenwärtiges mit unserem früheren Ich vergleichen, weil wir in der Regel davon ausgehen, dass wir mit zunehmendem Alter immer besser werden (auch wenn unsere Körper vielleicht nicht mehr ganz so frisch sind).

Aber auch wenn wir die Messlatte meist niedrig legen, um uns gut zu fühlen, ist das noch keine Erklärung dafür, warum die Menschen ein Ich-Bewusstsein entwickelten. Der Natur ist es egal, ob wir uns gut fühlen oder nicht, sie interessiert sich nur für Eigenschaften, die zu unserer Fortpflanzung beitragen. Was nutzt uns da das Ich-Bewusstsein? Auf der Suche nach einer Antwort stießen die Psychologen Charles Carver und Michael Scheier83 auf eine entscheidende Erkenntnis: Das Ich-Bewusstsein entwickelte sich, da es der Selbstregulation dient. Sie hatten Versuchspersonen beobachtet, die vor einem Spiegel an einem Schreibtisch saßen. Der Spiegel schien lediglich der Dekoration zu dienen, doch er hatte erhebliche Auswirkungen auf das Verhalten der Teilnehmer. Wenn sie sich in dem Spiegel sehen konnten, hielten sie sich eher an ihre Werte als an die Anweisungen anderer. Wenn sie die Anweisung erhielten, einem anderen vermeintliche Elektroschocks zu geben, dann reagierten sie zurückhaltender als eine Vergleichsgruppe ohne Spiegel. Der Spiegel veranlasste sie, eine Aufgabe gewissenhafter auszuführen. Wenn jemand sie drängte, in einem Punkt ihre Meinung zu ändern, hielten sie eher dagegen.

Eines Abends an Halloween klopften die Kinder auch an die Tür eines der Psychologen. Der fragte sie nach ihren Namen, schickte sie in ein Zimmer und sagte ihnen, sie dürften sich dort eine und nur eine Süßigkeit mitnehmen. In besagtem Zimmer stand ein Tisch mit vielen verlockenden Süßigkeiten, und da niemand die Kinder begleitete, hätten sie unbemerkt gegen die Anweisungen verstoßen können – was viele auch taten, wenn der Spiegel im Raum mit dem Gesicht zur Wand hing. Wenn sich die Kinder jedoch im Spiegel sehen konnten, widerstanden sie der Versuchung eher. Obwohl sie sich selbst in ihrer Halloween-Verkleidung sahen, fühlten sie sich offenbar von ihrem Spiegelbild ermahnt, sich an die Spielregeln zu halten.84

Diese Verbindung zwischen Ich-Bewusstsein und Selbstdisziplin ließ sich auch beim Alkoholkonsum von Erwachsenen nachweisen. Alkohol mindert bekanntermaßen die Fähigkeit zur Selbstbeobachtung;85 mit dem schwindenden Ich-Bewusstsein verlieren Trinker die Selbstdisziplin, geraten in Streit, rauchen mehr, lassen sich gehen und wachen am nächsten Morgen mit einem schlechten Gewissen auf. Das Schlimmste am Kater ist die Rückkehr der Selbstwahrnehmung, denn dann nehmen wir eine unserer entscheidenden sozialen Pflichten wieder auf: Wir vergleichen unser Verhalten mit unseren Maßstäben und denen unserer Mitmenschen.

Selbstbeobachtung bedeutet nicht nur zu erkennen, wie die Dinge stehen, sondern auch, einen Abgleich damit vorzunehmen, wie sie stehen sollten. Unsere Vorfahren lebten in Gruppen, die ihre Mitglieder dafür belohnten, dass sie sich an Werte, Normen und Ideale hielten. Wer seine Handlungen an diese Maßstäbe anpassen konnte, dem ging es besser als anderen, die nicht bemerkten, wenn sie in Fettnäpfchen traten. Das Verhalten an den Standards auszurichten, erfordert Willenskraft, doch ohne Ich-Bewusstsein ist Willenskraft nutzlos. Deshalb entwickelten unsere Vorfahren in der Savanne das Ich-Bewusstsein und deshalb besteht es auch im heutigen, oft trügerischen sozialen Umfeld fort.

