7.

23.4.2079

Wir kamen auf dem Seeweg, mit einem grauen, superschnellen Tragflächenboot, und im Äther herrschte unseretwegen Zeter und Mordio. Harris hatte unsere Tarnung in die Hand genommen und die Sicherheitsbehörde dazu veranlaßt, eine Großfahndung nach zwei ausgebrochenen Gewaltverbrechern mit Kurs auf die nordafrikanische Küste auszuschreiben. Danach, so hoffte ich, sollten wir in Tunis eigentlich willkommen sein. 

Tunis empfing uns mit strahlendem Sonnenschein, aber dafür hatte ich keinen Blick. Viel mehr interessierte mich der Hafen mit seinem Gewirr von Booten und Schiffen aller Art. Auch ein paar kleinere U-Boote waren vertreten – untrügliches Anzeichen dafür, daß die illegalen Transaktionen, die von hier aus gestartet wurden, Stil und Format besaßen. Wir machten an der Kaimauer fest und sprangen an Land.

Ein Haufen Gesindel der verschiedensten Rassen und Hautfarben lungerte im Hafen herum, doch offenbar nahm von uns niemand Notiz. Vor unseren Blicken dehnte sich die große Stadt, ein wahres Labyrinth von Häusern, Hütten und Palästen, von Straßen und Gassen. Irgendwo in dieser Stadt hielt sich Dr. West verborgen; hier saß er, hier schlief er, hier verbrachte er seine Wartezeit mit dem beharrlichen Kultivieren seiner wahnwitzigen Idee.

Unter glühender Sonne überkam mich ein Frösteln. Romen verzog das Gesicht.

»Weißt du, wonach das hier stinkt, Mark?«

Ich sah ihn fragend an.

»Es stinkt nach der Höhle des Löwen!« sagte Romen. »Und wir stecken mittendrin wie zwei leckere Appetithäppchen. Also, wie fangen wir's an? Willst du vielleicht von Haus zu Haus gehen und dich nach Dr. West erkundigen?«

»Er ist mit einer Tornado gekommen«, sagte ich, »das ist eine ziemlich auffällige Maschine. Man kann sie nicht in der Westentasche verstecken. Es muß Leute geben, die darüber Bescheid wissen. Wenn wir sie entsprechend hoch bezahlen, werden sie reden.«

Romen wiegte den Kopf.

»Das kann Wochen dauern, Mark, bis wir auf diese Leute stoßen, und bis dahin hat man uns längst das Fell über die Ohren gezogen. Was hältst du davon, wenn ich mich zunächst allein auf die Socken mache und mich umhorche?«

»Allein – warum?«

»Ich bin Zigeuner, Mark, und ich wette, daß es hier noch mehr Zigeuner gibt. Zu mir – sobald sie sich davon überzeugt haben, daß sie mich nicht zu fürchten brauchen – werden sie offen sein. Wir werden ein paar zuverlässige Verbündete dringend nötig haben.« 

Ich war unschlüssig.

»Du gehst ein großes Risiko ein, Grischa.«

»Unsinn!« Romen lächelte mit der Verschmitztheit eines Wolfes. »Du weißt, in welchem Ruf wir Zigeuner stehen. Wir stehlen wie die Elstern – aber wenn's darum geht, irgendwelchen Obrigkeiten die Zähne zu zeigen, dann halten wir zusammen.«

Noch immer zögerte ich. Romens Vorschlag war bestechend – aber er enthielt auch einen Unsicherheitsfaktor.

»Angenommen, es gibt keine Zigeuner in Tunis?«

»Es gibt sie. Es muß sie geben. Wo so viel Volk zusammenströmt, sind immer ein paar Zigeuner dabei.«

Ich schwieg und überlegte.

Romen zog die Mundharmonika aus der Tasche und setzte sie an die Lippen. Die Melodie, die er ihr entlockte, klang schrill. Der Erfolg stellte sich sofort ein. Aus der Menge löste sich ein braunhäutiger junger Bursche mit einem verwegen geschlungenen roten Halstuch und kam zu uns herangeschlendert. Seine Augen blickten mißtrauisch. Er sprach uns an – in einer mir unbekannten Sprache, und Romen antwortete darauf – mit den gleichen, fremdländisch klingenden Lauten. Die Miene des Burschen entspannte sich. Er lachte und reichte Romen die Hand.

