4.

5.4.2079

Im chromglänzenden Kontor der halbstaatlichen Ice-Shipping-Company in Toronto geriet ich, nachdem man mich von einer Tür zur anderen geschickt hatte, schließlich an die richtige Instanz. Der Personalchef war eine sehr anziehende rothaarige junge Dame mit zur Haarfarbe passenden überlangen Fingernägeln. Ein längliches Schildchen über ihrer Brust verriet ihren Namen: Mrs. Baxter. 

Mrs. Baxter prüfte meinen Ausweis und mein Empfehlungsschreiben, reichte mir beides zurück, bot mir einen Platz an und kam zur Sache. 

»Was kann ich für Sie tun, Commander?«

Ich erklärte es ihr.

»Ich bin auf der Suche nach Tanja Grusinow. Soviel ich weiß, ist sie bei Ihnen beschäftigt.«

Mrs. Baxter wiegte ein wenig den Kopf. 

»Im Prinzip«, sagte sie, »trifft das schon zu. Nur haben Sie insofern Pech, als Miss Grusinow nicht in Toronto ist. Würden Sie mir verraten, Commander, worum es überhaupt geht?«

Ich machte ihr einen Vorschlag.

»Sie verraten mir, wo ich Tanja Grusinow finden kann – und dann wird sie schon von mir erfahren, worum es geht.«

Mrs. Baxter stand federnd auf und trat mit einem gekonnten Hüftschwung vor eine erleuchtete Kartenwand. Ihre beiden schlanken Hände legten sich auf ein Seegebiet im Indischen Ozean, knapp oberhalb der Antarktis.

»Etwa hier«, sagte sie leichthin. »Miss Grusinow bekam das Büroleben satt und hat darum vor rund einem halben Jahr ihr Ice-Skipper-Patent gemacht – falls Sie das noch nicht wissen. Vielleicht wollte sie damit auch ihrem Freund imponieren.«

»Dr. West?«

»Kann sein, daß er so heißt. Er war mal hier, um sie abzuholen, ein Biochemiker mit einer schrecklich geheimen Tätigkeit. Auf jeden Fall wollte er nichts darüber erzählen.«

Mrs. Baxter setzte sich wieder und schlug ihre aufregenden Beine übereinander. Der Abstecher nach Toronto, stellte ich fest, begann sich auszuzahlen. Tanja Grusinow, die weizenblonde Russin, war nach wie vor Nats Freundin. Ich mußte mit ihr sprechen. Wenn überhaupt ein Mensch wußte, wo sich Nat verbarg, dann war das sie.

»Sie hat also ihr Patent gemacht. Ist das nicht etwas ungewöhnlich für eine Frau?«

Mrs. Baxter blitzte mich an. 

»Die Ice-Shipping-Company, Commander, beschäftigt nur Frauen. Mir scheint, Sie sind auf dieser Erde nicht mehr ganz daheim.«

Die reizende Mrs. Baxter hatte damit nicht ganz unrecht. Die meiste Zeit meines Lebens verbrachte ich unter den Sternen. 

»Und weiter?« fragte ich.

»Nichts weiter. Miss Grusinow ist im Augenblick unterwegs mit IT 114.«

»Womit?«

»Ice-Truck eins-eins-vier«, sagte Mrs. Baxter geduldig. »Wirklich, Commander, Sie sind, was unsere Tätigkeit anbetrifft, nicht ganz auf dem laufenden.«

Ich lachte und schlug vor: »Wie wär's, wenn Sie meine Bildung vervollständigten?«

Sie schenkte mir ein strahlendes Lächeln. 

»Sehen Sie«, sagte sie, »unser Unternehmen handelt unter anderem mit den VOR – aufgrund eines im Jahre 2064 geschlossenen Abkommens, das bisher noch immer strikt eingehalten worden ist, allen Spannungen und Reibereien zum Trotz. Wir kümmern uns nicht um Politik.«

»Und was«, fragte ich, »verkaufen Sie?«

»Eisberge«, sagte Mrs. Baxter. »Wir schneiden sie in der Antarktis zurecht, überziehen sie mit einer sonnenabweisenden, isolierenden Schicht und verschiffen sie dann zu den Dürregebieten der VOR, vornehmlich in den Persischen Golf.

Bis vor kurzem wurde das noch mit vorgespannten Schleppern getan – doch seitdem unsere Techniker einen Weg gefunden haben, die Eisberge zu motorisieren, so daß sie sich aus eigener Kraft fortbewegen, ist alles viel einfacher geworden.«

Wahrscheinlich kam ich Mrs. Baxter vor wie ein Bauer vom Land, als ich meine nächste Frage stellte: »Und was fangen die VOR mit den Eisbergen an?«

Mrs. Baxter seufzte.

