9.

25.4.2079

Captain Tom O'Brien, VEGA-Testpilot z.b.V., ein rothaariger, sommersprossiger, blauäugiger Ire, schüttete seinen Becher voller Bier, bis der Schaum überschwappte. Dann grinste er mich an und kippte das Bier mit Schwung in sich hinein.

»Also, Sir, wo soll ich anfangen?«

Wir saßen im Konferenzraum der VEGA-Niederlassung in Palermo. Die Niederlassung war eine unserer kleinsten und unbedeutendsten, und dementsprechend war auch der Konferenzraum: eng und stickig.

»Ich möchte alles über diese Tornado wissen«, sagte ich. »Sie haben sie doch im Auge behalten?«

Captain O'Brien fuhr sich mit dem behaarten Handrücken über die Lippen.

»Das kann man wohl sagen, Sir. Vom Augenblick ihres Startes an bin ich ihr nicht von den Fersen gewichen.«

»Womit waren Sie unterwegs?«

»Mit einem Taurus-Zerstörer neuester Bauart – offiziell noch nicht einmal eingeflogen. Aber der Apparat war gerade zur Hand, und darum griff ich ihn mir.«

»Konnte Dr. West Sie sehen?«

»Keine Spur.«

»Auf dem Radar?«

Captain O'Brien schüttelte den Kopf. 

»Ausgeschlossen, Sir. Ich hatte ihn zwar auf dem Schirm, er mich aber nicht. Die Radargeräte, mit denen die Tornados ausgestattet sind, taugen nicht gerade viel.«

Ich kehrte zum Thema zurück. 

»Und weiter?«

Captain O'Brien kniff ein wenig die Augen zusammen und riß eine neue Bierbüchse auf. 

»Sie gestatten doch, Sir?«

»Tun Sie sich keinen Zwang an, Captain.«

Der Captain griente wie ein Lausbub. 

»Ist sonst auch nicht meine Art, Sir. Ich hab' ein ziemlich dickes Fell.« Er hielt mir die Büchse hin. »Sie auch?«

»Danke, nein.«

Er seufzte erleichtert und bediente sich. 

»Also, die Tornado, Sir. Wie gesagt, ich blieb ihr auf den Fersen, die ganze Zeit über. Nachdem sie Tunis verlassen hatte, ging sie auf südlichen Kurs – etwa in fünfzehntausend Meter Höhe. Ich verfolgte ihren Flug längs über den afrikanischen Kontinent. Auf der Höhe von Kapstadt glaubte ich, sie würde nach Westen schwenken – aber dann hielt sie doch geradewegs hinaus auf den Indischen Ozean.«

Captain O'Brien leerte den Becher. 

»Wissen Sie, Sir«, sagte er, »das ist wie eine Krankheit. Immer wenn ich viel reden muß, bekomme ich Durst. Mein Verhängnis ist – ich hab' nun mal einen Hang zum Reden. Ich bin eine gesellige Natur.«

Ich fühlte mich erheitert.

»Schön«, antwortete ich, »jetzt haben Sie unbegrenzte Gelegenheit zum Reden. Wo ist die Tornado geblieben?«

»Wo?« Der Captain starrte sehnsüchtig auf seinen leeren Becher. »Bei den Fischen, Sir.«

Ich beugte mich vor.

»Sie ist gewassert?«

Captain O'Brien wiegte den Kopf. 

»So kann man's auch nennen, Sir. Aber die zutreffendere Bezeichnung für ihr plötzliches und unerwartetes Manöver lautet: sie ist abgestürzt.«

»Wiederholen Sie das!«

Der Captain blickte mich aus schmalen Augen an. 

»Sie geriet ins Trudeln, schlug auf dem Indischen Ozean auf und versank – ein klarer Fall.« Der Captain schob mir einen Zettel zu. »Das ist die Position. Sie ist vielleicht nicht auf den Punkt genau – aber gerade in dem Augenblick tauchte eine VOR-Patrouille auf, und ich hielt es nicht für angebracht, mit ihr anzubändeln. Die Tornado lag im Bach – und ich gab Fersengeld.«

»Und kein Zweifel ist möglich?«

»Kein Zweifel, Sir. Die Tornado amüsiert sich mit den Fischen.«

Captain O'Briens Stimme klang bestimmt. Ich konnte mich auf ihn verlassen. Er war ein erfahrener Testpilot. Wenn er sagte, er hätte den Absturz beobachtet, dann hatte dieser Absturz auch stattgefunden. Ein Gefühl ungeheurer Erleichterung überkam mich.

Die Jagd war zu Ende – und der bittere Kelch war an mir vorübergegangen. Das Schicksal selbst hatte die Entscheidung herbeigeführt – in Form eines technischen Defekts oder eines fliegerischen Kunstfehlers. Was immer auch diesen Absturz verursacht hatte – es war unwichtig. Worauf es ankam, war dies: Dr. West weilte nicht mehr unter den Lebenden; die Gefahr war gebannt. Und ich war von allen meinen Verpflichtungen entbunden – nicht länger dazu gezwungen, meinem Halbbruder mit gezogener Waffe entgegenzutreten. Der Ozean war ihm zur letzten Ruhestätte geworden; der Behälter mit dem Goodman-Bazillus lag in unermeßlicher Tiefe, wohlverwahrt wie in einem Tresor. Niemand würde ihn je suchen.

Alles, was es für mich noch zu tun gab, war, ein Gespräch nach Metropolis anzumelden und John Harris vom Ende der Jagd zu verständigen. Ich stand auf.

»Ich danke Ihnen, Captain.«

Captain O'Briens Augen enthielten eine Frage. 

