5.

9.4.2079

Als die Sonne über der sibirischen Taiga aufging, verwandelte sich der große See in einen flamingo-farbenen gleißenden Spiegel. An seinem jenseitigen Ufer ragte eine Art aluminiumfarbene Kathedrale in den blaßblauen, frostigen Himmel: der Turm mit dem angeblockten Maschinenhaus des Erdwärmekraftwerks Dal Bor 13.

Romen brachte den Scooter, den wir in der Stadt gemietet hatten, zum Stehen. Die Diana hätte uns gewiß rascher an das Ziel gebracht, aber da ich nicht wissen konnte, wie Dr. West auf ihre geräuschvolle Annäherung reagieren würde, hatte ich mich für eine Annäherung zu Lande entschlossen.

Gleich hinter der Stadtgrenze begann die Wildnis: weg- und steglos. Lärchenbestandene Hügel und sumpfige Schluchten wechselten miteinander ab. Ein Scooter – flink, wendig und robust – war so ziemlich das einzige Fahrzeug, das dem gewachsen war. Im Gegensatz zu den stadtüblichen Transportern erreichte er mit einer kompressorverstärkten Düsenanlage eine Schwebehöhe von fast zwei Metern.

Romen sagte: »Wenn wir den direkten Weg nehmen, quer über den See, laufen wir Gefahr, von Dr. West entdeckt zu werden.«

Ich stimmte ihm zu.

Der Scooter schwebte fauchend auf und bog nach Nordwesten ab. Romen hielt ihn knapp über dem Erdboden – immer im Schutz der Bäume. Ich entfaltete auf den Knien den Bauplan von Dal Bor 13, den ich mir in der Stadt unter einem Vorwand verschafft hatte.

Außer der eigentlichen Anlage auf einer Grundfläche von hundertundzwanzigtausend Quadratmetern gab es noch das für den Wärter bestimmte einstöckige Wohnhaus, von dem ein überdachter Laufgang hinüberführte in das Gehirn des Kraftwerks, die Ventilhalle. Das Haus mit der Halle war ein abgeschlossener Komplex für sich, vom Kraftwerk abgetrennt durch ein sumpfiges Geländestück. Ich war ziemlich sicher, Dr. West dort vorzufinden. Nun, da meine Erinnerung aufgefrischt war, fiel mir wieder ein, was er mir – als er noch der nette, freundliche Nat war – darüber erzählt hatte: von den langen einsamen Wintermonaten, die er in der Gesellschaft des schrulligen Wärters namens Boris zugebracht hatte, bei Kartenspiel und endlosen Gesprächen.

Romen fragte: »Was hast du jetzt vor?«

Ich selbst hatte mir die gleiche Frage mindestens schon hundertmal gestellt, und noch immer wußte ich darauf keine Antwort. Dr. West war skrupellos und gefährlich; andererseits fiel es mir schwer, ganz einfach zu vergessen, wie wir früher zueinander gestanden hatten.

»Auf jeden Fall«, sagte ich, »will ich versuchen, ihn zu überzeugen. Es könnte immerhin sein, daß er auf mich hört.«

Romen schnalzte mit der Zunge. Mir war klar, daß er meinen Plan mißbilligte.

»Mark, versuch das – und du hast schneller, als du glaubst, eines von seinen kleinen, niedlichen Fläschchen an den Lippen. Du hast selbst gesagt, daß er verrückt ist.«

Ich schwieg; erst nach einer Weile fragte ich: »Und wie würdest du vorgehen – jetzt, an meiner Stelle?«

Statt einer Antwort ließ Romen seine rechte Hand klatschend auf die Pistolentasche fallen. Darüber, daß Captain Romen Zigeuner war, hatte ich mir nie den Kopf zerbrochen. Er war einer der besten Piloten der VEGA und zugleich mein Freund. Nun wurde ich mir dieser Tatsache plötzlich bewußt. Das Erbgut der wandernden Stämme und Familien war in ihm noch lebendig: eine Erinnerung an das uralte Gesetz, das den Stammesfrieden über alles stellte.

Jedoch – ich konnte ihm seine Haltung nicht verübeln. Sie war der Situation angepaßt. Auch Harris, dieser fischblütige Nachfahre britischer Seehelden, hatte mir den gleichen Rat erteilt. 

