14.

19.5.2079

Die Poseidon war aufgetaucht und stampfte nun schwerfallig in der atlantischen Dünung: den Bug beharrlich nach Nordwesten gerichtet, wo wie ein aus Millionen flimmernder Facetten zusammengesetzter riesiger, gestreckter Spiegel Metropolis, die Hauptstadt der EAAU, über dem Horizont erschienen war. Hier, in dieser künstlich geschaffenen Heimstatt für über fünfzig Millionen Menschen, schlug das Herz der Drei Vereinigten Kontinente, hier liefen die Nervenstränge zusammen. Metropolis war Sitz der Regierung und der wichtigsten Behörden – und darüber hinaus war es ein kulturelles Zentrum, das seinesgleichen suchte. 

Der Navigationsoffizier wollte mir sein Glas reichen, doch ich winkte ab. Hinter mir lag eine schlaflose Nacht – nicht anders als für Romen und Kapitän Utrecht. Systematisch hatten wir mit Hilfe eines Computers alle möglichen Varianten einer Überrumpelung durchgespielt – doch keine davon hatte uns zu befriedigen vermocht. Man konnte Dr. West niederschießen, niederschlagen oder durch Gas betäuben – aber in keinem Fall ließ es sich verhindern, daß er seine Drohung verwirklichte. Das Glas der Phiole war hauchdünn, und ein letztes Zucken seiner Finger würde es zerdrücken.

Auf jedem anderen Schiff wäre es dann vielleicht möglich gewesen, den freigewordenen Goodman-Bazillus durch das Schließen der Schotten im Wohndeck zu isolieren. Auf der Poseidon schied dies aus. Ihr schwacher Punkt war die Klimaanlage; der zirkulierende Luftstrom mußte den Bazillus unweigerlich über das ganze Schiff verteilen, und die Seuche würde, nicht anders als auf Aeskulab, ihren Lauf nehmen, bis keiner von uns mehr am leben war.

Immerhin hatte die Poseidon, während Dr. West schlief, zwei Funksprüche abgesetzt. Die Antworten trafen ein, lapidar und ratlos.

Der Funkspruch der Admiralität war an Kapitän Utrecht gerichtet und lautete:

+++ STELLE WEITERES VORGEHEN IN IHR ERMESSEN . . . 

John Harris wies mich an:

+++ NERVEN BEHALTEN UND ZEIT GEWINNEN . . .

 

Kurz nach neun Uhr erschien Kapitän Utrecht – frisch rasiert, in untadeliger Uniform – in der Zentrale, begrüßte Romen und mich mit einem knappen Nicken, warf einen kurzen Blick auf Metropolis und wandte sich dann an den Navigationsoffizier. 

»Frage: Fahrt voraus?«

Der Navigationsoffizier überprüfte das Log und erwiderte: »Einen Knoten, Sir – gerade genug, um uns auf der Stelle zu halten.«

Kapitän Utrecht enthielt sich jeglichen Kommentars, doch ich sah ihm an, daß er zu einem Entschluß gekommen war. Bis zu diesem Punkt hatte er sich Dr. West gefügt. Nun begann er sich zu widersetzen. Der Umstand, daß die Poseidon auf der Stelle stampfte, war dafür ein deutliches Indiz. Ich vernahm ein schlurfendes Geräusch und drehte mich um. Dr. West, in der Hand die Phiole, betrat mit zorniger Miene die Zentrale.

»Kapitän, die Poseidon macht keine Fahrt mehr. Was hat das zu bedeuten?«

Kapitän Utrecht verschränkte die Arme auf dem Rücken.

»Das bedeutet, daß wir Ihren Befehl soweit ausgeführt haben, Doktor. Metropolis ist in Sicht – und wenn Sie nicht von selbst wach geworden wären, hätte ich Sie in wenigen Augenblicken wecken lassen.«

Dr. West ließ seinen Blick mißtrauisch über die Anwesenden schweifen.

»Hier ist doch ein Komplott geschmiedet worden! Wann machen wir fest?«

Kapitän Utrechts Stimme klang bestimmt: »Überhaupt nicht. Seit einer Stunde führt die Poseidon die gelbe Quarantäneflagge. Sobald sie die Dreimeilengrenze überfährt, wird sie unter Beschuß genommen und versenkt.«

Dr. West bekam weiße Lippen. Er nahm die Brille ab, hauchte sie an, rieb sie blank und setzte sie wieder auf. Seine Hand zitterte. 

»Das glaube ich Ihnen nicht«, sagte er. »Doch selbst wenn dem so wäre – ich werde in Metropolis an Land gehen. So war es geplant, und so wird es getan. Also, lassen Sie Fahrt aufnehmen.«

»Nein«, sagte Kapitän Utrecht.