»Sie tauen sie auf und bewässern damit ihre Felder. Die Eisberge der Antarktis bestehen durchweg aus Süßwasser.«

Ich dachte an die Zeit, die mir wie Sand durch die Finger rann. Seit achtundvierzig Stunden befand ich mich auf der Suche nach Dr. West – und bisher hatte ich nicht mehr von ihm gefunden als eine vage Spur.

Ich sagte: »Tanja Grusinow macht also eine solche Reise mit?«

Mrs. Baxter wies mich zurecht: »Sie macht sie nicht nur mit. Sie kommandiert sie sogar. Sie ist der Skipper von IT 114 – und der wiederum hat die antarktischen Gewässer vor einer guten Woche verlassen.«

»Und wie«, erkundigte ich mich, »ist seine augenblickliche Position?«

Mrs. Baxter zuckte auf höchst anmutige Weise mit den Schultern. 

»Ich weiß es nicht.«

»Sie wissen es nicht?«

»Ich weiß es wirklich nicht, Commander. Wir haben seit zwei Tagen keine Verbindung mehr zu IT 114. Wir wissen nicht einmal, ob er noch fährt oder ob er mit Maschinenschaden in der Strömung driftet …«

 

Schon von weitem hörte ich die muntere, übersprudelnde Melodie. Romen hockte auf dem ausgefahrenen Trittbrett der Diana und spielte Mundharmonika. Als er mich bemerkte, klopfte er das Instrument aus und steckte es ein. Er stand auf. 

»Erfolg gehabt, Mark?«

»Teils, teils. Zumindest weiß ich jetzt, wo Tanja steckt.« 

Romens Daumen wies über seine Schulter hinweg auf die Diana. 

»Geht's weiter?«

»Weiter geht's.«

»Und wohin?«

»Wir suchen IT 114.«

»Was soll das sein?«

»Ein Gegenstand, den Leute, die größer sind als du, in ihren Whisky tun. Ein Eisberg.«

»Und wo?«

»Im südlichen Indischen Ozean, knapp oberhalb der Antarktis.«

Romen starrte mich an, als wäre ich geistesgestört.

»Sagtest du südlicher Indischer Ozean, Mark? Die VORs werden uns ganz hübsch auf die Finger klopfen.«

»In diesem Fall nicht«, sagte ich. »Die Ice-Shipping-Company ist gut Freund mit ihnen. Wir sind im Besitz einer Sondergenehmigung, um auf IT zu landen, und die VORs sind davon unterrichtet. Sie sind auf diese Eisberge angewiesen, und  sie werden nichts tun, um das Geschäft zu stören.«

Romen wischte sich über die Stirn. 

»Na, hoffentlich«, sagte er. »Du kennst doch wohl die alte Regel?«

»Welche?«

Romen kletterte bereits in die Diana. 

»Wer dem Schlitzauge traut, hat die Falschheit zur Braut.«

Hinter ihm her zwängte ich mich in das enge Cockpit.

»Dummes Zeug!« sagte ich. »Du bist mit einer Schlitzäugin verheiratet. Hast du das je bereut?«

Romen zeigte mir die blitzenden Zähne.

»Das, mein Lieber, ist etwas anderes. Ko-Ai ist die große Ausnahme. Sie liebt mich. Aber ich wage in Abrede zu stellen, daß die große Masse der VORs mich liebt.«

Minuten später hob die Diana ab, stieß steil in den Himmel, beschrieb einen Halbkreis über Toronto, fegte hinweg über die nordamerikanische Seenplatte und ging auf südlichen Kurs.

Kurz vor Mittag überflog die Diana die Philippinen, die sich unter einer dichten, undurchdringlichen Wolkendecke verbargen, und um 12.27 Uhr befand sie sich mit südwestlichem Kurs über dem Westaustralischen Becken.

Hier wurde sie von einer plötzlich niederstoßenden Raumpatrouille der VOR unter die Lupe genommen. Die Pagoden drehten jedoch sofort wieder ab, nachdem Captain Romen unser Erkennungszeichen signalisiert hatte. Auf senkrechtem Feuerstrahl zogen sie wieder den Sternen entgegen. Eine Viertelstunde später sichteten wir den ersten nordwärts ziehenden Ice-Truck – aber wie uns seine ausgelegte Nummer verriet, war er nicht der gesuchte.

Bis zum Abend hatten wir ein volles Dutzend anderer, uns nicht interessierender Ice-Trucks überflogen und fast das ganze in Frage kommende Seegebiet abgesucht, und meine Hoffnung, IT 114 noch an diesem Tage zu finden, begann zu sinken – da tauchte er in der Dämmerung vor uns auf. IT 114 war ein riesiger Brocken: gut einen halben Quadratkilometer groß und an die hundert Meter hoch. Die restlichen sechs Siebtel verbargen sich unter der Wasseroberfläche.

