13.

18.5.2079

Als die beiden Sumos in einer Meerestiefe von 3750 Metern und mehr als vierzig Meilen von Shinkoku entfernt aus dem Labyrinth heraus aufschwammen in freies Wasser, lagen hinter mir die schlimmsten zwanzig Stunden meines Lebens. Die Kälte hatte mir so sehr zugesetzt, daß ich kaum noch die Lippen auseinanderbrachte, um die Verbindung zu Romens Sumo nicht abbrechen zu lassen.

Ich blickte schaudernd zurück auf die wohl ungewöhnlichste Reise, die je von zwei Menschen gemacht werden war: eine Reise kreuz und quer durch einen submarinen Gebirgsstock. Romen war, wie es sich unterwegs herausstellte, auf seiner Flucht vor den Barschmäulern, wie er die Kampfschwimmer von Shinkoku nannte, zwar etliche Meilen weit in das Innere des Massivs vorgestoßen, bis er sich an einer plötzlich aufkommenden starken Strömung vergewisserte, daß es noch einen anderen Ausgang geben mußte, doch statt dann dieser Strömung zu folgen, hatte er kehrtgemacht, um sich über mein Schicksal Klarheit zu verschaffen.

Mit meiner anfanglichen Vermutung, daß er vorübergehend in Funklee geraten sei, lag ich nicht völlig falsch. Die Verbindung war tatsächlich vorübergehend gestört gewesen – und als dann überraschend eine VOR-Patrouille auftauchte, hatte er es für ratsam befunden, sich auch weiterhin stumm und taub zu stellen und zu verkriechen. Zwölf Stunden später wagte er sich aus seinem Versteck wieder heraus, fand meine für ihn bestimmte Markierungsboje, unternahm einen kurzen Vorstoß in das Tal, stellte fest, daß sich darin eine submarine Basis verbarg, kehrte in die Schlucht zurück und legte sich auf die Lauer. Ich berichtete ihm von meinen Erlebnissen in Shinkoku und meiner daran anschließenden Flucht, die durch seine Hilfe zu einem glücklichen Ende geführt hatte. Romens Interesse konzentrierte sich auf die Tornado.

»Ich hab' gesehen, daß du dich daran zu schaffen machtest, Mark«, sagte er. »Aber jetzt, wo du sagst, das Wrack ist leer, bin ich tatsächlich von den Socken.«

»Kein Dr. West, kein roter Behälter!« bestätigte ich. 

»Und was folgerst du daraus?«

»Daß Dr. West wachsamer gewesen ist, als Captain O'Brien, der die Tornado beschattete, annahm. Der Unfall wurde mit voller Absicht in Szene gesetzt, um uns in die Irre zu führen. Dr. West entledigte sich der Tornado und brachte sich selbst samt der Bakterienkultur in Sicherheit.«

»Mark, Dr. West ist keiner von diesen frommen Typen, die übers Wasser latschen können!«

»Das ist richtig. Aber zur Standardausrüstung einer jeden Tornado gehört nun einmal ein motorisiertes Rettungsfloß. Das Wetter war gut, die See ruhig. Er könnte Kurs auf Australien genommen haben.«

»Mit anderen Worten – wir haben seine Spur verloren?«

»Ich fürchte, so ist es.«

»Der Halunke ist weiß Gott gerissener, als die Polizei erlaubt.«

Gespräche dieser Art waren die Ausnahme. Das Manövrieren in den engen Höhlen und Gängen war schwierig und erforderte höchste Konzentration, und Romen war oft genug im Zweifel, ob wir uns auf dem richtigen Weg befanden. Allenthalben zweigten neue Gänge und Höhlungen ab – und alle mochten irgendwohin ins Freie führen, aber ebensogut konnten sie auch blind enden. Was wir am meisten fürchteten, war, uns festzufahren. Daran, die Sumos zu wenden, war nicht zu denken.

Romen, der die Führung übernommen hatte, legte immer wieder Pausen ein, um sich zu erinnern und zu orientieren. Ein sechster Sinn schien ihn zu leiten. Stets entschied er sich für eine Abzweigung, von der es sich im nachhinein herausstellte, daß es die richtige war. Mit diesem Instinkt mochten in früheren Zeiten seine Vorfahren in den weiten Steppen Rußlands und Ungarns ihren großen Stammesereignissen entgegengestrebt sein: zu Fest und Tanz.

Das widerliche Getier, von dem Romen gesprochen hatte, war tatsächlich vorhanden. Wir stießen auf riesige Kraken mit glühenden Augen, so groß wie Wagenräder, auf große blinde Fische mit furchteinflößenden Gebissen und auf eine Vielzahl von bizarren Lebewesen, von denen unsere Wissenschaft nichts ahnte.