Dr. West hatte sich wieder gefaßt. Er hob die Phiole und hielt sie nun zwischen zwei spitzen Fingern. Unwillkürlich trat ich einen Schritt zurück. 

»Nun gut, Kapitän«, sagte Dr. West, »wie Sie wollen. Aber Ihre Rechnung geht nicht auf. An Bord dieses Schiffes gibt es ein halbes Hundert Matrosen – und das sind Männer, die am Leben hängen. Vielleicht sind sie von Ihnen bisher nicht in Kenntnis gesetzt worden – vielleicht sind sie ahnungslos und wissen nicht, in welcher Gefahr sie schweben. Ich werde es ihnen sagen. Ich werde den Leuten im Maschinenraum genau eine Minute Zeit geben, um wieder Fahrt aufzunehmen.«

Kapitän Utrecht rührte sich nicht. Seine Miene war frostig. Dr. West streckte die freie Hand aus und legte sie auf die Taste.

»Kapitän – es wird, sobald Ihre Leute die Wahrheit erfahren, eine Meuterei geben!«

Kapitän Utrecht schwieg.

Dr. West verzog das Gesicht und drückte die Taste. In der Zentrale begann ein rotes Licht zu flackern. Dr. West zog die Hand zurück und runzelte unwillig die Stirn.

»Ich verlange eine Verbindung zum Maschinenraum!«

Kapitän Utrecht brach das Schweigen. Zu meiner Bestürzung sagte er: »Sie haben mich überzeugt, Doktor.« Er wandte sich an den Navigationsoffizier. »Lassen Sie Fahrt aufnehmen – volle Kraft voraus.«

Dr. West war befriedigt. Er kicherte und lobte: »So ist es gut. Ich ordne an, und Sie gehorchen. Auf diese Weise bleiben wir Freunde. Geben Sir mir Bescheid, sobald Sie festgemacht haben. Ich werde inzwischen meine Sachen holen.«

Dr. West zeigte mir ein triumphierendes Lächeln, machte kehrt und kämpfte sich kichernd den schwankenden Niedergang hinab. Auf Kapitän Utrechts Stirn zeigte sich Schweiß. 

Romen fragte leise: »Es war die falsche Taste – nicht wahr?«

Kapitän Utrecht sah auf die Uhr. »Ja. Er hat den atomaren Antrieb auf Selbstvernichtung geschaltet. Ich war schon immer der Ansicht, daß die Taste besser gesichert sein müßte. Aber die Poseidon ist ein altes Schiff. Man hielt es wohl nicht mehr für erforderlich.«

Mir stockte der Atem. Mühsam quälte ich mir die Frage ab: »Haben wir noch Zeit, das Schiff zu verlassen, Kapitän?«

»Etwas mehr als vier Minuten«, antwortete Kapitän Utrecht – und dann kam plötzlich Bewegung in ihn. Er wandte sich an den Navigationsoffizier. »Verständigen Sie die Admiralität und geben Sie stummen Alarm: Alle Mann von Bord!«

Der Navigationsoffizier bestätigte: »Aye, aye, Sir.«

Ich starrte auf die Flurplatten, auf denen ich stand. Sie wirkten fest und solide, gleichsam für die Ewigkeit bestimmt, und doch war der atomare Vulkan, der sie verzehren sollte, bereits angeheizt, und alles, was darauf hinwies, war das flackernde rote Licht.

Ein Tastendruck hatte genügt, um die Energien, die dem Antrieb dienten, umzuwandeln in Energien der Zerstörung. Es gab, wie ich wußte, eine strikte Order der Admiralität: Kein Schiff durfte in die Hand der VORs fallen. Der todbringende Mechanismus, einmal angelaufen, ließ sich nicht mehr abstellen. 

Kapitän Utrecht verließ die Zentrale. Im Abgehen rief er: »Alle Mann von Bord! Das gilt auch für Sie.«

Romen stieß mich an. »Mark –«

Ich rannte los. Die Räumung des Schiffes war bereits in vollem Gange. Männer mit Schlauchbooten und Schwimmwesten eilten zum Ausstieg. Ich kämpfte mich gegen den Strom und erreichte das Wohndeck. 

Ein breitschultriger, hünenhafter Bootsmann vertrat mir den Weg. »Die andere Richtung, Sir.«

Zwei flüchtende Matrosen zwängten sich vorbei. Danach kam niemand mehr.

Ich fragte: »Ist noch wer unten?«

Der Bootsmann sah sich um.

»Nein, Sir. Von uns keiner. Nur der Passagier, dieser Dr. West.«

Ich zeigte auf das Schott. »Läßt sich das verschließen?«

»Nur zuschrauben, Sir. Warum?«

Der Bootsmann gab sich alle Mühe, höflich und gelassen zu erscheinen, doch seine Nervosität war deutlich zu spüren. Ich stand ihm im Weg und hinderte ihn am Verlassen des sterbenden Schiffes. Aber noch wurde er benötigt. Ich warf einen Blick auf seine muskelschwellenden Oberarme. 