Auf den ersten Blick war zu sehen, daß er keine Fahrt machte; es fehlten die beiden charakteristischen Blasenspuren. Das erklärte, weshalb wir ihn nicht auf Anhieb gefunden hatten. Er war von der üblichen Route abgewichen und driftete nun in westlicher Richtung.

Romen zog die Diana tiefer und überflog den Eisberg mit verminderter Geschwindigkeit. Auf der silbrig überstrichenen, glatten Oberfläche, die keinerlei Unebenheiten aufwies, war die übliche Markierung ausgelegt: im Zentrum erhob sich das aufgesetzte Ruderhaus mit der Antennenanlage und dem Radarturm.

Rund dreißig Meter davon entfernt stand eine niedrige, langgestreckte Wohnbaracke. Niemand winkte, niemand sah zu uns auf. 

Romen wandte mir sein Gesicht zu. 

»Sieht nach einer Panne aus, Mark.«

»Hm«, machte ich. 

»Stimmt es, daß da nur Weiber an Bord sind?«

»Eisgekühlte«, sagte ich. »Du wirst dich erkälten.«

Romen lachte.

»Ich werde sie schon auftauen, Mark. Ich bin ein heißblütiger Zigeuner.«

»Wenn das so ist«, sagte ich, »wirst du keinen Fuß auf diesen Eisberg setzen. Seine Bestimmung ist es, heil und ungeschmolzen im Persischen Golf anzukommen. Ich habe es Mrs. Baxter in die Hand versprochen.«

Seitdem wir wieder zusammen waren, redeten wir nichts als dummes Zeug. Für mich war es heilsame Medizin. Alles, was mich von meinen Erinnerungen ablenkte und am Grübeln hinderte, war gut.

Romen zog die Stirn kraus. 

»Was ist – wollen wir landen?«

Ich warf einen Blick auf die rasch dunkler werdende See und nickte. 

»Packen wir's!«

Romen war ein hervorragender Pilot – auf der Erde ebenso wie unter den Sternen. Es war ein guter Entschluß gewesen, mich von ihm begleiten zu lassen. Zumindest nahm er mir die lästige Fliegerei ab. Ohne ihn hätte ich mich schon längst verausgabt. Noch immer ermüdete ich rasch. Nur sehr langsam und zögernd kehrten meine Energien zurück – mit ihnen zugleich jedoch auch mein Lebenswille.

Knapp über dem Eisberg zog Romen die Diana noch einmal hoch und zwang sie in die Schwebe. Er deutete abwärts.

»Sieht aus, als ob schon wer dagewesen ist.«

Die Sicht wurde von Sekunde zu Sekunde schlechter. Ich starrte auf eine kreisrunde Schmelzstelle, die gerade noch zu erkennen war. Ihr Durchmesser mochte sechs Meter betragen und entsprach dem Fuß eines mittelgroßen Schiffes für erdnahe Einsätze.

»Wenn du mich fragst«, sagte Romen, »ist es eine Tornado gewesen. Auf jeden Fall ist das genau ihre Schuhgröße.«

Ein Gefühl des Unbehagens überkam mich plötzlich. Ich mußte an den vertraulichen Bericht denken, den Harris mir zu lesen gegeben hatte. Zusammen mit Dr. West war auch die zum astralen Labor Aeskulab gehörende Raumfähre verschwunden – und das war gleichfalls eine Tornado gewesen.

Nun, Romen mochte sich irren, oder aber wir hatten es mit einem zufälligen Zusammentreffen zu tun. Nat war intelligent genug, um keine so auffälligen Spuren zu hinterlassen. Früher oder später, darüber war er sich gewiß im klaren, mußte ein jeder, der nach, ihm fahndete, sich auch für Tanja Grusinow interessieren. Ich war nicht der einzige, der um ihre Beziehung wußte.

»Schön«, sagte ich. »Ich hab's zur Kenntnis genommen.«

»Und machst dir jetzt darüber Gedanken?«

»Grischa«, sagte ich, »setz endlich auf, damit wir's hinter uns bringen – oder du zwingst mich, verdammt noch mal, gleich hier auszusteigen.«

Romen musterte mich von der Seite. 

»Warum nicht.« meinte er. »Wer Eisberge zum Whisky nimmt, hat auch lange Beine. Nur zu, Mark!«

Er spitzte die Lippen zu einem spöttischen Pfiff und manövrierte die Diana mit unnachahmlicher Eleganz hinab auf das Eis.

Nachdem das Triebwerk verstummt war, warf er die Gurte ab und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.

