10.

1.5.2079

Die Poseidon lag in Melbourne wartend am Kai. Eine Gangway spannte sich zu ihr hinüber. Das turmlose Boot, einst ein gefürchteter Kämpfer, gehörte längst zum alten Eisen und fand nur noch selten Verwendung. Es war mit einem seit Jahren überholten atomaren Antrieb ausgerüstet – und das bedeutete, daß es für einen jeden potentiellen Gegner eine Kleinigkeit sein mußte, das Boot aufzuspüren, wenn man es nicht mit einer umständlichen Filteranlage versehen hätte, die die ausgeschiedene Radioaktivität neutralisierte. Ich kannte das Boot bereits aus der Zeit des Bürgerkrieges her. Es war beteiligt gewesen an dem ›Unternehmen Delphin‹, das die Wende herbeiführte.

Romen hatte die Diana, mit der wir aus Palermo gekommen waren, am Molenkopf aufgesetzt, sehr zum Verdruß des Hafenmeisters, der lange und wortreich dagegen protestierte, und nun reichte ich Romen die Hand.

»Grischa, hier trennen sich unsere Wege.«

Romen dachte nicht daran, meine Hand zu ergreifen. 

»Was soll das heißen, Mark?«

Ich dachte an das Tornado-Wrack in grundloser Tiefe, und bereits bei dieser bloßen Vorstellung überkam mich ein Gefühl des Schwindeins. Im Verlauf meiner Ausbildung zum Testpiloten war ich auch mit den Grundbegriffen submariner Bergung vertraut gemacht worden, so daß ich mir nunmehr nichts vormachen konnte. Was auf mich wartete, war alles andere als ein Spaziergang unter Wasser. 

»Das heißt, daß du heimkehren wirst, Grischa. Ich mache allein weiter.«

Romen musterte mich zornig. 

»Du willst mich los sein?«

»Grischa, das Wrack ist ein heißes Eisen. Niemand weiß, wie tief es liegt, aber eins steht fest: Es liegt in einem Seegebiet, in dem die VORs den Ton angeben. Ich meine, es ist genug, wenn einer von uns den Hals riskiert. Du hast eine Frau, die auf dich wartet.«

Romen schien explodieren zu wollen, aber er beherrschte sich.

»Mark, du triefst vor Edelmut.«

»Das ist mein Ernst, Grischa. Wenn ich draufgehe, so ist das weiter kein Verlust.«

Romen seufzte.

»Soviel ich weiß, geht es um den Behälter mit dem Goodman-Virus. Was hältst du davon, wenn ich jetzt Harris anrufe und ihm erzähle, in welch miserabler Verfassung du bist?«

»Das wirst du nicht tun!«

»Und ob ich das tun werde. Es ist mir geradezu eine höhere Verpflichtung.«

»Du glaubst, ich brauche ein Kindermädchen?«

»Ich glaube lediglich: Das ist ein Job für zwei.«

Ich stöhnte und gab mich geschlagen. Ich hatte weder gescherzt noch kokettiert, als ich Romen die Entlassung anbot. Aber er hatte recht: Wir waren ein eingespieltes Team. Ich spürte seine Sorge und seine Zuneigung, und im stillen war ich ihm dankbar dafür.

»Also gut. Einverstanden.«

Wir verließen die Diana und gingen an Bord. Ein junger Lieutenant nahm uns in Empfang und führte uns in die Zentrale. Der Kommandant der Poseidon, Kapitän z. S. Jan Utrecht, entpuppte sich als gedrungener, wasserblauäugiger Holländer. Nach dem üblichen Zeremoniell der Begrüßung kam er zur Sache.

»Ich weiß zwar nicht wieso und warum – aber ich habe Weisung, Sie bei einer Bergung zu unterstützen, Commander. Kann ich jetzt die Einzelheiten erfahren?«

Ich hielt mich an das, was Harris mir eingeschärft hatte.

»Es geht um die Aufklärung eines Absturzes«, sagte ich. »Eine Tornado ist vor ein paar Tagen ins Meer gestürzt. Die VEGA will wissen: warum?«

»Sie haben doch nicht etwa die Absicht, das Schiff zu heben, Commander?«

»Ich habe lediglich die Absicht, das Wrack in Augenschein zu nehmen.«

Utrecht bekam schmale Augen. Mir war klar, daß er mir nicht glaubte. 

