3.

3.4.2079

Ich betrat das Gebäude der VEGA mit steinerner Miene – in der Erwartung eines Spießrutenlaufens unter tausend neugierigen Blicken. Der lächerliche Anblick, den ich in meiner viel zu weit gewordenen Uniform bot, war mir bewußt. In den letzten Wochen hatte ich mehr als zehn Kilo abgenommen. Hohläugig, ausgemergelt und schwach, war ich nur noch das Gespenst meiner selbst. Und genauso war mein Befinden. Ich fühlte mich wie ausgespien. Aber niemand schenkte mir Beachtung. Die Uniform kennzeichnete meine Zugehörigkeit, und für das, was sich darunter verbarg, zeigte keiner Interesse.

Harris empfing mich wie in alten Zeiten – als ich noch die Medusa kommandierte, sein bestes und schnellstes Schiff. Darüber, daß ich pünktlich zur Stelle war, verlor er kein Wort. Im Gegensatz zu mir mußte er nichts anderes erwartet haben. Er bot mir einen Platz im Sessel an und öffnete eine Vitrine. 

»Was zu trinken, Commander?«

Die Versuchung war groß. Ich brauchte nur ja zu sagen, ihm die Flasche aus der Hand zu nehmen – und seliges Vergessen würde sich über mich breiten. Die Welt würde erträglich werden – ohne eine Spur von Erinnerung an Ruth O'Hara, ohne den Ärger mit Nat. Zu meiner eigenen Überraschung lehnte ich ab. 

»Danke, nein, Sir.«

Harris klappte die Vitrine wieder zu und setzte sich. 

»Wir haben eine Galgenfrist«, sagte er. »Sechs Wochen.«

»Abzüglich dreier Tage«, berichtigte ich ihn. 

»Abzüglich dreier Tage«, bestätigte er. Sein Blick ging über mich hinweg, zum Fenster hinaus, hinüber zum weißen Schaumkranz der Brandung jenseits der Pisten und Rampen, von dem Metropolis, diese unvergleichliche Stadt mitten im Atlantischen Ozean, im geographischen Dreieck zwischen den Kontinenten Europa, Nordamerika und Afrika, wie von einer schimmernden Perlenkette umschlossen war. Darüber stand zitternd eine von den Sternen heimkehrende Najade und wartete auf einen frei werdenden Landeplatz. 

Harris bemerkte: »Wenn es nach Dr. West ginge, müßten wir sie jetzt mit Benzin übergießen und anzünden. Wir müßten den menschlichen Geist kastrieren und uns zurück entwickeln zu primitiven Ackerbauern. Es gäbe keine Forschung mehr und kein Ventil für die Übervölkerung der Erde. Wir wären am Ende. Ich frage mich, ob wir ein solches Schicksal tatsächlich verdient haben.«

Ich sagte: »Er hat sich da in etwas verrannt –«

»Er hat die Macht, es zu verlangen«, sagte Harris. »Er ist krank. Er muß gefunden werden – er und diese Bakterienkultur.«

Auf Harris' Stirn schimmerte ein feuchter Film. Er hatte Angst. Nie zuvor hatte ich ihn in einem solchen Zustand erlebt.

Harris stand auf und drückte auf einen Knopf – und von irgendeinem VEGA-eigenen Satelliten kam Antwort. Auf der gläsernen Wand hinter dem Schreibtisch wurde der Weltraum lebendig, erwachten fremde, ferne Gestirne zu geheimnisvollem Leben. Ich erkannte den Andromedanebel.

»Das«, sagte Harris, »ist es, woran ich glaube – an ein Universum ohne Grenzen, an einen ewigen Wechsel von Werden und Vergehen. Wir sind ein Teil davon. Warum soll das Sünde sein?«

Das Bild erlosch.

»Ich werde nicht kapitulieren«, sagte Harris. »Helfen Sie mir.«

»Wie?« fragte ich.

»Erzählen Sie mir von Dr. West. Ich bin sicher, daß wir dabei früher oder später auf eine Spur stoßen werden. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier.«

»Und dann?«

»Wir haben unseren eigenen Sicherheitsdienst. Er wird die Sache in die Hand nehmen – lautlos und unauffällig.«

Ich widersprach – lauter und heftiger, als es die Situation bedingte.

»Ich weiß, wie der Sicherheitsdienst solche Sachen zu handhaben pflegt – lautlos, unauffällig und tödlich.«

Harris wirkte auf einmal bestürzt. 

»Sie haben kein Vertrauen zu mir?«

»So ist es: Ich habe kein Vertrauen zu Ihnen. Wenn Ihre Leute Nat aufstöbern, bringen sie ihn um – getreu dem uralten Motto, daß der Zweck die Mittel heiligt. Im übrigen bliebe ihnen, falls Nat wirklich krank ist, kaum etwas anderes übrig. Womit sollten sie ihn ködern? Mit ihrer polizeilichen Überredungskunst? Sie hätten keinerlei Einfluß auf ihn, er würde sie nicht an sich heranlassen  … Sie sehen, Sir, ich habe nachgedacht. Ich habe mich allen Ernstes in seine Haut versetzt. Ein Mann wie er, der von seiner Mission durchdrungen ist, läßt sich nicht einfach verhaften. Ein solcher Mann kämpft. Er kämpft bis zuletzt.«

Harris neigte den Kopf und holte tief Luft. 