Einmal, kurz nach einer Abzweigung, waren wir genötigt, den Rückwärtsgang einzulegen. Aus dem Gang heraus schoß, sich windend, ein unendlich langer, tonnendicker gefleckter Leib. Entweder handelte es sich dabei um eine riesige Moräne zwanzig bis dreißig Meter lang – oder um eine jener Seeschlangen, die immer wieder durch die Schiffahrtschroniken vergangener Jahrhunderte spuken.

Ich begann zu verstehen, weshalb uns die Kampfschwimmer nicht in dieses Labyrinth folgten, obwohl es ihnen ein leichtes sein mußte, uns einzuholen. Im Berg herrschte das unerbittliche Gesetz des unterseeischen Dschungels.

Als wir in die Strömung gerieten, bemerkte Romen: »Wenn mich nicht alles täuscht, haben wir gleich eine Art Wildwasserfahrt vor uns – ohne Regeln und ohne Schiedsrichter.«

So wurde es auch. In den folgenden Stunden hatte ich vollauf damit zu tun, das Sumo, ohne anzuecken, auf Kurs zu halten. Die Strömung war reißend. Irgendwann spülte sie unsere beiden Sumos hinaus ins Freie.

Romens Stimme klang rauh und erschöpft: »Mark, alles in Ordnung?«

»Alles in Ordnung.«

»Allmählich bekomme ich Sehnsucht nach Papa Utrecht und seiner Poseidon«

Mühsam bewegte ich die Lippen. 

»Ich habe diese Sehnsucht schon lange.«

Ich fror, und ich war naß. Stärker denn je sickerte das eiskalte Wasser in die Röhre. Ich sehnte mich nach einem heißen Trunk und nach einem warmen Bett. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals erschöpfter gewesen zu sein. Bibbernd vor Kälte nahm ich unsere Position.

Wir waren weit genug von Shinkoku entfernt, um uns vorerst in Sicherheit fühlen zu dürfen. Von der Poseidon, falls sie inzwischen die Position nicht gewechselt hatte, trennte uns eine Entfernung von mehr als siebzig Seemeilen. Ich rückte das   Kehlkopfmikrophon zurecht und meldete mich.

»Sumo Eins und Sumo Zwo für Poseidon. Over!«

Eine bange Viertelminute verstrich – dann ertönte im Kopfhörer, schöner als jede Musik, Kapitän Utrechts barsche Stimme: »Na endlich, Commander. Wo, zum Teufel, haben Sie gesteckt?«

»Das«, erwiderte ich, »ist eine lange Geschichte. Wenn Sie die hören wollen, müssen Sie uns schon an Bord holen. Wir warten auf Tiefe Drei-Fünf-Null-Null.«

Im Anschluß daran gab ich Utrecht unsere Koordinaten.

 

An Bord der Poseidon mußten Romen und Lieutenant Parker mir behilflich sein: ohne ihre Hilfe wäre ich aus der engen Röhre des Sumos nicht herausgekommen. Ich war vor Kälte völlig steif und gefühllos. Mit vereinten Kräften zerrten sie mich hinaus, stellten mich auf die Beine und streiften mir die nasse Kombination vom Leib. Ich war unfähig, auch nur einen Finger zu rühren. Ein Matrose hielt mir einen metallenen Becher an die Lippen.

»Schlucken Sie, Commander!« sagte er. »Das wird Sie aufmöbeln.«

Einen Augenblick lang glaubte ich, ich müßte ersticken. Das Zeug, das der Matrose mir einflößte, war heißer Rum.

Lieutenant Parker sagte: »Wir waren schon in Sorge. Was ist passiert?«

Romen mußte an meiner Stelle antworten. »Es gab ein wenig Ärger. Da unten …«

»Eine Basis?«

»Eine ganze Stadt.«

Lieutenant Parker schnappte nach Luft. 

»Grundgütiger Himmel. Ich hoffe nur, der Ärger war nicht ernsthafter Natur.«

»Ernsthaft genug, um die Nase voll zu haben.«

Der Lieutenant warf mir ein Handtuch zu. »Rubbeln Sie sich ab, Commander! Tun Sie was für Ihren Kreislauf! Danach werden Sie sich entschieden besser fühlen.«

Ich dankte mit einem Kopfnicken. Noch immer war meine Wangenmuskulatur völlig verkrampft. 