Ich sagte: »Grischa, ich habe mir vorgenommen, mit Dr. West zu reden, und ich werde das tun.«

Romen zuckte mit den Achseln. Der Scooter übersprang eine niedere Buschgruppe – und dann lag vor uns das Haus des Wärters: ein niederer, länglicher Bau: hinter den Fenstern leuchteten rote Geranien.

Gleich daneben stand mit halb aufgeklapptem Cockpit und ausgefahrener Treppe – offenbar klar zum Start – eine zitronengelbe Tornado. Die beiden Aufschriften – VEGA und Aeskulab – waren deutlich zu lesen.

Dr. West schien sich auf Dal Bor 13 geborgen zu fühlen wie in Abrahams Schoß. Romen stellte den Scooter ab und drehte sich zu mir herum.

»Also gut, Mark – du bist dran!«

Ich rührte mich nicht, sondern betrachtete durch die leicht getönte Klarsichtscheibe das Gelände. Das Kraftwerk war in Betrieb. Über dem Turm stand die typische Dampfwolke. Überschüssige Wärme, die zu einem gefährlichen Aufheizen der Anlage hätte führen können, wurde abgeblasen. Die obere Turmgalerie wirkte verlassen: die Tür war geschlossen, und hinter den Fenstern der Kontrollkabine rührte sich nichts.

Anders verhielt es sich mit dem Haus des Wärters. Dort, wenn mich nicht alles täuschte, hatten sich vor kurzem noch die Gardinen bewegt. Ich überprüfte meine Pistole, verwahrte sie wieder im Futteral und stieg aus.

Der Erdboden war hart; die Frostperiode konnte noch nicht lange zurückliegen. Vor dem Haus blieb ich stehen und meldete mich an. 

»Nat – ich bin's: Mark! Ich möchte mit dir reden.«

Ich bekam keine Antwort und trat ein. Romen folgte mir – mit wachsamen, mißtrauischen Augen, die Hand auf dem Kolben der Waffe. Die Unterkunft des Wärters wirkte nur äußerlich wie eine Baracke; ihr Inneres war das eines gemütlichen Blockhauses. An den Wänden hingen Wolfs- und Wildschweinfelle. Noch einmal sagte ich, um jeglichem Mißverständnis vorzubeugen, mit lauter Stimme: »Nat, wir müssen miteinander reden. Es ist wichtig.«

Dr. West – falls er sich im Hause befand – blieb stumm. Ich war ratlos. Bis zuletzt hatte ich gehofft, von Dr. West zumindest angehört zu werden. Was danach geschehen mußte, war von mir ungeplant geblieben. 

Ich durchsuchte die Räume. Romen blieb neben der Haustür und sicherte unseren Rückzug. Das Schlafzimmer war leer, ebenso die Küche. Immerhin deuteten die Anzeichen daraufhin, daß sich in den letzten Tagen mehr als eine Person im Haus befunden hatte.

Als ich mich dem letzten Raum zuwandte, blieb ich plötzlich wie angewurzelt stehen. Das Geräusch, das ich vernahm, hörte sich an wie das Schnarchen eines friedlichen Schläfers. Vorsichtig trat ich über die Schwelle. Ich hatte mich nicht getäuscht. Im Sessel neben dem Fenster saß – untersetzt, bärtig und völlig betrunken – Boris, der Wärter, und schlief seinen Rausch aus, umgeben von einem halben Dutzend geleerter Wodkaflaschen. Ich eilte in die Küche, fand einen Eimer, füllte ihn mit Wasser aus der Leitung und rannte in den Wohnraum zurück. 

Romen fragte: »Mark, was gibt's?«

»Ich habe den Wärter gefunden.«

»Und? Steht er etwa in Flammen?«

»Er ist voll wie tausend Mann.«

Das eiskalte Wasser tat seine Wirkung. Triefendnaß schlug Boris die Augen auf und blinzelte zu mir herauf. 

Ich fragte: »Wo ist Dr. West?«

Boris rülpste.

»Wer?«

»Dr. West!« wiederholte ich, »Wohin hat er sich verkrochen?«

Boris kicherte.

»Oh, Sie reden von Nat.«

»Ich rede von Dr. Jonathan West!« sagte ich. »Vor dem Haus steht seine Tornado. Ich weiß also, daß er sich hier in der Gegend aufhalten muß. Und Sie werden mir jetzt sagen, wo ich ihn finde.«

Drohend hob ich den Eimer. Boris verschränkte die Arme über der Brust.