»Das ist alles, Sir?«

»Das ist alles«, sagte ich. »Aber behalten Sie, was hier zur Sprache gekommen ist, für sich.«

 

Keine zehn Minuten später saß ich in einer Telekabine vor dem Monitor und blickte in John Harris' griesgrämiges Gesicht.

Er sparte sich jegliche Begrüßung. 

»Was gibt's, Commander?«

Seine Augen wirkten müde – wie nach einer schlaflosen Nacht. Letztlich war auch er nur ein Mensch – ein Mann mit zu vielen Pflichten und einer viel zu großen Verantwortung. Ich empfand keinen Groll mehr gegen ihn.

»Sie können sich beruhigt aufs Ohr legen, Sir«, sagte ich. »Der Fall ist ausgestanden.«

Harris wirkte alles andere als elektrisiert. Lediglich seine buschigen Augenbrauen zuckten in die Höhe. Er war ein Mann, der immer alles ganz genau wissen wollte. Voreilige Schlußfolgerungen waren ihm verhaßt. 

»Sie haben ihn?«

Ich genoß es, ihm einen Schritt voraus zu sein. 

»Nein, Sir«, antwortete ich. »Aber ich weiß, wo er sich befindet.«

Harris blickte kühl. 

»Und wo?«

Vor meinem inneren Augen dehnte sich eine seidigblaue, schimmernde Wasserfläche, Mir war, als wäre ich dabeigewesen: Ich sah die Tornado sinken – tiefer und immer tiefer, dem schwarzen Abgrund entgegen.

»Auf dem Grund des Indischen Ozeans, Sir. Nachdem er Tunis verlassen hat  … verlassen mußte, befand er sich offenbar auf der Suche nach einem neuen Schlupfwinkel. Bevor er dort eintraf, stürzte die Tornado aus ungeklärten Gründen ab. Captain O'Brien ist unser Augenzeuge.«

Harris lief rot an und schluckte. Danach wurde er kreidebleich.

»Sie wollen sagen, Commander«, fragte er – mit jenem eisigen Unterton in der Stimme, der auf mühsame Beherrschung schließen ließ –, »daß auch der Behälter mit der Bakterienkultur im Indischen Ozean liegt?«

»So ist es, Sir. Ich habe selbst gesehen, wie er den Behälter in die Tornado lud.«

Drüben in Metropolis krachte John Harris' Faust auf den Tisch. 

»Wissen Sie, was das heißt?«

»Nein, Sir.«

Harris war sichtlich bemüht, jeglichen Vorwurf aus seiner Stimme zu tilgen.

»Dr. West mag sich zur letzten Ruhe betten, wo immer er will. An ihm bin ich nicht interessiert. Anders verhält es sich mit diesem Behälter, der noch aus den Beständen des Raumlabors Aeskulab herstammt. Er besteht – und ich bin sicher, Ihnen das gesagt zu haben – aus Torresten. Das ist ein Material, das eigens für die Verwendung im Weltraum entwickelt wurde. Bereits ein normaler atmosphärischer Einfluß wirkt auf die Dauer zersetzend auf das Material ein. Seewasser ist das letzte, was man ihm zumuten darf.«

Er mochte es mir gesagt haben – aber dann gewiß ohne jeden erläuternden Zusatz, und für mich, der ich kein Chemiker war, verband sich mit der bloßen Nennung des Materials keinerlei Assoziation. Aber darauf kam es im Augenblick nicht an. Was zählte, war einfach die Tatsache. Die Gefahr war alles anders als gebannt. Im Gegenteil: sie begann erst jetzt, richtig akut zu werden. 

Ich sagte: »Das klingt in der Tat übel, Sir.«

Harris überlegte. Dann antwortete er: »Übel im doppelten Sinn, Brandis. Bisher war es eine VEGA-interne Angelegenheit – und so wurde sie auch gehandhabt. Nun muß ich sie abtreten an die Marine. Es wird Anfragen geben und umständliche Konferenzen. Eine undichte Stelle – und der ganze verdammte Globus wird in Aufruhr sein.«

»Bis wann muß der Behälter gehoben sein?«

»Besser heute als morgen. Drei oder vier Wochen – das ist das Äußerste, was ich ihm gebe.« Harris nickte mir zu. »Nun gut, Commander, Sie haben Ihr Bestes getan, und ich will Ihnen das anrechnen. An dieser Entwicklung tragen Sie keine Schuld.«

Harris war im Begriff, das Gespräch zu beenden. Sein nächster Anruf würde der Admiralität gelten. 

Ich sagte rasch: »Augenblick, Sir!«

Harris' Miene wirkte ungeduldig. »Was denn noch?«

Harris hatte sicherlich recht: An der Panne trug ich keine Schuld. Aber wenn ich auf Dal Bor 13 nicht so schmählich versagt hätte, wäre es nie soweit gekommen.

Es gab noch einen weiteren Grund, weshalb ich jetzt nicht einfach den Koffer packen wollte. Zum ersten Mal seit vielen Wochen empfand ich wieder Achtung vor mir selbst. Ich war über das Schlimmste hinaus und spürte keinerlei Neigung, zum heulenden Elend zurückzukehren. Der Schmerz um Ruth O'Hara würde bleiben – nur würde ich fortan mit ihm leben wie ein Mann.

»Lassen Sie die Marine aus dem Spiel, Sir. Ich habe die Sache angefangen, und ich werde sie auch zu Ende führen.«

Harris musterte mich lange und kritisch. 

»Ganz«, sagte er schließlich, »werden auch Sie auf die Marine nicht verzichten können. Ich werde einen Vorwand erfinden, daß man Ihnen die alte Poseidon zur Verfügung stellt. Bleiben auch Sie bei der Version, daß es uns nur um die Tornado geht – um die Aufklärung einer Absturzursache.«