»Vergiß Blumen und Champagner nicht!« sagte er. »Du willst doch einen bleibenden Eindruck hinterlassen.«

Ich streifte den Helm vom Kopf, fuhr die Schleuse auf und kletterte hinaus.

Der Himmel war bedeckt, die Dunkelheit nahezu vollkommen. Ich hörte das Donnern der Wellen, die sich tief unter mir am Fuß des Eisberges brachen, und das Rauschen und Winseln des Windes. Ruderhaus und Brücke waren unbeleuchtet. Auch führte IT 114 – wie mir nun plötzlich, mit einiger Verspätung auffiel – nicht die vorgeschriebenen Positionslichter.

Mein Unbehagen verstärkte sich. Romen gesellte sich zu mir und ließ seine Lampe aufleuchten.

»Komischer Empfang!« sagte er.

»Was hast du erwartet?« fragte ich. »Eine Schar jubelnder Damen?«

»Ich bin bescheiden«, sagte Romen. »Ein halbes Dutzend hätte genügt.«

»Die ganze Besatzung«, klärte ich ihn auf, »besteht aus vier Personen: Skipperin, Erste Offizierin, Maschinistin und Köchin.«

Romen ließ den Lichtschein wandern. 

»Nun«, meinte er, »wie dem auch sei – auf jeden Fall haben unsere Damen einen gesunden Schlaf. Man sollte doch glauben, daß eine landende Diana selbst Tote aufweckt. Oder macht sie etwa keinen Krach?«

Romen plauderte, aber ich spürte, daß auch er beunruhigt war. Wir waren auf der Westseite des Eisberges gelandet, und bis zum Ruderhaus und zur Baracke mochten es dreihundert Meter sein. Romen ging voraus und leuchtete. Der Wind schnitt uns ins Gesicht. Er war kalt und stürmisch. Irgendwo in unserer Nachbarschaft braute sich ein mächtiges Tief zusammen.

Nachdem wir drei oder vier Dutzend Schritte zurückgelegt hatten, blieb Romen plötzlich stehen. 

»Mark!«

»Was ist?«

»Sieh dir das an!«

Romens Stimme klang rauh.

Ich holte ihn ein, und das Entsetzen schnürte mir die Kehle zu. Auf der schwarzen Markierung lag in verkrümmter Haltung eine unbewegliche weibliche Gestalt. Sie trug die marineblaue Uniform ihres Unternehmens. Drei goldene Balken am Ärmel wiesen sie aus als die Erste Offizierin.

Von oben war sie auf der dunklen Unterlage nicht zu sehen gewesen. Neben ihrer rechten Hand lag ein Walkie-Talkie – als habe sie, bevor sie starb, mit letzter Kraft versucht, Verbindung aufzunehmen. Romen leuchtete sie an.

Die Tote war noch jung: eine dunkelhaarige, hübsche Frau Mitte Zwanzig. 

»Mark, was hat das zu bedeuten?«

Ich schwieg. Meine Gedanken arbeiteten. Ich glaubte zu wissen, was es bedeutete. Genauso hatte zuletzt Dr. Goodman dagelegen. Aber noch weigerte ich mich, das auszusprechen. Nat war ein lieber, empfindsamer Junge – und mit diesem Bekenntnis zu ihm wollte ich ihm gegenübertreten. Aber wie, wenn nicht durch ihn, sollte die Seuche auf diesen entlegenen Eisberg geraten sein?

Romen trat an die Tote heran und wollte sich niederbeugen. Ich schrie ihn an: »Nicht anfassen, Grischa! Um Himmels willen – nicht anfassen! Und auch nicht näher herantreten!«

Romen fuhr zurück wie von der Tarantel gestochen. 

»Du glaubst doch nicht …«

Er sprach es nicht aus. Es war überflüssig. Er hatte begriffen. Im Halbdunkel sah ich sein verstörtes Gesicht.

Auf einmal glaubte ich in einiger Entfernung von uns ein gedämpftes böses Lachen zu hören. Romen legte den Kopf schräg – aber das Lachen wiederholte sich nicht. Romen drehte sich zu mir herum.

»Mir scheint, ich fange an, hysterisch zu werden, Mark. Wollen wir uns die Baracke vornehmen?«

Ich war schon auf dem Weg dorthin. Um die Tote machte ich einen weiten Bogen – auf der dem Wind zugewandten Seite. Mein Verstand sagte mir, daß ich nicht zu zweifeln brauchte. Mein Gefühl sprach dagegen. Mein Gefühl redete mir ein, daß es auf dieser Erde Tausende von tückischen Krankheiten gab.

Aber da war auch diese Schmelzspur – und sie war unbestreitbar von einer Tornado in das Eis gebrannt worden.