»Und die Position?«

Ich reichte ihm den Zettel, den ich von O'Brien erhalten hatte. Utrecht überflog die Koordinaten. Seine Wangenmuskeln zuckten. 

»VOR-Gebiet.«

»Ich weiß.«

»Dann wissen Sie hoffentlich auch, daß es Zunder setzt, falls man uns erwischt?«

»Wir lassen uns eben nicht erwischen.«

Utrecht reichte den Zettel weiter an seinen Navigationsoffizier.

»Das ist der Kurs. Lassen Sie ablegen.«

»Aye, aye, Sir!«

Der Navigationsoffizier stürzte davon. Utrecht wandte sich wieder an mich. 

»Ich bin nur ein einfacher Skipper, der ausführen muß, was die hohen Tiere von der Admiralität befehlen«, sagte er. »In jedem anderen Fall wäre es mir eine innere Befriedigung, Sie auf Ihren Geisteszustand untersuchen zu lassen. Commander.« Utrecht legte den Kopf schief. »Da steckt doch mehr dahinter.«

Der Kapitän der Poseidon war ein Mann nach meinem Herzen: immer gerade heraus. Ich beschloß, ihm einen Schritt entgegenzukommen. Seine Wut – blindlings einem Befehl gehorchen zu müssen – war mir nur allzu verständlich.

»Ja«, antwortete ich. »Aber das ist auch alles, was Sie von mir je erfahren werden. Es steckt mehr dahinter.«

Utrecht grinste.

»Dachte ich's mir doch. Wegen einer lumpigen Tornado setzt man kein Schiff wie die Poseidon aufs Spiel, auch wenn diese nur ein alter Kasten ist – reif zum Abwracken.«

»Sie veranschlagen das Risiko ziemlich hoch?«

Utrecht zuckte die Achseln.

»Ein Risiko ist immer dabei. Die anderen sind auf der Hut – und alles, was recht ist: sie sind verflixt gute Seeleute. Aber wir werden sie austricksen. Das wäre schließlich nicht das erste Mal.« Utrechts Blick wurde fragend. »Sobald wir auf Position sind – womit wollen Sie 'runter?«

»Was haben Sie uns anzubieten?«

»Wir haben ein paar Sumos an Bord, erstklassiges Gerät – vorausgesetzt, Sie verstehen damit umzugehen.«

»Ich denke, das läßt sich lernen.«

Utrecht seufzte.

»Lieutenant Parker wird Ihnen seine Freiwachen opfern müssen. Er ist unser Sumo-Spezialist. Dem können Sie so viele Löcher in den Bauch fragen, wie Sie wollen. Aber wenn Sie danach tatsächlich in ein Sumo klettern und damit 'runtergehen – dann, das möchte ich feststellen, geht alles weitere einzig und allein auf Ihr Konto. Wir übernehmen keinerlei Verantwortung.«

Utrecht verhielt sich korrekt. Ich an seiner Stelle hätte das gleiche gesagt. 

»Völlig klar, Kapitän.«

Utrecht sah auf die Uhr.

»Wir haben abgelegt und werden jetzt auf Tiefe gehen. Gönnen Sie sich ein paar Stunden Schlaf, bevor der Unterricht beginnt. Die Matrosen werden Ihnen Ihre Kammer zeigen.«

Die Poseidon hatte Melbourne verlassen, ohne daß ich etwas vom Ablegemanöver mitbekommen hatte. Nun strebte sie ihrem eigentlichen Element zu, der Tiefsee. Wir waren unterwegs.

 

3.5.2079

Nach einer Reise ohne Zwischenfalle befand sich die Poseidon auf Position: in einer Tiefe von knapp tausend Metern. Kapitän Utrecht weigerte sich, sie tiefer hinabzuführen. Er zeigte Romen und mir das Diagramm des Tiefenschreibers, ein wahres Chaos von Höhen und Tiefen.

Unter dem Kiel erhob sich eine ausgedehnte Gebirgslandschaft, die kartographisch nur unvollständig erfaßt war.

Utrecht begründete seine Weigerung: »Es mag sein, daß die VORs mittlerweile dieses Massiv erforscht und kartographisch erfaßt haben – wir jedenfalls verfügen über nur unzulängliche Informationen. Die Poseidon ist ein ziemlich großes Schiff, und entsprechend braucht sie Raum, um zu manövrieren. Ich bitte daher um Ihr Verständnis, Commander, wenn ich jetzt sage: Bis hierher und nicht weiter! Wir würden uns unweigerlich alle Knochen brechen.«

Der Kapitän erläuterte seinen Plan: Er wollte die Poseidon auf Position halten: währenddessen sollten Romen und ich mit den uns zur Verfügung gestellten Sumos den Meeresgrund absuchen.