Lieutenant Parker bemerkte: »Der Kapitän wird einen schriftlichen Bericht haben wollen. Was ist mit diesem Wrack? Haben Sie's zumindest gefunden?«

Romen warf mir einen raschen Blick zu, bevor er antwortete: »Gefunden und von der Liste gestrichen. Der Fall ist abgeschlossen … Die VEGA dankt.«

Der Lieutenant sah auf die Uhr. »Wenn dem so ist, kann ich jetzt wohl den Kapitän dahingehend verständigen, daß dem Ablaufen nichts mehr im Wege steht.«

Ich nickte. Romen sagte: »Tun Sie das. Je früher wir uns verkrümeln, desto besser. Ich hab' genug von den Barschmäulern.«

Lieutenant Parker eilte los; vor dem Schott drehte er sich noch einmal um.

»Übrigens – das wird Sie interessieren – haben wir die Wartezeit auf nützliche Weise überbrückt. Es ist uns gelungen, einen Schiffbrüchigen aufzufischen.«

Er wollte sich durch das Schott zwängen. Mein Krächzen hielt ihn zurück. 

»Was?«

Lieutenant Parker zog das Bein wieder zurück und wiederholte geduldig: »Es ist uns gelungen, einen Bürger der EAAU vor dem sicheren Tod zu bewahren, Commander. Er saß mutterseelenallein in einem Rettungsfloß mit defektem Motor.«

Der Lieutenant krümmte sich und kroch durch das Schott. Ich ließ das Handtuch fallen, riß Romen die Pistole aus dem Futteral, entsicherte sie und humpelte hinter Lieutenant Parker her.

In der Zentrale war es still und feierlich wie in einer Kirche. Nur das gedämpfte Fauchen der Klimaanlage war zu hören. Ein halbes Dutzend Offiziere war zur Entgegennahme neuer Befehle angetreten. Kapitän Utrecht stand etwas abseits und blickte Lieutenant Parker entgegen. Er wollte ihn ansprechen – doch in dieser Sekunde bemerkte er mich und die Waffe in meiner Hand, und seine Brauen ruckten in die Höhe. Seine Stimme klang scharf: »Commander, was hat das zu bedeuten?«

Ich wollte es ihm erklären – aber die Ereignisse waren schneller als meine Zunge. Der bebrillte Zivilist, der hinter Kapitän Utrecht stand, tat einen Schritt zur Seite und sagte: »Schon gut, Kapitän, regen Sie sich nicht auf! Die Waffe hat nichts zu bedeuten. Der Commander ist schon im Begriff, sie fallen zu lassen.«

Dr. West stand mitten in der Zentrale: um seine Lippen schwebte ein triumphierendes Lächeln: seine erhobene rechte Hand umschloß eine grünliche Phiole. Sein Blick war auf mich gerichtet, und auch seine nächsten Worte galten mir: »Commander – Sie verübeln's mir doch nicht, wenn ich förmlich bleibe? –, nur eine einzige verdächtige Bewegung Ihrerseits, und diese Phiole zerschellt auf den Bodenplatten. Was danach hier geschehen wird, können Sie sich denken.«

Er war nicht länger mein Halbbruder Nat. Er war ein fremder, gefährlicher Verrückter.

»Und Sie selbst, Dr. West?« fragte ich. »Was wird aus Ihnen?«

Er kicherte.

»Commander, ich hab's hinter mich gebracht. Mir kann das Zeug nichts mehr anhaben. Ich bin immun.«

Dem Kapitän schien etwas zu dämmern; er fuhr herum. Gerade noch rechtzeitig konnte ich ihn warnen: »Lassen Sie das, Kapitän! Um Himmels willen – rühren Sie diesen Mann nicht an! Was er da in der Hand hat, ist teuflischer als jede Bombe.«

Utrechts Arme sanken herab. Er sah mich an: empört und hilflos.

Ich sagte: »Man hätte Sie einweihen sollen, Kapitän – dann hätten Sie um diesen verdammten Schiffbrüchigen, statt ihn aus dem Wasser zu fischen, einen weiten Bogen gemacht. Dr. West war einer der Mitarbeiter des nicht mehr existierenden Raumlabors Aeskulab. Die Phiole, mit der er uns bedroht, enthält den Goodman-Bazillus, den er, als die Seuche ausbrach, an sich nahm und entführte. Falls er seine Drohung wahrmacht und die Phiole fallen läßt, wird es an Bord der Poseidon in zwei, drei Stunden keine lebendige Seele mehr geben.«

Hinter mir spürte ich eine Bewegung. Romen war hinter mich getreten und hielt sich bereit zum Sprung. Ich vertrat ihm den Weg. 

Dr. West schüttelte den Kopf. 

»Nicht näher kommen, Commander. Und lassen Sie endlich die Pistole fallen. Mein Arm wird müde.«

Die Waffe war nach wie vor auf ihn gerichtet; ich brauchte nur abzudrücken. Was mich daran hinderte, war die nüchterne Erkenntnis, daß uns Gewalt nicht weiterbrachte. Die Phiole war ein höchst zerbrechlicher Gegenstand. Falls ich wirklich schoß, so würde sich Dr. West noch im Augenblick seines Todes als der eigentliche Sieger erweisen. Ich gehorchte und ließ die Pistole fallen. Dr. West bückte sich und nahm sie an sich. Danach wandte er sich an Kapitän Utrecht. 