»Nicht, Sir!«, bettelte er. »Nicht noch einmal! Bitte, nicht!«

»Dann 'raus mit der Sprache!« schrie ich ihn an. »Wo ist Dr. West?«

Boris sank in sich zusammen; seine Stimme klang auf einmal weinerlich.

»Er … er wollte hinauf auf den Turm!«

Mehr war aus ihm nicht herauszubringen. Er schlief sofort wieder ein. Ich überließ Boris seinen Träumen.

Romen fragte: »Hat er's ausgespuckt?«

»Ja«, erwiderte ich. »Dr. West ist auf dem Turm.«

Ich rannte hinaus, und Romen folgte mir. Vom Haus des Wärters führte ein gewundener Pfad zum Kraftwerk. Ihn schlug ich ein. Vom Turm aus mußte er gut zu übersehen sein – aber darauf kam es nun nicht mehr an. Unsere Anwesenheit auf dem Gelände war für Dr. West ohnehin längst kein Geheimnis mehr.

Nach ein paar Metern drehte ich mich um; Romen war mir auf den Fersen. Ich rief ihm zu: »Grischa, du bleibst hier und bewachst die Tornado – für den Fall, daß mir etwas zustößt. Wenn ich nicht zurückkomme, hast du freie Hand.«

Romen blieb stehen. Ich sah noch, wie er die Pistole zog. Er rief mir nach: »Mark, paß auf dich auf! Geh kein Risiko ein!«

Sein Rat war ebenso weise wie überflüssig. Ich kam zu Dr. West nicht als sein Henker. Noch immer war ich sein Halbbruder – auch wenn ich dies am liebsten geleugnet hätte. Ich kam, um mit ihm zu reden. Ich mochte an die hundert Schritt weit gelaufen sein, als ich mit voller Wucht gegen ein unsichtbares Hindernis prallte. Ein jäher, grausamer Schmerz durchzuckte mich; ich verlor die Kontrolle über meine Glieder und stürzte zu Boden. Vor meinen Augen rotierten rote Nebel.

Als ich wieder zu mir kam, lag ich rücklings auf der Erde und rang nach Luft. Meine ganze Brustmuskulatur war verkrampft. Nur ganz langsam ging die Lähmung zurück. Es war mir klar, daß ich mich benommen hatte wie ein Tölpel.

Um die Anlage spannte sich – zu ihrem Schutz gegen etwaige Saboteure in Zeiten politischer oder militärischer Spannung – ein elektronischer Zaun, für das Auge unsichtbar, und Dr. West hatte oben auf dem Turm in aller Seelenruhe den betreffenden Schalter betätigt. Das Netz, dessen war ich mir sicher, hatte keine Lücken; wahrscheinlich reichte es bis hoch in den Himmel hinein und bildete über der Anlage eine Glocke. Das Kraftwerk war zu einer schier uneinnehmbaren Festung geworden. Um sie zu stürmen, mußte man schon schweres Geschütz auffahren.

Mein Blick wurde klarer; ich richtete ihn auf den Turm.

Dr. West stand oben auf der Galerie und blickte auf mich herab. Seine Brillengläser funkelten. 

»Hallo, Mark!« Dr. Wests Stimme klang verdrossen. »Mit dir habe ich am wenigsten gerechnet. Warum, zum Teufel, bist du nicht bei deinen Flaschen geblieben?«

Ich rollte mich schwerfällig auf die Seite und stemmte mich auf die Knie.

»Nat«, sagte ich, »jemand mußte dich finden – und zufällig bin ich der einzige, der dich nicht auf Anhieb verurteilt. Das mag etwas mit den Flaschen zu tun haben. Ich war ganz unten auf dem Grund – genauso wie jetzt du. Eine solche Erfahrung stimmt nachdenklich.«

Dr. West nahm die Brille ab, hauchte sie an, rieb sie blank und setzte sie wieder auf. 

»Man nimmt mich also ernst«, sagte er. »Man hat sich davon überzeugt, daß ich nicht bluffe. Geh heim, Mark, und sag deinen VEGA-Göttern, daß ich von meinem Ultimatum nicht abrücke. Und sag ihnen auch noch dies: Falls man nicht aufhört, mich zu belästigen, werde ich es sehr viel früher ablaufen lassen, als es euch lieb sein kann.«

Oben auf der Galerie schwenkte Dr. West einen knallroten zylindrischen Behälter. 