»Dann schrauben Sie's zu – so fest Sie können!«

Der Bootsmann zögerte. »Sir, aber Dr. West –«

»Zuschrauben!« herrschte ich ihn an. »Befehl vom Kapitän. Zuschrauben!«

Der Bootsmann gehorchte. Das Schott krachte zu. Unter den prallwerdenden Muskeln des Seemannes drohte seine Jacke zu platzen, als er das eiserne Rad zuschraubte.

Aufatmend trat er zurück.

»Das«, sagte er, »kriegt jetzt so leicht niemand mehr auf.«

»Verschwinden Sie!« sagte ich. 

Der Bootsmann ließ sich das nicht zweimal sagen. Er zwängte sich an mir vorbei und rannte nach oben. Ich hatte volles Verständnis dafür. Besser noch als ich wußte er, was in wenigen Augenblicken mit diesem Schiff geschehen würde. Auf der anderen Seite des Schotts hämmerten Fäuste. Wie aus weiter Ferne vernahm ich eine wimmernde Stimme: »Mark! Mark, mach auf! Um Himmels willen, das kannst du mir doch nicht antun!«

Ein Lautsprecher brüllte. Ich erkannte die Stimme des Kapitäns: »Letzte Aufforderung zum Verlassen des Schiffes! Alle Mann von Bord! Ich wiederhole: Alle Mann von Bord!«

Ich sagte leise: »Leben Sie wohl, Dr. West!« – machte kehrt und rannte den Niedergang hinauf. Vielleicht weinte ich. Nat war nie ein kräftiger Mann gewesen.

Die Schlauchboote hatten bereits abgelegt. Nur Kapitän Utrecht und Romen befanden sich noch an Deck.

»Allein?« fragte Romen.

»Allein!« sagte ich.

Kapitän Utrecht legte mir einen Arm um die Schulter. Ich dachte weniger an Dr. West. Ich dachte an den Goodman-Bazillus, der auf dem todgeweihten Poseidon zurückblieb. Bald würde es ihn nicht mehr geben. Meine Arbeit war getan. Kapitän Utrecht stieß mich über Bord. Ich tauchte unter, schluckte Wasser und strampelte mich zurück an die Oberfläche. Wir schwammen Seite an Seite: Kapitän Utrecht, Romen und ich. Von irgendwoher stieß eine flinke Barkasse auf uns zu, und kräftige Matrosenhände zogen uns nacheinander über die Reling.

Die Barkasse hielt mit voller Fahrt auf Metropolis zu. Ich stand am Heck, in meine triefendnassen Kleidern, und blickte zurück. Die Poseidon schien dem ihr zugedachten Schicksal zu trotzen. In der hohen Dünung tauchte sie gleichmäßig auf und nieder.

Eine Welle klatschte mir ins Gesicht und raubte mir die Sicht. Als ich meine Augen trockengerieben hatte, war die Poseidon eine weißglühende Fackel auf der grauen See. Sie explodierte nicht, wie ich befürchtet hatte. Sie brannte lediglich von innen heraus aus – aufgeheizt durch eine Glut, wie sie sonst nur die Sonne kennt. Als sie zu schmelzen begann, verwandelte sich das Wasser um sie herum in einen brodelnden Hexenkessel.

Kapitän Utrecht, der neben mir stand, schluckte laut und wandte sich ab.

Ich wußte, wie er sich fühlte. Soeben hatte er sein Schiff verloren. Worte konnten ihm nicht helfen. 

Romen stieß mich an. Er und ich gingen nach vorn. Die Barkasse lief gerade in den Hafen ein. Ich erkannte John Harris. Er lehnte am Helikopter, der ihn auf die Mole hinausgetragen hatte. Ich versuchte, in seiner steinernen Maske zu lesen. Die Gefahr, die vom letzten Mann des gescheiterten VEGA-Projekts Aeskulab ausging, war gebannt, aber nicht alles war so gelaufen, wie Harris es gewollt hatte. Der Fall Dr. West hatte aufgehört, ein VEGA-internes Geheimnis zu sein.

Noch während ich darüber nachdachte, entdeckte ich einen kupferroten Haarschopf, der neben Harris' Schulter im Wind wehte, und ich glaubte auch, ein Paar seegrüner Augen zu sehen, das mir lächelnd entgegenblickte.

Die Barkasse schob sich an die Kaimauer – doch noch immer war mir, als ob ich träumte. Neben John Harris stand Ruth O'Hara, meine geliebte Frau, und winkte.

Ich wurde wach, sprang an Land und rannte auf sie zu.