»Und nun, Kapitän, nehmen wir Kurs auf Metropolis. Ich habe dort einiges zu erledigen. Verständigen Sie den Maschinenraum.«

Utrecht war nicht nur ein Dickschädel; er war auch ein harter Mann, der sich so leicht nicht einschüchtern ließ. Er erwiderte: »Darüber, wohin die Poseidon fährt oder nicht fährt, bestimme noch immer ich.«

Dr. West lief rot an. Er schrie: »Es scheint Ihnen noch nicht klargeworden zu sein, daß ich Sie in der Hand habe – Sie, Ihre Offiziere, Ihre Matrosen, das ganze Schiff! Gewöhnen Sie sich daran, daß ich es bin, der hier die Befehle erteilt. In Zukunft werde ich keinen Widerspruch dulden.« Dr. Wests freie Hand suchte nach der Sprechtaste. 

Kapitän Utrecht sagte sanft: »Sie mögen zwar Befehle erteilen können – aber auf einem atomar getriebenen Tauchschiff kennen Sie sich offenbar nicht aus. Nur zu, Dr. West, drücken Sie die Taste da nur nieder. Sie werden überrascht sein, was dann passiert.«

Dr. West zog die Hand zurück. An der Taste, die er bereits berührt hatte, war nichts Auffälliges. Auch ich hätte sie für eine Sprechtaste gehalten.

Einen Atemzug lang war Dr. West verunsichert. Gleich darauf hatte er sich wieder gefaßt. 

»Was dann passiert, will ich nicht wissen. Sie kennen meinen Befehl: Kurs auf Metropolis! Verständigen Sie also den Maschinenraum.«

Kapitän Utrecht warf mir einen fragenden Blick zu. Ich nickte. Er seufzte und stellte die gewünschte Verbindung her.

»Hier spricht der Kapitän«, sagte er. »Wir nehmen Fahrt auf.«

Im Anschluß an diese Durchsage wandte er sich an den Navigationsoffizier. »Kurs Metropolis.«

Dr. West schwenkte die Phiole. 

»Meine Herren, nachdem wir uns einig geworden sind, ziehe ich mich in meine Kammer zurück. Wecken Sie mich, bevor Sie in Metropolis anlegen – und unterlassen Sie alles, was mein Mißfallen erregen könnte. Ich werde die Phiole nicht aus der Hand legen – nicht einmal im Schlaf.«

Dr. West verließ die Zentrale. Wir hörten ihn kichern, als er den Niedergang zum Wohndeck hinabstieg.

Hinter mir holte Romen tief Luft und sagte: »Weiß Gott, Mark, ich weiß nicht, ob ich mich an deiner Stelle beherrscht hätte. Dieser Verrückte lacht uns doch glatt ins Gesicht.«

Kapitän Utrecht räusperte sich. »Ich denke, Sie sind mir eine Erklärung schuldig, Commander.«

Wir setzten uns, und ich berichtete Kapitän Utrecht alles, was er wissen mußte, um die gegebene Lage richtig einzuschätzen. Danach schüttelte er den Kopf. 

»Ich habe mich schon gefragt, was wohl in dem roten Behälter steckt, den er unbedingt mit an Bord nehmen wollte, aber ich war einfach zu gut erzogen, um ihm Löcher in den Bauch zu fragen. Nun haben wir die Bescherung.«

Der Behälter mit der Bakterienkultur befand sich mithin an Bord der Poseidon. Ich verwahrte diese Tatsache in meinem Gedächtnis. Der Kapitän zog Bilanz – kurz und bündig, wie es seinem Wesen entsprach: »Er hat uns also glatt überrumpelt – und während er nun den Schlaf des Gerechten schläft, müssen wir tun, was er von uns verlangt. Das ist verdammt bitter. Vor allem, weil sich nirgendwo ein Ausweg abzeichnet. Dieser Pirat hat uns völlig in der Hand. Doch was wird sein, wenn wir Metropolis erreichen? Man kann ihn doch nicht einfach auf die Stadt loslassen!«

Kapitän Utrecht war ratlos. Ich spürte seinen Groll und wußte ihn zu deuten. Dr. West befand sich an Bord der Poseidon – zusammen mit einem halben Hundert kräftiger Matrosen, von denen jeder einzelne ihn mühelos überwältigen konnte. Und doch waren uns die Hände gebunden. 

Der Navigationsoffizier erschien und meldete, daß die Poseidon auf dem befohlenen Kurs lag.