Das vermessene Ich

Der englische Romanautor Anthony Trollope86 hielt es weder für nötig noch für ratsam, mehr als drei Stunden am Tag zu schreiben. Er wurde einer der bekanntesten Vielschreiber des 19. Jahrhunderts, obwohl er gleichzeitig Postinspektor war. Er stand jeden Morgen um halb sechs auf, stärkte sich mit Kaffee und las eine halbe Stunde lang, was er am Vortag geschrieben hatte, um in Stimmung zu kommen. Dann schrieb er zweieinhalb Stunden lang und stoppte die Zeit mit einer Uhr, die er vor sich auf den Schreibtisch stellte. Er zwang sich, 250 Wörter pro Viertelstunde zu schreiben. Um sein Pensum einzuhalten, zählte er sie. »Ich habe festgestellt, dass ich mit der Regelmäßigkeit einer Uhr 250 Wörter schreiben kann«, berichtete er. Bei diesem Rhythmus kam er vor dem Frühstück auf 2.500 Wörter. Das gelang ihm nicht jeden Tag – gelegentlich musste er schließlich noch auf Fuchsjagd gehen –, aber er stellte sicher, dass er jede Woche ein bestimmtes Ziel erreichte. Für jeden seiner Romane stellte er einen Arbeitsplan auf; er kalkulierte pro Woche etwa 10.000 Wörter ein und führte genauestens Buch.

»In diesem Buch notiere ich jeden Tag, wie viele Seiten ich geschrieben habe. Wenn ich einen oder zwei Tage lang bummele, dann ist das genau festgehalten: Meine Trödelei starrt mir ins Gesicht und spornt mich an, mehr zu arbeiten, um den Rückstand wieder aufzuholen«, erklärte er. »Eine Woche, in der ich nicht genug geschrieben habe, ist mir ein Dorn im Auge. Ein ganzer Monat wäre mir ein Stich ins Herz.«

Ein Dorn im Auge und ein Stich ins Herz – ein Psychologe könnte keine besseren Bilder für die Auswirkungen der Selbstüberwachung finden. Als Beobachter seiner Gesellschaft war Trollope seiner Zeit voraus. Doch die Darstellung seiner Arbeitsweise, die er in seiner posthum veröffentlichten Autobiografie beschrieb, kostete ihn seinen Ruf als ernstzunehmender Schriftsteller. Kritiker und Autoren – vor allem Autoren, die ihre Abgabetermine nicht einhielten – waren entsetzt. Wie konnte ein Künstler seine Arbeit mit der Uhr stoppen? Genie ließ sich doch nicht planen! Aber Trollope hatte in seiner Autobiografie bereits eine Antwort an seine Kritiker parat.

»Man sagt mir, diese Arbeitsweise sei eines Genies nicht würdig«, schrieb er. »Ich habe mich nie für ein Genie gehalten, aber selbst wenn, dann hätte ich mich dieser Disziplin unterworfen. Nichts ist so mächtig wie ein Gesetz, das man nicht brechen darf. Es hat die Kraft des steten Tropfens, der den Stein aushöhlt. Eine kleine Aufgabe, die täglich ausgeführt wird, bewirkt mehr als die einmaligen Heldentaten des Herkules.« Trollope war eine Ausnahmeerscheinung – kaum jemand ist in der Lage, pro Stunde tausend Wörter zu schreiben – und hätte sicher davon profitiert, hin und wieder ein wenig langsamer zu machen (und einige seiner 250 Wörter langen Abschweifungen zu streichen). Trotzdem schuf er Meisterwerke wie Die Türme von Barchester und Cecilia und führte nebenher ein angenehmes Leben. Während andere Schriftsteller ständig unter Geldnot litten und ihren Abgabeterminen hinterherhechelten, verdiente Trollope gut und war dem Zeitplan immer voraus. Während einer seiner Romane veröffentlicht wurde, hatte er schon einen oder zwei weitere fertig in der Schublade.