»Hier drin, Mark, befindet sich alles, was ich benötige, um meinen Willen durchzusetzen. Ich brauche nicht mehr zu tun, als den Behälter zu öffnen und seinen Inhalt dem Wind zu überlassen. 

»Aber warum?« fragte ich.

»Warum?« wiederholte Dr. West erstaunt. »Aber das ist euch doch längst bekannt. Weil ich es satt habe, die Menschheit in Sünde zu sehen. Und von allen falschen Hohenpriestern ist John Harris der schlimmste.«

Ich hoffte, er würde auf mich hören. 

»Nat, du bist krank. Du merkst es nicht, aber wir anderen wissen das. Der Goodman-Bazillus, den du auf die Menschheit loslassen willst, hat deine Psyche verändert. Du brauchst einen Arzt. Also, komm herunter, und laß dir von mir helfen!«

Dr. West lachte.

»Mark, ich bin genauso normal wie du oder der alte Harris. Im Gegenteil, wenn jemand krank ist, dann ihr! Und alles, was ich tue, ist die Frucht gründlicher Überlegung. Aber wenn du mich vom Gegenteil überzeugen willst, so tu dir nur keinen Zwang an. Sag mir, was du mit mir vorhast.«

Rein äußerlich hatte er sich nicht verändert; rein äußerlich war er noch immer mein Halbbruder Nat. Der Umstand verunsicherte mich. In diesem Mann oben auf der Galerie einen gefährlichen Feind der Menschheit zu sehen, der um jeden Preis zur Strecke gebracht werden mußte, war mir unmöglich. Aber die Pflicht mußte getan werden. 

»So leid es mir tut, Nat«, sagte ich, »werde ich dich jetzt festnehmen.«

Meine Stimme klang rauh.

Dr. West breitete dramatisch die Arme aus. 

»Und wie kommst du über den Zaun?«

Ich zog die Pistole und legte auf ihn an. Ich hatte ihn im Visier. Die Waffe war zuverlässig. Ein Fingerdruck genügte, um dem bösen Spuk ein Ende zu machen.

Dr. West rührte sich nicht; er höhnte: »Nur zu, Mark! Drück ab! Bring mich um! Ich sehe, du hast einen guten Lehrmeister gehabt. Kain war sein Name.«

Ich wußte, daß ich es tun mußte, aber ich brachte es nicht übers Herz. Nach ein paar Sekunden ließ ich die Waffe sinken.

»Nein«, sagte ich, »ich werde dich nicht erschießen, Nat. Aber ich werde auch nicht länger dulden, daß du frei herumläufst.«

»Und wie«, fragte Dr. West, »willst du das bewerkstelligen?«

Er sprach aus, was ich mich selber fragte. Er saß in der Falle, aber die Falle ließ sich nicht zuziehen – nicht einmal, wenn ich die Hilfe der Armee in Anspruch nahm. Solange sich der Behälter mit dem Goodman-Bazillus auf dem Turm befand, war an den Einsatz von Gewalt nicht zu denken. Hinter mir dröhnten rasch hintereinander zwei Explosionen.

Dr. West beugte sich über die Galerie. 

»He, was hat das zu bedeuten?«

Ich wußte es genauso wenig wie er. Ich raffte mich auf und rannte zurück. Auf halbem Wege kam mir Romen entgegen; seine Kombination und sein Gesicht waren ölverschmiert.

»Was ist passiert?« fragte ich. 

Romen lehnte sich gegen, einen Lärchenstamm und zeigte mir die blinkenden Zähne. 

»Was passiert ist, Mark? Du kannst nicht 'rauf, und er will nicht 'runter. Das ist ein glattes Patt. Aber du wirst sehen, daß die Situation sich bald ändern wird. Ich habe mir erlaubt, in der Ventilhalle einige Umstellungen vorzunehmen.«

Ich begriff nicht. 

»Umstellungen?«

Romen wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß aus dem Gesicht.

»Zum Glück«, sagte er, »gab es in der Halle eine genaue Konstruktionszeichnung. Ich habe mich von Leitung zu Leitung vorgearbeitet und schließlich die Abwärmeventile gesprengt. Wetten, daß es Dr. West in spätestens einer Stunde auf dem Turm so heiß werden wird, daß er freiwillig herunterkommt?«

Ich warf einen Blick auf den Turm. Dr. West drohte mit der Faust. Die Dampfwolke war verschwunden. Tausende von Hitzegraden wirkten nun aus der Tiefe der angebohrten Erdkruste ungebändigt auf das Kraftwerk ein. Sein Schicksal war besiegelt; früher oder später mußte es zu schmelzen beginnen. Romen setzte sich. 