»Sie werden feststellen«, sagte Utrecht, »daß Sie sich da auf etwas eingelassen haben, was wie die Suche nach einer Stecknadel im Heuhaufen ist.«

 

Am Nachmittag unternahmen Romen und ich unsere erste Tauchfahrt. Die Sumos waren Ein-Mann-Fahrzeuge. Uns, die wir es von Beruf gewöhnt waren, die ganze bunte Palette der Raum- und Luftfahrzeuge zu meistern, fiel es nicht allzu schwer, mit ihrer Handhabung vertraut zu werden.

Lieutenant Parker, der uns mit einer wahren Engelsgeduld auf diese Tauchfahrt vorbereitet hatte, sagte beim Abschied: »Noch eins! Die Dinger sind zwar ziemlich robust, und es gehört schon einiges dazu, sie zu Klump zu fahren – doch vor heftigen Grundberührungen würde ich mich an Ihrer Stelle trotzdem hüten. Falls Sie die Ruderanlage beschädigen, können Sie auch gleich einen schönen Choral zum Abschied anstimmen.«

»Sie meinen, wir müßten dann unten bleiben?« erkundigte sich Romen. 

Lieutenant Parker nickte grimmig. »Genau das meine ich, mein Freund. Die Ruderanlage ist der neuralgische Punkt.«

Wir kletterten in unsere Sumos und ließen uns hinausschießen.

 

An diesem Nachmittag suchten wir einen guten Quadratkilometer ab, wobei wir uns auf die Gipfel und Hochebenen konzentrierten. Das Wrack der Tornado fanden wir nicht. Daß wir es auf Anhieb finden könnten, damit hatte ich auch nicht gerechnet. Captain O'Briens Positionsangabe war nicht exakt; er selbst hatte darauf hingewiesen. Immerhin war sie zustande gekommen unmittelbar vor einem drohenden Zusammenstoß mit einer Raumpatrouille der VOR. Gegen Abend wies ich Romen an, zur Poseidon zurückzukehren.

Romen spottete: »Ehrlich, Mark – was dich mit Gewalt an Bord zurückzieht, ist die freundliche Miene des Kapitäns.«

Ich lachte.

»Seitdem er auf dich ein Auge geworfen hat, habe ich bei ihm keine Chancen mehr.«

»Auf mich?« Romen prustete. »Mark, ich bleibe doch lieber hier.«

Wir traten die Rückreise an.

Diese erste Tauchfahrt hatte uns – wenn auch nicht den Erfolg – wichtige Erfahrungen beschert. Wir lernten, die Theorie auf die Praxis zu übertragen und mit den Sumos umzugehen, und wir stellten fest, daß die Verständigung von Sumo zu Sumo innerhalb eines gewissen Radius mit keinen Schwierigkeiten verbunden war.

Die Poseidon öffnete am Bug eine Schleuse, und hintereinander glitten die Sumos in die warme, trockene Geborgenheit des Mutterschiffes.

 

13.5.2079

Kapitän Utrecht hatte es gewagt, die Poseidon auftauchen zu lassen. Der Himmel war leer, und das Seegebiet, in dem wir uns aufhielten, zählte zu den verlassensten der Welt. Um jeglicher Überraschung vorzubeugen, waren die Stationen besetzt geblieben. Ein einziger Kontakt nur – und die Poseidon würde erneut in der Tiefe des Indischen Ozeans untertauchen, und danach mußte den VORs schon der Zufall zur Hilfe kommen, um sie aufzustöbern. Der Kapitän der Poseidon verstand sein Handwerk; es war offensichtlich, daß er dieses Katz- und-Maus-Spiel nicht zum ersten Mal betrieb. 

Seit mehr als zehn Tagen trieben wir uns nun in diesem Gebiet herum, ohne daß die stets mißtrauischen Aufklärer der VOR davon Wind bekommen hätten. Während die Sumos überprüft wurden, saßen Romen und ich rauchend an Deck und ließen uns die Sonne auf die Haut brennen. Hinter uns lag eine harte Zeit voller Nackenschläge und Enttäuschungen. Wir hatten fast das ganze in Frage kommende Seegebiet abgesucht und waren dabei in immer größere Tiefen vorgestoßen, ohne auch nur die geringste Spur von Dr. West und seiner Tornado zu finden.