Romen wandte sich an mich.

»Die Wette wäre bereits gewonnen. Er wird mich zu seiner Familie führen. Du tätest besser daran, hier auf mich zu warten.«

Es war einen Versuch wert. Wir befanden uns zwar – auf einen vagen Verdacht hin – in Tunis, doch damit waren wir mit unserem Latein bereits am Ende. Ein konkreter Anhaltspunkt fehlte. Ich war einer plötzlichen Eingebung gefolgt, weil ich mich in Major Hansens Büro daran erinnerte, daß Dr. West – als er für mich noch Nat gewesen war – von Tunis mehr als einmal geschwärmt hatte. Hier war er seiner ersten großen Liebe begegnet, und hier wollte er – so hatte er einmal im Scherz gesagt – begraben sein. Und außerdem war diese Stadt für einen gejagten Mann das ideale Versteck. 

»Paß auf dich auf, Grischa!«

Romen winkte ab. 

»Ich bin gut aufgehoben, Mark. Mein Freund hier verbürgt sich für meine Sicherheit. Paß lieber auf dich selbst auf. Besser, du verschwindest wieder unter Deck.«

Romen legte einen Arm um den braunhäutigen Burschen, und beide gingen davon. Ich blickte ihnen noch eine Weile nach und kehrte dann auf das Boot zurück.

Nach langer Zeit war ich zum ersten Mal wieder allein – und damit fielen die alten, unseligen Erinnerungen wieder über mich her. Ich dachte an Ruth O'Hara, meine geliebte Frau, die ich der Pflicht geopfert hatte, und erneut überkam mich das Verlangen, mein Unglück hinwegzuspülen und auf dem Grund einer Flasche Trost und Vergessen zu finden. Ich widerstand der Versuchung. Das Unheil, das ich auf Dal Bor 13 angerichtet hatte, war bereits groß genug.

Dr. West mußte gefunden werden – und der alte Harris hatte recht: Ich, der ich Dr. Wests Gepflogenheiten und Gedanken kannte, konnte das vollbringen: besser als jeder andere. Was danach aus mir werden würde, stand auf einem anderen Blatt.

Durch das Bullauge konnte ich den Himmel sehen – die Welt der Sterne, zu der ich mich, seitdem ich denken konnte, hingezogen fühlte. Dort, jenseits der seidigen Bläue, lagen sie verborgen, alle die verheißungsvollen Ziele für ein dahinstürmendes schnelles Schiff: Venus und Mars, Uranus und Jupiter. Dort wartete die Sphärenmusik eines unendlichen Raumes – die große Freiheit, die letzte. Ich gehörte nicht mehr dazu. Ich war herabgesunken zu einem Trunkenbold.

Vielleicht würde man mir gerade noch die Uniform mit den goldenen Streifen lassen, um den Skandal nicht noch augenfälliger zu machen. Aber niemand würde mir je wieder ein Schiff anvertrauen. Ich wollte auch nicht mehr. Zu welchen Fernen lohnte es sich noch aufzubrechen, wenn daheim keiner auf die Rückkehr wartete?

 

Die Zeit verging.

Es wurde Mittag und Nachmittag. Romen war nicht zurückgekehrt.

Ich begann unruhig zu werden. Irgendwann hielt es mich nicht länger. Ich verließ die Kabine und sprang an Land. Im Hafen herrschte das übliche Leben und Treiben. Das Gesindel, das sich an allen Ecken herumdrückte, wirkte unsympathischer denn je. Ich sah genug frei zur Schau gestellte Waffen, um eine mittlere Armee damit auszurüsten. 

An mir vorüber schlenderte ein Asiat mit pockennarbigem Gesicht und streifte mich mit einem feindseligen Blick. Wahrscheinlich gehörte er zu den Deserteuren aus den VOR. Ich kümmerte mich nicht um ihn, und er schlenderte weiter. Nach ein paar weiteren Schritten stieß er mit einem betrunkenen, baumlangen Neger zusammen, und beide fingen eine Schlägerei an. Der Neger gewann die Oberhand, aber das Blatt wendete sich, als der Asiat ihn in die Brust schoß. 