»Während meiner gesamten schriftstellerischen Laufbahn bin ich nicht ein einziges Mal Gefahr gelaufen, nicht rechtzeitig fertig zu werden«, schrieb er. »Ich hatte nie Angst vor Abgabeterminen. Ich hatte die Seiten immer schon lange vorher in meiner Schublade. Und das habe ich allein diesem Büchlein mit seinem Kalender und seinen Zahlen sowie den täglichen und wöchentlichen Vorgaben zu verdanken.«

Rückblickend können wir Trollope als Vorreiter sehen. Seine Uhr und sein Büchlein waren die Kontrollinstrumente des 19. Jahrhunderts und für seine Zwecke vollkommen ausreichend. Aber nehmen wir an, er würde heute am Computer arbeiten. Nehmen wir an, er würde an einem normalen Tag neben seinem Textverarbeitungsprogramm sechzehn weitere Programme benutzen und im Laufe des Tages vierzig verschiedene Internetseiten aufrufen. Und nehmen wir an, er würde alle fünfeinhalb Minuten von einer elektronischen Nachricht unterbrochen. Was würde ihm seine Uhr da nützen? Würde er mit seinem Büchlein den Überblick behalten?

Vermutlich würde er heute andere Instrumente verwenden, zum Beispiel das Programm RescueTime87, das Sekunde für Sekunde das Verhalten seiner Nutzer aufzeichnet. Die Anwender zahlen für Berichte, die ihnen genau zeigen, wie sie ihre Zeit nutzen – oft eine ernüchternde Erkenntnis. Die Statistiken zur Computernutzung aus dem vorigen Absatz wurden von RescueTime zusammengestellt und bilden das Verhalten von Hunderttausenden Nutzern ab. Tony Wright, Gründer von RescueTime, nahm verwundert zur Kenntnis, dass er fast ein Drittel seines Arbeitstages mit dem zubrachte, was er als »Info-Porno« bezeichnet – Besuche auf Websites, die nichts mit seiner eigentlichen Arbeit zu tun haben. In der Regel hielt er sich zwar nur wenige Minuten auf jeder dieser Seiten auf, aber unterm Strich summierten sie sich pro Tag auf zweieinhalb Stunden.

Diese Selbstbeobachtung erinnert Sie vielleicht an den Roman 1984 von George Orwell, doch es handelt sich um eine der Wachstumsbranchen in Silicon Valley. Mit der zunehmenden Beliebtheit von Smartphones und anderen Geräten sind wir zunehmend online, und immer mehr Menschen nutzen dies, um ihr Verhalten zu überwachen: was sie essen, wie viele Schritte sie gehen, wie lange sie Sport treiben, wie viele Kalorien sie dabei verbrennen, wie ihr Puls schwankt, wie effizient sie schlafen, wie schnell ihr Gehirn funktioniert, wie sich ihre Stimmung verändert, wie oft sie Geschlechtsverkehr haben, was sich auf ihr Konsumverhalten auswirkt, wie oft sie ihre Eltern anrufen und wie lange sie ihre Arbeit aufschieben.

Im Jahr 2008 gründeten Kevin Kelly und Gary Wolf das Internetunternehmen Quantified Self (QS)88 für Nutzer der neuen Technologien zur Selbstregulation. Die QS-Community ist nach wie vor übersichtlich, doch sie hat sich inzwischen weit über Silicon Valley hinaus ausgeweitet und findet Anhänger in zahlreichen Städten, die sich in der realen Welt treffen, um sich über Geräte auszutauschen, Daten zu vergleichen und sich gegenseitig zu ermutigen.