Wenn ich Romen ansah, konnte ich mir vorstellen, in welcher Verfassung ich mich selbst befand. Die Anstrengung war ihm ins Gesicht geschrieben; er wirkte müde und erschöpft.

Was uns am meisten zu schaffen machte, war die Gewißheit, daß die Zeit gegen uns arbeitete. Irgendwo in diesem Seegebiet lag, ohne daß wir seiner habhaft werden konnten, das eigentliche Objekt unserer Suche: der mit dem Goodman-Bazillus gefüllte Behälter aus seewasserempfindlichem Torresten, und mit jedem Tag, der verging, wurde das Material weicher und schwächer. Was geschehen würde, sofern es dem Bazillus gelang, sich auszubreiten, lag auf der Hand. Romen und ich sprachen nicht darüber – aber das änderte nichts an dem Umstand, daß wir uns, jeder für sich, darüber Gedanken machten. Es blieb auch nicht aus, daß ich in meiner Phantasie die entscheidenden Sekunden auf Dal Bor 13 immer wieder nacherlebte.

Ich hatte Dr. West vor mir gehabt. Daran war nicht zu rütteln. Damals hätte alles zu Ende sein können. Aber ich hatte ihn entkommen lassen.

Ich hatte versagt – und das war etwas, was an mir fraß und nagte und worüber ich nicht hinwegkam. Ich war nicht gut genug, er war schlauer als ich gewesen – und er hatte keinen Augenblick gezögert, die Entscheidung mit der Waffe zu suchen. Ich aber hatte gezaudert.

Ein Schatten fiel über mich her. Ich blickte auf und erkannte Kapitän Utrecht. Seine Miene verhieß nichts Gutes.

»Ich habe soeben mit der Admiralität gesprochen«, sagte er. »Dort scheint man allmählich meine Ansicht zu teilen: daß wir hier nur unsere Zeit vergeuden. Man hat mir nahegelegt, eine Entscheidung herbeizuführen.«

Ich stand auf.

»Worauf wollen Sie hinaus, Kapitän?«

Utrecht musterte mich aus unfreundlichen Augen. »Die VEGA hat um Unterstützung durch die Marine nachgesucht, und die Unterstützung ist ihr zuteil geworden. Aber auch ein Freundschaftsdienst hat seine Grenzen. Wir kehren um.«

Ich erstarrte. Mit einer solchen Konstellation hatte ich nicht gerechnet. 

»Wann?«

»Ich will nicht unhöflich sein«, sagte Utrecht. »Ich hörte auf dem Weg hierher, daß die Sumos tauchklar gemeldet worden sind. Diese eine Tauchfahrt will ich Ihnen noch zugestehen – aber danach ist Schluß.«

Kapitän Utrecht war ein Mann nach meinem Herzen, aber zugleich war er ein Dickschädel, und da ich nicht befugt war, ihn über den Hintergrund der Aktion zu unterrichten, fühlte er sich im Recht. Wir befanden uns im Indischen Ozean, der zum Machtbereich der VOR gehörte, und auf Utrechts Schultern lastete die Verantwortung für Schiff und Besatzung.

Er hatte nicht gescherzt, als er sagte, daß es Zunder geben würde, sollten die VORs uns aufspüren. Die Konvention über die freien Meere moderte in einer Schublade des vorigen Jahrhunderts. Die Asiaten duldeten schon lange kein Eindringen in ihre Hemisphäre mehr.

Ich nickte Romen zu. 

»Also los, an die Arbeit.«

Es war sinnlos, mit Kapitän Utrecht zu streiten. Das zu tun stand mir immer noch frei. Ich konnte Harris anrufen und mit seiner Hilfe die ganze hochnäsige Admiralität durcheinanderwirbeln. Aber das würde auch bedeuten, die Karten auf den Tisch zu legen und die Blamage einzugestehen. Harris zögerte, das zu tun. Der gute Ruf der VEGA stand auf dem Spiel. Und ich zögerte ebenfalls. Einstweilen gab ich mich zufrieden.

Eine Tauchfahrt hatte Kapitän Utrecht uns noch zugestanden, aber er hatte versäumt, sie zeitlich zu begrenzen.