»Wir brauchen nur zu warten, Mark.«

Er hatte recht. Warten war alles, was sich in dieser Situation tun ließ. Ich setzte mich zu ihm, und wir rauchten eine Zigarette. Der Platz war gut gewählt: man übersah sowohl die Kraftwerkanlage als auch das Wärterhaus. 

Ich sagte: »Ich habe ihn im Visier gehabt.«

»Ich weiß«, sagte Romen. »Und ich habe bedauert, daß nicht ich an deiner Stelle war.«

»Du haßt ihn.«

Romen sah mich von der Seite her an. 

»Du irrst, Mark. Ich hasse ihn nicht. Im Gegenteil, ich bemitleide ihn. Aber zugleich liebe ich das Leben. Und diese unsere Welt …«

»Er muß seine Chance haben.«

»Sicher. Da du darauf bestehst. Hoffentlich weiß er sie auch zu nutzen.«

Über dem Turm und über der ganzen Anlage flimmerte die Luft. Die Temperatur im Innern stieg. Die Kräfte der Tiefe wirkten sich aus. Falls Dr. West nicht bei lebendigem Leibe geröstet werden wollte, mußte er die Festung räumen. Ich war davon überzeugt, daß er das tun würde. Für den unwiderruflich letzten Schritt fehlte es ihm bislang an der erforderlichen Entschlossenheit. Diese freilich konnte sich sehr rasch einstellen, falls man ihn zu sehr in die Enge trieb. Einstweilen jedoch gab er, was er für seine Mission hielt, noch nicht verloren. Sein Verlangen, eine Welt nach seinen Vorstellungen zu formen, war immer noch größer als sein Wunsch, die Welt zu zerstören.

Die Zeit schleppte sich dahin, ohne daß Dr. West zum Vorschein kam. Ich begann, unruhig zu werden. Auch Romen, obwohl er es nicht aussprach, wirkte unsicher; auch sein Blick richtete sich in immer kürzeren Abständen auf die Uhr. Ich beschloß, doch noch einmal zum Zaun zurückzukehren.

Kurz davor hielt ich an. Die Hitze, die vom Kraftwerk ausging, reichte bis hierher. 

Durch die trichterförmig vorgehaltenen Hände rief ich hinauf: »Nat, es hat doch keinen Sinn! Komm 'runter, und ich werde für dich tun, was in meiner Macht steht. Du hast nichts zu befürchten. Ich gebe dir mein Wort.«

Dr. West schwieg.

Mit gemischten Gefühlen wandte ich mich ab – und zum ersten Mal fragte ich mich, ob einer von John Harris' Experten für diese Aufgabe nicht doch der geeignetere Mann gewesen wäre. Mein Herz – auch wenn ich das fast vergessen hatte – gehörte den Sternen. Als Menschenjäger würde ich zeitlebens ein Dilettant bleiben.

Romen blickte mir entgegen und zuckte mit den Achseln.

Vom Turm herab gellte plötzlich Dr. Wests Stimme: »Mark!«

Ich fuhr herum – gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie Dr. West von der Galerie herab mit einem Laser-Karabiner auf mich anlegte. Romen duckte sich, schnellte sich vorwärts – und indem er neben mir bäuchlings auf der Erde landete, riß er mir die Beine unter dem Leib fort. Für den Bruchteil einer Sekunde spürte ich sengende Hitze.

Der Schuß bohrte sich in einen Lärchenstamm und ließ ihn im Handumdrehen in Flammen aufgehen. Romen und ich wälzten uns in das Unterholz. Hinter einer Bodenwelle gingen wir in Deckung. Romen spie Erde. Er fragte: »Bist du immer noch der Ansicht, daß du unbedingt mit ihm reden mußt?«

Ich blieb ihm die Antwort schuldig: sie wollte mir nicht über die Lippen. Im Gegensatz zu mir hatte Romen die Situation von Anfang an nüchtern und realistisch eingeschätzt – ohne einen Hauch von Sentimentalität, und nun zeigte es sich, daß er die ganze Zeit über recht gehabt hatte. Für Dr. West gab es keinerlei Hemmungen mehr. Ich atmete Brandgeruch und drehte mich um. Das Feuer breitete sich aus, und da niemand da war, um ihm zu wehren, würde bald schon die ganze Taiga in Brand stehen.