Internetguru Esther Dyson sieht die QS-Bewegung als ausgezeichnete Investitionsmöglichkeit und gute Sache: eine revolutionäre Branche, die Erfolg hat, weil sie uns Dinge verkauft, die ausnahmsweise wirklich gut für uns sind. Statt Ärzte und Krankenhäuser dafür zu bezahlen, dass sie unseren Körper wieder flottmachen, können wir uns selbst beobachten, um Krankheiten zu vermeiden. Statt uns der Werbeindustrie auszuliefern, die uns Junkfood und grenzenlosen Konsum andrehen will, können wir uns selbst durch Botschaften beeinflussen, die unsere Gesundheit fördern und unser Bewusstsein schärfen. »Die Werbebranche ist sehr effektiv, wenn es darum geht, uns Dinge zu verkaufen, die unsere Willenskraft aushöhlen«, meint Dyson. »Wir können dieselben Techniken verwenden, um stärker zu werden.«

Dyson ist seit jeher ein disziplinierter Mensch. Seit Jahrzehnten schwimmt sie täglich eine Stunde, doch die Disziplin fällt ihr leichter, seit sie sich mit neuen elektronischen Sensoren wie dem Fitbit-Clip, dem BodyMedia-Armband und dem Zeo-Schlaf-Stirnband kontrolliert. Diese Sensoren messen ihre Bewegungen, Hauttemperatur und -feuchtigkeit und Gehirnwellen und halten sie auf dem Laufenden, wie viel Energie sie über den Tag hinweg verbraucht und wie viele Stunden sie sich im erholsamen Tiefschlaf befindet.

»Diese Messungen wirken sich auf mein Verhalten aus«, meint sie. »Ich nehme jetzt öfter die Treppe statt den Aufzug, weil ich Punkte für die zusätzlichen Schritte sammele. Wenn ich abends auf eine Party gehe, dann sage ich mir, wenn ich jetzt gehe, dann komme ich um halb zehn ins Bett statt um halb elf. Dann schlafe ich besser und habe morgen früh bessere Schlafwerte. Das hilft mir, das Richtige zu tun, denn ich kann mein Verhalten jetzt mit den Zahlen rechtfertigen.«

Unternehmen wie Mint.com ist es zu verdanken, wenn heute immer mehr Menschen ihre Finanzen im Griff haben, doch diese Instrumente überwachen nicht nur das Verhalten. Das allein reicht nämlich meist nicht aus, wie der dritte US-amerikanische Präsident Thomas Jefferson89 erfahren musste. Jefferson zeichnete penibel jeden Cent auf, den er einnahm und ausgab; selbst am 4. Juli 1776, dem Tag, an dem seine revolutionäre Unabhängigkeitserklärung diskutiert und angenommen wurde, hielt er in seinem Haushaltsbuch fest, wie viel er für ein Thermometer und ein Paar Handschuhe ausgegeben hatte. Als Präsident rechnete er genauestens jedes Stückchen Butter ab, das er im Weißen Haus verzehrte, während er gleichzeitig den Franzosen Louisiana abkaufte. Leider verlor er dabei das große Ganze aus dem Blick. Als es ihm irgendwann einfiel, Bilanz zu ziehen, stellte er fest, dass er sich hoffnungslos verschuldet hatte. Seine Buchhalterei hatte ihm ein das Gefühl vermittelt, er habe seine Finanzen unter Kontrolle, aber das genügte nicht. Vielleicht hätte ihm eine Auswertung gut getan, wie sie Mint anbietet.