Mich überlief ein kalter Schauer. Wir gingen langsam. Romen leuchtete. Die aluminiumfarbene Eisfläche war eine verwunschene, menschenleere Einöde. Der Wind frischte noch immer auf. Ich vermißte meine heizbare Kombination.

Vor der Baracke blieben wir stehen. Ein Schatten bewegte sich seufzend auf uns zu – aber das war nur die Tür, die im Winde schwang. Die Tür stand auf. Ein böseres Vorzeichen konnte es nicht geben. 

Romen sagte: »Hallo!«

Er bekam keine Antwort. Ich hatte es auch nicht erwartet. Romen fluchte und wollte eintreten, aber ich hielt ihn zurück. 

»Laß das!«

Er stöhnte vor Elend. 

»Aber wir können doch nicht einfach …«

Ich nahm ihm die Lampe aus der Hand und leuchtete durch eines der Fenster. Dahinter lag die Kombüse. Sie war leer. Auf dem Herd stand ein Topf, aus dem heraus der Griff einer Schöpfkelle ragte.

Ich ging weiter und leuchtete in das nächste Fenster. Danach wußten wir Bescheid. Auf dem Fußboden lagen – in der gleichen verkrümmten Haltung wie die Erste Offizierin – zwei weitere tote Frauen. Hinter mir vernahm ich ein Würgen. Romen wandte sich ab.

Keine der Toten war Tanja Grusinow, Nats Freundin, die Frau, die ich suchte.

Ich sagte: »Komm!« – und wandte mich dem Aufstieg zum Ruderhaus zu.

Kurz davor blieb ich wie angewurzelt stehen. Um ein Haar hätte ich die Lampe fallen lassen. Aus dem Ruderhaus heraus schob sich, knapp über der Schwelle, ein Arm mit einer zerbrochenen Phiole.

Ich rief: »Tanja!« und wollte schon die eisernen Stiegen hinaufeilen, als Romen mich zu fassen bekam. Seine Hand umklammerte meine Schulter. »Mark, es hat doch keinen Sinn. Du kannst nicht helfen.«

Er hatte recht. Niemand konnte helfen – aber jeder Schritt weiter mußte den sicheren Tod bedeuten: unerbittlich und qualvoll. Dem Arm folgte ein Gesicht. Tanja Grusinow kam auf Händen und Füßen aus dem Ruderhaus gekrochen. Irgend etwas – eine letzte, wilde, verzweifelte Energie trieb sie auf das Licht und auf unsere Stimmen zu. Ich erkannte sie an ihrem weizenblonde Haar. Auf ihrem Gesicht lag jenes trügerische, verzerrte Lächeln, das ich schon einmal gesehen hatte. Mit letzter Kraft – wie um ihre Anklage zu unterstreichen – hob sie die Phiole. 

Ich fragte: »Wer hat dir das gegeben?«

Ihre Lippen bewegten sich. Ihre Antwort ließ mich wissen, daß Tanja Grusinow mich nicht erkannte. Sie vermied den uns beiden vertrauten Kosenamen. 

»Dr. West!«

Ihre Hand wurde kraftlos. Die Phiole fiel hin und rollte die Stufen hinab. Ich sprang zur Seite.

Tanja Grusinow rang nach Luft; ihr Gesicht verzerrte sich. Falls ich noch etwas von ihr erfahren wollte, mußte ich mich beeilen. 

»Tanja! Hörst du mich? Tanja!«

Sie bäumte sich auf und griff mit beiden Händen nach ihrem Hals.

»Tanja, um Himmels willen, gib noch nicht auf! Wo ist Nat? Wohin ist er von hier geflogen?«

In Tanja Grusinows Augen zeigte sich plötzliches Erkennen. Ein letztes Mal bewegten sich ihre Lippen: »Dal Bor  … dreizehn …«

Dann kippte sie vornüber und rührte sich nicht mehr. Ich beeilte mich, in den Wind zu treten, möglichst weit vom Ruderhaus entfernt. Romen fragte tonlos: »Nun gut, er war hier. Aber warum hat er sie alle umgebracht? Warum?«

Ich hatte es längst begriffen, und ich sagte es ihm. Dr. West – von diesem Augenblick an nannte auch ich ihn so: fremd, kühl und distanziert – war auf IT 114 nur zwischengelandet, um auch die letzten Brücken, die ihn mit der Menschheit verbanden, abzubrechen, um alle Spuren hinter sich zu verwischen. Tanja wußte zuviel über ihn und seine Gepflogenheiten. Harris hatte von gewissen charakterlichen Veränderungen gesprochen, denen Dr. West als Folge seiner Krankheit unterworfen war.