Romen nickte mit verkniffenem Mund. 

»Wir müssen hier weg!«

Geduckt, immer in Erwartung weiterer Schüsse, zogen wir uns aus der gefährdeten Zone zurück. Auf einem unbewaldeten Hügel warfen wir uns nieder, der Rauch deckte uns.

Unter uns war das Prasseln der Flammen zu hören. Der Waldbrand griff in Windeseile um sich. Sooft eine Lärche Feuer fing, stieg ein wahrer Funkenregen auf. Ich schluckte.

Dr. West hatte seine Chance gehabt und verstreichen lassen. Nun gab es für ihn kein Entrinnen mehr. Der Turm, auf dem er sich verbarrikadiert hielt, begann sich zu verfärben; das Metall lief blau an.

Und rings um das Kraftwerk brannte der Wald. Als ich begriff, daß alles vorüber war –, weil Dr. West den eigenen Scheiterhaufen angezündet hatte, überkam mich ungeheure Erleichterung. Mit ihm zusammen ging in Flammen und Hitze auch der unselige Goodman-Bazillus zugrunde. Es war zu spät, um den Behälter zu öffnen. Die siedendheiße Luft über dem Kraftwerk hatte die Wirkung eines Sterilisators.

Romens Finger krallten  sich plötzlich in meine Schulter. 

»Mark!« Ich richtete mich auf.

Romen deutete hinüber zum Wärterhaus. Sein Gesicht war bleich. Ich traute meinen Augen nicht. Der Mann, der aus dem Wärterhaus gerannt kam und nun zum Cockpit der Tornado hinaufenterte, war unverkennbar Dr. West. Romen riß die Pistole heraus. Ich sprang auf und rannte auf die Tornado zu. 

»Nat, tu das nicht! Nat!«

Romen fluchte.

Das Cockpit der Tornado klappte zu. Unter meinen Füßen vibrierte die Erde, als das Triebwerk ansprang. Der Sockel der Maschine hüllte sich in Flammen. Gleich darauf begann sie zu steigen. Romen sicherte die Waffe und steckte sie ein. Dann legte er einen Arm um meine Schulter. 

»Laß gut sein, Mark. Ich kann mir denken, wie dir zumute ist.«

Die Tornado kehrte noch einmal zurück und donnerte im Tiefflug über uns hinweg. Hinter der Cockpitverglasung erkannte ich ein weißes Oval: Dr. West blickte hohnlachend auf uns herab. Es war zu spät, ihn aufzuhalten. Aber wie in aller Welt war es ihm gelungen, dem Flammenmeer zu entkommen, ohne daß wir das bemerkt hatten? Wir eilten zum Wärterhaus.

 

Des Rätsels Lösung war ebenso überraschend wie einfach.

Gleich hinter dem Haus fanden wir einen kreisrunden, etwa einen halben Meter im Durchmesser betragenden, frischen Schacht. Davor stand das Gefährt, mit dem sich Dr. West unter unseren Füßen durch das Erdreich gewühlt hatte: ein motorisierter, bemannter Rohrverleger vom Typ Maulwurf. Damals, als die Anlage errichtet wurde, mochte er dazu gedient haben, das unterirdisch verlaufende Rohrnetz zu installieren, und dann hatte man vergessen, ihn abzutransportieren. 

Zum ersten Mal sah ich ein solches Gerät nicht nur auf der Abbildung. Es hatte die Form eines gedrungenen Torpedos und war mit einer spiralförmig verlaufenden, diamantbesetzten Raupe versehen, mit deren Hilfe es sich nach dem Prinzip der schiefen Ebene durch das Erdreich wühlte – mit einer mittleren Geschwindigkeit von einem Kilometer pro Stunde, je nachdem, wie lang das nachgeschleppte Rohrpaket bereits war. Die Bedienung des Geräts erfolgte im Liegen. Der Orientierung diente ein für diesen Zweck eigens entwickelter Kompaß, der sowohl die Distanz zur Erdoberfläche maß, als auch die horizontale Abweichung errechnete. Vor vier oder fünf Jahren hatte ein solcher Maulwurf Schlagzeilen gemacht. Ein junger Abenteurer hatte aufgrund einer Wette den Versuch einer unterirdischen Saharadurchquerung unternommen; er war nie wieder aufgetaucht.