Wenn Sie Mint Zugang zu Ihren Kontoauszügen und Kreditkartenabrechnungen gewähren, zeigt Ihnen das Programm, wofür Sie Ihr Geld ausgeben und ob Sie mehr Geld ausgeben als Sie einnehmen. Mint kann Sie natürlich nicht dazu zwingen, Ihr Verhalten zu ändern (der Computer kann nur Ihre Auszüge lesen, aber er hat keinen Zugriff auf Ihr Konto), aber es kann Sie immerhin motivieren, es sich bei der nächsten Ausgabe zweimal zu überlegen. Das Programm erinnert Sie beispielsweise an »ungewöhnlich hohe Ausgaben in Restaurants«, wenn Sie mehr Geld in Gaststätten als im Supermarkt lassen. Mint verschickt nicht nur Mahnungen an das verschwenderische Gehirn, sondern belohnt auch gutes Verhalten. Es hilft Ihnen beispielsweise, kurz- und langfristige Ziele aufzustellen – in Urlaub fahren, ein Haus kaufen, für die Rente sparen –, und schickt Ihnen Berichte, die Ihren Fortschritt dokumentieren.

»Mint kann Ihnen helfen, sich ein Ziel zu setzen, einen Zeitplan aufzustellen und dann Ihre Ausgaben zu kontrollieren«, erklärt Patzer. »Wenn Sie beispielsweise im Monat 100 Dollar weniger in Restaurants ausgeben, können Sie anderthalb Jahre früher in Rente gehen oder Ihren BMW zwei Wochen früher kaufen. Das sind Ziele, die Sie ohne diese Hilfe weder aufstellen noch umsetzen würden. Sie wollen sich einen iPad kaufen, einen Kaffee trinken und mit Ihren Freunden ausgehen. Das Programm zeigt Ihnen, welche Auswirkungen Ihr kurzfristiges Verhalten auf Ihre langfristigen Ziele hat, und hilft Ihnen, Ihre Ausgaben so zu planen, dass es sich tatsächlich lohnt.«

Bislang weiß niemand, ob und wie gut das System funktioniert, denn Mint ist ein Unternehmen, kein wissenschaftliches Experiment. Es gibt allerdings einige Hinweise, dass es tatsächlich funktionieren könnte, wie Mitarbeiter feststellten, als sie das Finanzgebaren von Nutzern vor und nach ihrem Beitritt verglichen. Es war zwar nicht ganz einfach, die wirtschaftliche Erholung seit 2008 herauszurechnen, die dafür sorgte, dass die Menschen insgesamt wieder mehr Geld ausgaben. Doch die Ergebnisse zeigten, dass die Selbstbeobachtung eindeutige Vorteile bringt. Bei der überwiegenden Mehrheit der Nutzer, nämlich rund 80 Prozent, wurde nach dem Beitritt zu Mint der Aufwärtstrend bei den Ausgaben gebremst, vor allem, wenn sie sich Ziele setzten und Pläne erstellten. Die deutlichsten Auswirkungen zeigten sich bei den Ausgaben im Supermarkt, in Restaurants und bei den Kreditkartenzinsen – durch die Bank sehr sinnvolle Orte, um mit dem Sparen zu beginnen.

Wenn die neuen Mitglieder sehen, wie viel Geld sie wofür ausgeben, erschrecken sie häufig so, dass sie sofort drastische Maßnahmen ergreifen wollen. Doch der Mint-Gründer rät zu einem schrittweisen Vorgehen. »Wenn Sie zu viel und zu schnell kürzen, halten Sie es nie durch und hassen sich am Ende nur«, meint Patzer. »Wenn Sie im Monat 500 Dollar in Restaurants lassen und Ihr Budget auf 200 Dollar kürzen, dann geben Sie Ihren Vorsatz schnell auf. Aber wenn Sie auf 450 oder 400 Dollar reduzieren, schaffen Sie es, und zwar ohne Ihr ganzes Leben umkrempeln zu müssen. Im nächsten Monat können Sie wieder 50 oder 100 Dollar kürzen. Es reicht, wenn Sie jeden Monat höchstens 20 Prozent einsparen, bis Sie die Lage im Griff haben.«