Nun erst verstand ich, was er damit hatte andeuten wollen. Nat – mein Nat – existierte nicht mehr. Der Goodman-Bazillus hatte ihn als Persönlichkeit ausgelöscht. Es gab nur noch das intelligente Monster Dr. West: ein Monster mit verschrobenen, aber nichtsdestoweniger ehernen Grundsätzen, einen teuflischen Missionar des technologischen Rückschritts.

Was mochte er, als er Tanja Grusinow diese Phiole in die Hand drückte, über ihren Inhalt gesagt haben? Hatte er ihn als ein besonders seltenes Parfüm bezeichnet?

IT 114 war Schauplatz eines kaltblütigen privaten Mordes.

»Dal Bor 13«, wiederholte Romen. »Was in aller Welt ist damit gemeint?«

»Wir werden es herausfinden«, sagte ich. »Und wir werden Dr. West aufstöbern.«

Mir kam eine vage Erinnerung, als hätte ich die Bezeichnung Dal Bor 13 schon einmal gehört, vor langer Zeit, aber noch bevor ich die Erinnerung festhalten konnte, hatte sie sich auch schon wieder verflüchtigt.

Als Romen zu mir herantrat, machte er um die zerbrochene Phiole einen weiten Bogen. 

»Mark – hörst du?«

»Was?«

»Eben hätte ich wetten mögen –« Eine eiskalte Bö fegte über den Eisberg und schlug die Tür der Baracke zu. Aber auch noch ein anderes Geräusch war zu hören, und diesmal war ich sicher, daß es sich nicht um eine Sinnestäuschung handelte.

Im Wind trieb – schrill und hämisch – ein heiseres Gelächter.

Romen knüpfte das Pistolenfutteral auf und zog die Waffe. Ich nickte.

»Suchen wir das Gelände ab! Aber Vorsicht!«

Ich löschte das Licht. Im Dunkel warteten wir, bis unsere Augen sich an die Nacht gewöhnt hatten. Als wir dann aufbrachen, trug auch ich meine kurzläufige Fliegerpistole schußbereit in der Hand. Das Gelächter wiederholte sich: lauter und deutlicher noch als zuvor.

Mich fröstelte. Mein Magen verkrampfte sich und wurde zu einem harten, schmerzenden Klumpen. 

Romen flüsterte: »Mark, wir kreisen ihn ein!«

Ich antwortete: »Paß auf, wo du hintrittst!«

Vor der Baracke trennten wir uns. Romen entschwand lautlos in der Dunkelheit. Ich nahm mir die Nordseite des Eisberges vor. Der Wind war zum Sturm geworden. Auf der glatten Eisfläche kämpfte ich verbissen um mein Gleichgewicht. Meine Augen suchten die Nacht ab, aber sie vermochten nichts zu entdecken: keine verdächtige Bewegung, keinen lauernden Schatten. Eine Bö brachte mich zu Fall – und noch bevor ich mich aufrichten konnte, trieb das Lachen an mir vorüber, zum Greifen nah, wie es mir schien.

Eine Minute später vernahm ich es erneut – diesmal in weiter Ferne, auf der anderen Seite des Eisberges. Gleich darauf erreichte mich Romens Stimme. 

»Mark!«

»Ja?«

»Ich hab's.«

»Was hast du?«

»Komm her, ich zeig's dir.«

Romen ließ sein Feuerzug aufflammen, so daß ich sehen konnte, wo er sich befand. Der Sturm stieß mich auf ihn zu. Als ich bei ihm anlangte, klang das Lachen plötzlich in meiner unmittelbaren Nähe. Ich hob die Waffe. 

»Laß nur, Mark!« sagte Romen. »Du brauchst die Kanone nicht. Dr. West ist ein Witzbold.«

Er nahm mir die Lampe aus der Hand und schaltete sie ein. In ihrem Schein sah ich, was er meinte. Was uns die Haare zu Berge getrieben hatte, war nichts als ein simpler, altmodischer Lachsack – ein karnevalistischer Scherzartikel –, der vom Wind über das Eis getrieben wurde. Jedesmal, wenn er sich überschlug, erklang das schrille, teuflische Gelächter. Romen wollte ihm einen Tritt versetzen, doch ich vertrat Romen den Weg.

»Besser nicht!« sagte ich. »Es könnte eine Falle sein. Oder hast du ihn etwa schon angefaßt?«

Romen schüttelte sich. 

»Ich werd' mich hüten!«

Ein Gefühl ohnmächtigen Zornes erfüllte mich. Kostbare Zeit war vergeudet worden wegen eines Lachsacks. Und irgendwo, an einem sicheren Ort mit der ominösen Bezeichnung Dal Bor 13, saß der Initiator dieses makabren Streiches und hielt sich den Bauch.