Ein Mord hatte sich ereignet, aber niemand nahm davon Notiz. Der Asiat stand auf, klopfte sich den Staub vom Gewand und schlenderte weiter. Der erschossene Neger blieb auf der Kaimauer liegen. Ich hielt mich zurück.

Hier war ich höchstens als Beobachter geduldet. Recht und Gesetz waren zu Fremdwörtern geworden.

Romen war nirgends zu sehen. Ich wollte mich bereits abwenden, um auf das Boot zurückzukehren, als ein schmalgesichtiger schwarzer Mann plötzlich mit dem Finger auf mich wies und schrie: »Commander Brandis!«

Das Gesicht des Mannes weckte in mir keine Erinnerungen – aber seine Haltung war unverkennbar die eines Malembo-Kriegers, die sich, auf dem Höhepunkt der Evakuierungsmaßnahmen, zum Bund der Fliegenden Löwen zusammengeschlossen hatten.

Ich tat das einzige, was sich in meiner Situation tun ließ: Ich hob abwehrend die Hände, um dem Mann zu verstehen zu geben, daß er sich irrte. Er fiel nicht darauf herein.

Major Hansen hatte mich gewarnt, und ich hatte seine Warnung in den Wind geschlagen. Nun bekam ich die Folgen zu spüren. Im Nu war ich von einem Haufen schwarzer Gesellen umringt, und noch bevor ich die Waffe herausreißen konnte, hatten sie mich überwältigt. Etwas krachte gegen meinen Kopf. Ich brach in die Knie.

 

Als ich wieder zu mir kam, mußte ich erkennen, daß meine Uhr abgelaufen war – und dagegen ließ sich nichts unternehmen. Vor mehr als zwei Jahren hatte ich – im Zusammenhang mit der fehlgeschlagenen Operation Sonnenfracht – das meine dazu beigetragen, um dem Bund der Fliegenden Löwen, der die erforderliche Evakuierung verhindern wollte, das Handwerk zu legen. Hier in Tunis mußte sich dieser afrikanische Geheimbund neu formiert haben – und nun schlug er zurück.

Ich stand im Mittelpunkt eines freien Platzes, den die johlende Meute um mich herum freigelassen hatte, und über mir schwebte, getragen von fauchenden, pfeifenden Skyridern, ein halbes Dutzend schwarzhäutiger Burschen. Dies war mein Hinrichtungskommando. Der Umstand, daß ich aufrecht auf den Beinen stand, ohne erneut in die Knie zu brechen, war lediglich jenem Strick zuzuschreiben, der sich schmerzhaft und würgend um meinen Hals spannte und dann aufwärts führte – hoch zu den Fliegenden Löwen, die ihn mit vereinten Kräften gepackt hielten.

Der gaffende, johlende Pöbel, der mich umringt hielt, bestand keineswegs nur aus schwarzhäutigen Malembo-Anhängern. Ich erkannte Gesichter aller Schattierungen, Männer und Frauen; aber das änderte nichts an der Tatsache, daß ich von ihm keine Hilfe zu erwarten hatte. In Tunis gab es nur ein einziges Gesetz, das geachtet wurde: das der Gewalt.

Der Pöbel weidete sich am unverhofften Schauspiel. Vor mir stand der Schwarze, der mich als erster erkannt hatte. Nun betätigte er sich als mein Ankläger und Richter – alles in einer Person. Er sagte: »Willkommen, Commander Brandis!«

Ich schwieg.

Er trat näher und spie mir ins Gesicht. Ich roch seinen Atem.

»Wir hätten Sie töten können«, fuhr er fort, »aber vorhin waren Sie bewußtlos. Es hätte uns nicht das gleiche Vergnügen bereitet wie jetzt.«

Es war sinnlos, mit ihm zu rechten. Früher, unter John Malembo, mochte er ein aufrechter Krieger gewesen sein, doch die Zeit und die Umgebung hatten ihn verändert. Er war nur noch ein Halsabschneider, den es nach einem blutigen Schauspiel verlangte.

Der Halsabschneider lachte, trat zurück und hob in der Art eines Arbeiters, der einen Kranführer einweist, die Hand zu einer schraubenden Bewegung. Der Strick um meinen Hals spannte sich enger, ich rang nach Luft, meine Füße lösten sich vom Boden. Die Menge jubelte.