»Dann gnade uns Gott.«

Durch die Wände lief ein leichtes Vibrieren. Draußen schwebte die Najade zur Landung ein. 

»Nein«, sagte ich, »ich werde Ihnen, Ihrem Sicherheitsdienst, der VEGA und diesem selbstgefälligen bürokratischen Apparat, der über allem schwebt, niemanden mehr ans Messer liefern – und am wenigsten meinen eigenen Halbbruder. Er mag verrückt sein, wie Sie sagen, er mag sich durch die Krankheit verändert haben und in der Tat zu einer Gefahr für die Menschheit geworden sein – aber er soll seine Chance haben.«

Harris blickte langsam auf.

»Die einzige Chance, die ihm bleibt, ist die, uns zuvorzukommen und die biologische, lautlose Bombe zu zünden.«

»Oder auch mit mir zu reden«, antwortete ich. »Er bewundert mich, er verehrt mich. Vielleicht ist ein Funken von all dem in ihm noch lebendig. Auf mich hat er noch immer gehört.«

Harris musterte mich von Kopf bis Fuß mit einem Blick von überraschender Kälte. 

»Es könnte eine lange Jagd werden, Brandis, und Sie sind – lassen Sie's mich unumwunden aussprechen – in einer miserablen Verfassung.«

Ich stand auf.

»Schön. Lassen wir's dabei, Sir. Ich gehe heim zu meinen Flaschen. Und diesmal, das schwöre ich Ihnen, wird mich kein lausiger Militärpolizist mehr aufstöbern.«

Harris hob seine Hand. 

»Warten Sie!«

Ich rührte mich nicht. 

»Sie könnten ihn finden?«

»Ich könnte ihn finden.«

Harris bedachte mich mit einem verkniffenen Lächeln.

»Dann finden Sie ihn! Der Auftrag liegt von diesem Augenblick an in Ihrer Hand. Finden Sie ihn, und bringen Sie ihn zur Vernunft oder was immer Sie wollen. Vor allem aber – vernichten Sie den Goodman-Bazillus!«

Harris' Stimme klang auf einmal müde. 

»Sie werden Geld und Transportmittel benötigen. Verfügen Sie, ohne Rücksicht auf Unkosten und Verluste, über das gesamte Potential der VEGA. Die Vollmacht wird Ihnen zugestellt.«

Es war keine Aufgabe, um die ich mich riß. Daß ich sie annahm, war eine Frage des Gewissens, aber eher noch eine Frage, wieviel ein Mensch in seinem Leben opfern kann. 

Mein Opfer hieß Ruth O'Hara. Und seitdem gab es auf der ganzen verdammten Welt nur noch einen Menschen, der mir, dem ich vielleicht etwas bedeutete: Nat – Dr. Jonathan West.

Mehr noch als Harris hatte ich einen Anspruch darauf, müde zu sein. Hinter mir lag die Hölle – die der Verzweiflung und der sinnlosen Raserei und die der Trunksucht. Für mein Gefühl war ich schon viel zu lange auf den Beinen.

»In einem Punkt, Sir«, sagte ich, »haben Sie recht. Meine körperliche Verfassung ist wirklich miserabel. Ich werde einen Kutscher benötigen, der mich von einem Ort zum anderen befördert, ohne viele lästige Fragen zu stellen.«

Harris' Augen zeigten keinerlei Erstaunen. 

»An wen haben Sie gedacht?«

»Es müßte jemand sein«, sagte ich, »der es bereits gewohnt ist, mit mir zusammenzuarbeiten. Ich glaube, daß Captain Romen der richtige Mann dafür wäre.«

Harris nickte, drückte auf eine Taste, und durch eine plötzlich lautlos auffahrende Tür betrat in der Gestalt eines sehnigen, braunhäutigen Zigeuners und meines ehemaligen langjährigen Piloten an Bord der Medusa meine Vergangenheit den Raum. Grischa Romen grüßte knapp und korrekt zu Harris hinüber, kam dann rasch auf mich zu und reichte mir die Hand.

»Freut mich, daß Sie wieder dabei sind, Commander. Wir haben Sie verdammt vermißt.«

Die VEGA hatte mich wieder. Romens Freude war echt und ungeheuchelt. Seine Herzlichkeit galt ebenso dem aufrichtig verehrten Commander als auch dem guten, alten Freund. Er hatte nicht teil an Harris' Komplott, dem ich soeben zum Opfer gefallen war. Der einarmige Halunke hatte die ganze Zeit über gewußt, daß ich den Auftrag annehmen würde. 

An ihn gewandt, sagte ich: »Nun gut, Sir, Sie hatten es sich in den Kopf gesetzt, mich aus der Gosse zu holen, und Sie haben es tatsächlich geschafft. Aber erwarten Sie um Himmels willen keine Dankbarkeit von mir.«

Harris verzog keine Miene. 

»Finden Sie Dr. West!« knarrte er. »Dann sind wir quitt.«