Der Lachsack war Dr. Wests Botschaft an seine Verfolger; er sollte ihnen klarmachen, daß sie sich in ihrem Bemühen, das Ultimatum zu unterlaufen, lediglich der Lächerlichkeit aussetzten. 

Romen sagte gepreßt: »Mark, er ist kein Mensch mehr!«

Vier tote Frauen – und zur Krönung des Massakers ein selbstgefälliges Gelächter … Nat hätte das nie getan. Aber Nat hatte aufgehört zu existieren. Ich mußte ihn aus meinem Bewußtsein tilgen. In der Hand dieses Wahnsinnigen befand sich noch immer die gesamte Bakterienkultur – genug, um den Globus mit der verheerenden Seuche zu überziehen. IT 114 war gewissermaßen nur eine Kostprobe.

Ich riß mich aus meiner Erstarrung.

»Grischa, wo befindet sich der nächste VEGA-Computer, der an den Muttercomputer in Metropolis angeschlossen ist?«

Romen überlegte.

»So auf Anhieb würde ich sagen – in Sydney, Australien.«

»Also gut, fliegen wir dorthin.«

Romen zögerte.

»Und was soll hier werden?«

Ich hatte schon darüber nachgedacht. 

»Wir haben doch noch überschüssigen Treibstoff an Bord?«

»Etwa vier Tonnen – falls wirklich Sydney unser nächstes Ziel ist.«

»Vier Tonnen«, wiederhole ich, »das müßte genug sein.«

Romen begriff und lehnte sich dagegen auf. 

»Mark, wir sind keine Heiden! Sie haben ein anständiges Begräbnis verdient.«

Ich verstand, wie ihm zumute war, aber ich wußte auch, daß uns keine andere Wahl blieb. Früher oder später würden sich die Möwen über die toten Frauen hermachen, und die Verseuchung würde von IT 114 überspringen auf möglicherweise bewohnte Gefilde. Der Goodman-Bazillus mußte vernichtet werden, bevor er weiteren Schaden anrichten konnte. 

»Grischa«, sagte ich, »es muß sein.«

Romen seufzte und unterwarf sich.

»Und wie«, fragte er, »fangen wir's an?«

»Wir benutzen den Schlauch«, sagte ich. »Es wird ein hartes Stück Arbeit werden.«

Das wurde es in der Tat. Wir brauchten fast zwei geschlagene Stunden, um die Oberfläche des Eisberges mit dem in der Kälte rasch eindickenden Treibstoff zu überziehen. Den Großteil des Treibstoffs pumpten wir in die Baracke und in das Ruderhaus.

Danach glich IT 114 einer riesigen Brandfackel, die nur noch auf den auslosenden Funken wartete. Im Scheinwerferlicht, den uns die Diana spendete, musterten Romen und ich wortlos unser Werk. Der Eisberg selbst würde des Flammenmeeres spotten – aber seine Oberfläche, daran zweifelte ich nicht, mußte unter der Hitzeeinwirkung zu schmelzen beginnen und sich in eine kochende Brühe verwandeln.

Romen verwahrte den Schlauch und kletterte in das Cockpit.

Mit einem langen, schmerzlichen Blick nahm ich Abschied von Tanja Grusinow. Sie hatte Nat geliebt, und nun war sie tot. Zu spät war es ihr aufgegangen, daß er zu einem anderen Menschen geworden war. Wahrscheinlich war es ihm nicht einmal anzumerken gewesen; rein äußerlich war er gewiß immer noch der alte. Sie hatte ihn auf IT 114 willkommen geheißen, ohne zu ahnen, daß mit ihm der Tod den Eisberg betrat.

Doch ausgerechnet sie – die einzige auf IT 114, die für Dr. West zu einer Gefahr werden konnte – hatte noch lange genug gelebt, um mir ein letztes Wort zuflüstern zu können. Dr. West hatte seinen ersten Fehler begangen. Und er würde weitere Fehler begehen – bis Romen und ich ihn dorthin schafften, wohin er gehörte: in ein Sanatorium. 

In tiefen Gedanken bestieg ich die Diana. 

»Fertig?«

»Fertig!« antwortete Romen.

Das Triebwerk sprang an. Die Diana begann zu steigen. Romen manövrierte sie über das Ruderhaus; dort, in einer Höhe von rund dreißig Metern, zwang er sie in die Schwebe.

Ich überprüfte meine Laser-Pistole, öffnete das seitliche Fenster und zwängte die bewaffnete Hand ins Freie. Der Lauf war nach unten gerichtet. Ich drückte ab.

Unter der Diana schien ein irrwitziger Vulkan auszubrechen.