Neidlose Vergleiche

Wenn Sie die ersten beiden Schritte in Richtung Selbstdisziplin unternommen haben – wenn Sie sich ein Ziel vorgenommen haben und Ihr Verhalten überwachen –, stehen Sie vor einer schwierigen Frage: Sollten Sie sich auf das konzentrieren, was Sie schon erreicht haben, oder auf das, was Sie noch vor sich haben? Auf diese Frage gibt es keine einfache Antwort, aber die beiden Möglichkeiten unterscheiden sich sehr wohl, wie Ayelet Fishbach90 von der University of Chicago zeigte. Zusammen mit ihrem koreanischen Kollegen Minjung Koo bat sie Mitarbeiter einer koreanischen Werbeagentur, ihre gegenwärtige Rolle in der Agentur und ihre laufenden Projekte zu beschreiben. Nach dem Zufallsprinzip teilte sie die Gruppe und fragte die eine Hälfte der Teilnehmer, was sie seit ihrem Eintritt in das Unternehmen erreicht hatte, während die andere Hälfte überlegen sollte, was sie noch erreichen wollte. Die Angehörigen der ersten Gruppe waren zufriedener mit ihrer Arbeit, die der zweiten jedoch motivierter, neue und schwierigere Aufgaben anzupacken. Wenn es Ihnen um Zufriedenheit geht, ist es vermutlich wichtig zu sehen, wie weit Sie gekommen sind. Aber wenn Sie sich motivieren wollen, sollten Sie in die Zukunft blicken.

So oder so kann es Ihnen helfen, sich mit anderen zu vergleichen, und angesichts der verfügbaren Daten ist das heute einfacher denn je. Mint sagt Ihnen, wie viel Sie im Vergleich zu Ihren Nachbarn oder dem Rest der Bevölkerung für Miete, Restaurants und Kleidung ausgeben. RescueTime informiert Sie darüber, wie produktiv Sie im Vergleich zum Durchschnittsnutzer sind und wie viel Zeit Sie mit sinnloser Surferei verschwenden. Auf Flotrack, Nikeplus und anderen Websites können Jogger Ihre Zeiten und Strecken mit denen Ihrer Freunde und Mannschaftskollegen vergleichen. Instrumente und Smartphone-Anwendungen helfen Ihnen, Ihren Stromverbrauch mit dem Ihrer Nachbarn zu vergleichen – und dieser Vergleich bleibt nicht ohne Folgen, wie eine Untersuchung in Kalifornien zeigte. Wenn Kunden feststellten, dass sie eine höhere Stromrechnung hatten als ihre Nachbarn, begannen sie prompt, Strom zu sparen.

Diese Vergleiche sind noch wirkungsvoller, wenn Sie Ihre Daten offen mit anderen vergleichen. Bei den Recherchen zu diesem Buch hörten wir zahlreiche Geschichten von Menschen, die von der Selbstüberwachung durch Geräte wie den Schrittzähler Pedometer profitierten. Aber die Begeisterung war größer, wenn sie ihre Ergebnisse mit einigen Freunden teilten. Dabei nutzten sie dasselbe psychologische Prinzip, das Baumeister in einem seiner ersten Experimente entdeckt hatte, noch bevor er auf das Thema Selbstdisziplin stieß: Veröffentlichte Informationen wirken stärker als private.91 Was andere über uns wissen, ist uns wichtiger, als was wir selbst über uns wissen. Ein Ausrutscher, ein Fehltritt oder ein kleiner Kontrollverlust lassen sich unter den Teppich kehren, wenn niemand etwas davon mitbekommt. Sie können ihn einfach wegerklären oder ignorieren. Aber wenn andere Menschen den Fauxpas mitbekommen, ist so etwas schwerer zu bewerkstelligen. Sie nehmen Ihnen Ihre Entschuldigungen vielleicht nicht ab, so überzeugend sie in Ihren Ohren auch klingen mögen. Und in einem sozialen Netzwerk wird es vermutlich noch schwieriger, Ihre Entschuldigungen zu verkaufen.