Romen versetzte dem Maulwurf einen wütenden Tritt.

»Da haben wir die Bescherung!« sagte er. »Und was weiter?«

Ich sah mich um. Das Feuer begann uns einzukreisen. Der heiße Wind versengte meine Wangen. 

»Wir kehren zurück!« sagte ich. 

»Und dann?«

»Dr. West kann nicht untertauchen, ohne Spuren zu hinterlassen. Wir haben ihn einmal gefunden – wir werden ihn auch ein zweites Mal finden.«

Romen neigte den Kopf. 

»Da ist noch dieser Wärter …«

Um ein Haar hätte ich den Mann vergessen. Es war höchste Zeit, um ihn in Sicherheit zu bringen. Gefolgt von Romen, betrat ich das Wärterhaus und prallte zurück.

Das Entsetzen drohte mich zu lähmen. Diesmal befand ich mich in der Rolle eines unfreiwilligen Komplizen. Ich hatte Dr. West vor mir gehabt, aber ich war nicht fähig gewesen, ihn auszuschalten. Nun mußte ich sehen, was ich damit angerichtet hatte.

Boris, der Wärter, kauerte auf dem Fußboden. Auf seinem Gesicht spielte ein verkrampftes Grinsen. Mit letzter Kraft stemmte er noch einmal die Phiole in die Höhe, die Dr. West ihm gegeben haben mußte, und führte sie an die Lippen. 

»Wodka!« lallte er. »Guter, alter Wodka.«

Ich wollte ihm die Phiole aus der Hand schlagen, aber Romen riß mich zurück.

»Laß nur, Mark! Tu dir selbst nichts an. Hier kommt alle Hilfe zu spät.«

Ich fügte mich – und das Bewußtsein meiner Schuld schnürte mir die Kehle zu. Romen zerrte mich aus dem Haus. Die Feuerfront rückte näher und griff auf das Haus über. Boris schrie nicht. Wahrscheinlich war er bereits von der Glut überwältigt. Ein Gutes hatte das Feuer; in seiner Asche starb Dr. Wests Hinterlassenschaft: der Goodman-Bazillus. Diesmal brauchten wir nicht nachzuhelfen.

Wir rannten zum Scooter. Er stand auf einer Lichtung und war daher vom Feuer verschont geblieben – doch das konnte sich rasch ändern, sobald sich die Glut durch den torfigen Boden an ihn heranfraß. Romen wollte einsteigen. Gerade noch rechtzeitig bekam ich ihn zu packen. 

»Warte!«

»Mark, wir müssen verschwinden!«

Ich trat ein paar Schritte zurück und zog Romen hinter mir her.

»Mark«, wiederholte er, »wir müssen hier weg! Was ist denn noch?«

Ich deutete nach unten.

Vorhin, als wir den Scooter verließen – ich erinnerte mich daran mit aller Deutlichkeit – war die Erde hart und gefroren gewesen. Nun, unter der Einwirkung der Hitze, hatte sie an der Oberfläche zu schmelzen begonnen, und quer durch den braunen Morast verliefen deutliche Fußspuren. Jemand hatte sich dem Scooter genähert. Jemand hatte sich vom Scooter wieder entfernt. Romen schüttelte sich; seine Stimme klang heiser: »O Gott!«

Ich starrte auf den nutzlos gewordenen Scooter, und zum ersten Mal, seitdem ich Dr. West jagte, überkam mich kalte Wut. 

»Wir brauchen nicht erst nachzusehen«, sagte ich. »Ich wette, daß Dr. West uns da drinnen seine Visitenkarte hinterlassen hat – in Form von ein paar netten, kleinen Bazillen.«

Den Scooter zu besteigen bedeutete den sicheren Tod. Nur ein Zufall hatte uns davor bewahrt – ein flüchtiger, absichtsloser Blick, der meine Aufmerksamkeit auf Fußspuren lenkte, die es zuvor nicht gegeben hatte. Über der Lichtung ging ein Funkenregen nieder. 

Ich sagte: »Grischa – es wird Zeit!«

Wir rannten, so rasch uns unsere Füße trugen, hangabwärts. Das Feuer eilte hinter uns her. Hinter uns explodierte der Scooter. Vor uns schimmerte der See. Seite an Seite stürzten wir in das rettende Wasser.