 

6.4.2079

In Sydney, der Hauptstadt der halbautonomen Republik Australiens, die mit der EAAU in einer losen Gemeinschaft lebte, blieben wir nur wenige Stunden – gerade genug, um dem Computer die benötigte Information zu entlocken. Danach sprach ich über das VEGA-interne Netz mit John Harris. Ich schilderte ihm den Stand der Dinge, und er zog die Brauen hoch. 

»Und wie geht es jetzt weiter. Commander?«

»Wir haben seine Spur, Sir.«

»Und wohin führt diese Spur?«

»Das werde ich Sie wissen lassen, sobald ich Dr. West in Gewahrsam genommen habe, Sir.«

Harris musterte mich kühl. 

»Sie trauen mir noch immer nicht?«

Ich machte aus meinem Herzen keine Mördergrube. Harris hatte ein Anrecht auf eine vorbehaltlose Antwort. 

»So ist es, Sir. Ich möchte nicht, daß ich am Ziel eintreffe und feststellen muß, daß Ihre Henker von der Sicherheitsabteilung mir zuvorgekommen sind. Nat – Dr. West, meine ich, bekommt seine Chance.«

Harris unterdrückte einen Seufzer. In seinen Augen las ich aufrichtige Sorge.

»Ich hoffe, Sie wissen, welche Verantwortung Sie damit auf sich nehmen, Commander. Sie müssen sich darüber im klaren sein, daß, es für Dr. West keine Heilung gibt. Ein krankes Organ kann ausgetauscht werden, ein versagendes Herz kann durch ein gesundes ersetzt werden. Hier aber haben wir es mit einer abartigen Veränderung der gesamten Hirnstruktur zu tun – und dagegen ist kein Kraut gewachsen. Glauben Sie mir, Brandis – ein rascher Tod wäre für Dr. West ein wahres Geschenk.«

Ich war empört, und ich ließ es Harris spüren. 

»Sie scheinen zu übersehen, Sir« erwiderte ich eisig, »daß Dr. West sich dieses Schicksal nicht zu seinem Vergnügen ausgesucht hat.«

Damit legte ich auf. Wider Willen gab ich dem VEGA-Chef in einer Beziehung recht: Die Verantwortung, die ich mir mit meinem Starrsinn aufgebürdet hatte, war ungeheuer.

Verständlich, daß Harris an schlaflosen Nächten litt. Zu ungleich war dieses Duell. Auf der einen Seite Dr. West mit seiner skrupellosen Intelligenz – auf der anderen Seite ein Mann in schlotternder Kombination, den man im Zustand des Deliriums aus der Gosse gezogen hatte. Alles hing damit zusammen, daß Dr. Jonathan West zufällig mein Halbbruder war, und damit war ausgerechnet ich der einzige, der zu dieser vertrackten Situation den Schlüssel in der Hand hielt.

Romen schlief. Ich gönnte ihm Ruhe bis zum Morgengrauen. Dann, nachdem auch ich ein paar Stunden unruhigen Schlafes hinter mich gebracht hatte, rüttelte ich ihn wach. 

»Hoch mit dir! Wir wollen weiter.«

Romen massierte sich stöhnend die Augen. 

»Und wohin?«

»Nach Sibirien«, sagte ich. 

Romen seufzte. 

»Ausgerechnet!« klagte er. »Du hast also herausbekommen, wo dieses verdammte Dal Bor 13 liegt.«

»Der Computer hat meinem Gedächtnis auf die Sprünge geholfen«, bestätigte ich. »Eigentlich hätte ich es auf Anhieb wissen müssen. Während des Bürgerkrieges hielt sich Dr. West dort verborgen, um nicht in den Dienst des Generals treten zu müssen. Er hat mir davon erzählt, beiläufig, aber irgendwie muß es mir entfallen sein.«

Romen kleidete sich an.

»Was zum Teufel hat ihn denn daran gehindert, sich mit dem General zusammenzutun? Einen besseren Kumpel hätte er doch kaum finden können.«

Ich bezwang meinen aufsteigenden Groll. Romens Frage war mehr als berechtigt. 

»Du kennst ihn nicht, Grischa«, sagte, ich sanft. »Damals war er eine Seele von Mensch – gutherzig und hilfsbereit.«

Romen schlüpfte in die Kombination. 

»Mag schon sein«, knurrte er.

Er war bereit, meine Beteuerung zu glauben, doch es fiel ihm merklich schwer. Ich reichte ihm die ausgedruckte Auskunft des Computers:

Dal Bor 13, Erdwärmekraftwerk, errichtet 2061, auf 65 Grad N 55 Grad O, am Ufer des Kalgyn-Sees, zur Energieversorgung des benachbarten Industriegebiets. Modernisierte, vollautomatische Anlage mit nur einem Wärter vom Dienst. 

Romen sagte: »Dr. West hat sich weiß Gott ein stilles Plätzchen ausgesucht.«