Aber die Öffentlichkeit ist nicht nur ein potenzieller Pranger. Sie bietet vielmehr eine Möglichkeit, Ihre Selbstbeobachtung auszulagern und sich so zu entlasten. Außenstehende können Sie oft ermuntern und auf Fortschritte hinweisen, die Sie vielleicht gar nicht mehr wahrnehmen. Eine beliebte QS-Anwendung namens Moodscope92 wurde von einem Unternehmer entwickelt, der mit seiner Depression kämpfte und seinen Zustand überwachen wollte. Er entwickelte eine Anwendung, mit der er täglich einen einfachen Test durchführen und seine Gemütslage bestimmen kann. Damit ist es ihm jedoch nicht nur möglich, sein Auf und Ab zu beobachten, sondern auch nach Mustern und Ursachen zu suchen. Außerdem richtete er eine Option ein, die es ihm ermöglicht, die Ergebnisse automatisch an Freunde zu mailen. Wenn sich seine Stimmung trübt, erhalten seine Freunde eine Nachricht und können sich mit ihm in Verbindung setzen.

»Elektronische Instrumente und Daten sind nur Katalysatoren, mit denen wir uns und andere motivieren können«, meint Dyson. »Sie müssen das Modell finden, das für Sie am besten funktioniert. Vielleicht verschicken Sie Ihre Werte an Freunde, weil Sie sich vor Ihnen nicht schämen wollen. Oder weil Sie die Mannschaft nicht enttäuschen wollen. Jeder lässt sich durch etwas anderes motivieren.«

Wenn Sie mit beiden Händen Geld ausgeben, können Sie sich kontrollieren, indem Sie einen knauserigen Freund informieren, sobald Sie auf Einkaufstour gehen. Wenn Sie sich die Muster Ihres Konsumverhaltens ansehen, können Sie die Ursachen verstehen. Tätigen Sie Spontankäufe, wenn Sie gut gelaunt sind und Ihr Wille schwach ist? Oder sind Sie ein zwanghafter Shopper und kaufen, wenn Sie sich niedergeschlagen und unsicher fühlen?

Wenn ja, dann leiden Sie unter etwas, das Psychologen als Fehlregulierung bezeichnen: die irrige Annahme, dass ein Einkauf als Stimmungsaufheller wirkt, obwohl Sie sich in Wirklichkeit danach noch schlechter fühlen.

Aber auch Geizkrägen können von der Selbstbeobachtung profitieren. Extreme Sparsamkeit stellt zwar nicht das schlimmste Problem dar, aber sie ist weiter verbreitet, als man gemeinhin annimmt. Verhaltensökonomen haben herausgefunden, dass etwa 20 Prozent der Bevölkerung von krankhaftem Geiz93 betroffen sind – mehr als von Verschwendungssucht. Hirnscans konnten den Schuldigen ausfindig machen: eine hypersensible Inselrinde, die nichts mehr erschreckt als der Gedanke, Geld ausgeben zu müssen.

Dabei handelt es sich um eine Form der Weitsichtigkeit94 (dem Gegensatz zur Kurzsichtigkeit), das heißt, wir sehen nur die Zukunft und vergessen darüber die Gegenwart. Wer unter übertriebenem Geiz leidet, kann seine Zeit vergeuden, Freunde vor den Kopf stoßen, seine Familie zerstören und sich selbst rundum unglücklich machen. Untersuchungen zeigen, dass Knicker keineswegs glücklicher sind als Geldverschwender und dass sie oft große Reue empfinden, wenn sie an all die verpassten Gelegenheiten zurückdenken. Wenn Ihnen die Schlussbilanz präsentiert wird und Sie nicht nur Ihr Vermögen, sondern Ihr ganzes Leben betrachten, dann wollen Sie nicht daran erinnert werden, dass es im Himmel keine Taschen gibt. Das Ich lässt sich nicht nur in Euro messen.