Die Fliegenden Löwen hatten zu steigen begonnen, und ich hing wie eine verschnürte Puppe an ihrem Strick.

Ein Stück Erinnerung ging mir auf alle Zeit verloren. Ich schlug die Augen wieder auf und blickte in ein vertrautes Gesicht. Romen war vor mir niedergekniet, und nun löste er den Strick von meinem Hals, der mir noch immer ins Fleisch schnitt. In seiner rechten Hand hielt er die schwere Pistole.

Er war nicht allein gekommen. In seiner Begleitung befand sich ein gutes Dutzend braungesichtiger Burschen, alle mit roten Halstüchern.

Romen fragte: »Mark, geht's besser?«

Ich versuchte zu nicken. 

»Besser auf jeden Fall.«

Romen massierte meinen Hals. 

»Um ein Haar hätten die Banditen dich kaltgemacht. Wir mußten dich schon so halbwegs vom Himmel herabschießen. Nur gut, daß ich ein paar zuverlässige Scharfschützen bei mir hatte.«

Ich richtete mich auf, Hals und Schultern waren völlig verkrampft. 

»Was sind das für Leute?«

Romens braune Augen lächelten. »Oh, die  … das ist meine neue Familie.«

»Deine was?«

»Zigeuner«, klärte Romen mich auf. »Die Familie hat mir Gastrecht gewährt. Und durch sie habe ich auch einiges in Erfahrung gebracht.«

Ich vergaß meine Beschwerden und Schmerzen und stemmte mich in die Höhe. Die Meute hatte sich zum größten Teil verlaufen, der Rest sich in sichere Entfernung zurückgezogen. Auf dem Pflaster lagen einige getötete Fliegende Löwen. Romen und seine Zigeuner behaupteten eindeutig das Feld.

Gewalt wurde geachtet, wirklich. Man mußte nur der Stärkere sein. Ich dachte daran, was mich in diese Stadt geführt hatte.

»Was hast du in Erfahrung gebracht?«

Romen verwahrte die Pistole.

»Auf jeden Fall weiß ich jetzt, wo die Tornado abgestellt worden ist.«

»Wo?«

Er deutete stadtaufwärts.

»In der Kasbah, in einem der Innenhöfe. Dr. West bewohnt einen alten maurischen Palast mit aller Bequemlichkeit.«

Ich suchte den Boden ab, bis ich meine Waffe fand. Ich hob sie auf, überprüfte sie und steckte sie in den Gürtel. 

»Worauf warten wir dann noch?« Grischa Romen schüttelte den Kopf. »Mark, er befindet sich in der Kasbah, und diese Altstadt ist wie eine Festung gebaut. Wahrscheinlich hat er sich längst eine Armee von Helfershelfern angeworben.«

Ich blickte auf seine Begleiter; sie wirkten kampferprobt und verwegen. 

»Und deine Freunde?«

»Sind zu jeder Schandtat bereit«, sagte Romen. »Ich habe sie, soweit nötig, eingeweiht. Sie stehen auf unserer Seite. Aber um die Kasbah zu stürmen, brauchst du schon mehr als eine Handvoll Zigeuner. Nicht einmal mit einem Kaiman-Panzer würdest du das schaffen.«

Mein Blick richtete sich auf die toten Fliegenden Löwen. Sie trugen noch immer ihre Skyrider. Romen erriet meine Gedanken.

»Mark, du denkst jetzt an einen überraschenden Angriff aus der Luft – wie damals, als wir den Malembo-Kral stürmten. Aber die Dinge liegen hier anders. Du müßtest es auf einen Krieg ankommen lassen mit dem ganzen Gesindel.«

Romen und ich kehrten auf das Boot zurück. Die Zigeuner postierten sich auf der Kaimauer. Romen begab sich zum Projektor und stieß eine Folie in den Schacht. 

»Das habe ich auftreiben können, Mark. Vielleicht hilft es uns weiter.«

Ich blickte auf den Stadtplan von Tunis. Ich sah Straßenzüge, Häuser, Mauern, Leitungen. Aber ich sah noch mehr. In mir begann ein Plan zu reifen.