6.

20.4.2079

Major Sven Hansen vom Amt für Raumüberwachung in Moskau blickte irritiert – es fehlte nicht viel daran, daß er die Nase rümpfte. Ich konnte es ihm nicht einmal verübeln. Der Anblick, den Captain Romen und ich boten – zerlumpt, rußgeschwärzt und unrasiert – war der zweier verwahrloster Strolche. Und dementsprechend dufteten wir auch.

»Mark! Da schlag doch einer lang hin!« Hansen hatte mich erkannt und war aufgesprungen. »Aus welchem Zuchthaus bist du ausgebrochen?«

Ich schüttelte die mir dargebotene Hand. Der dänische Stabsoffizier und ich hatten in unserer Jugend die gleiche Schulbank gedrückt. Danach war ich auf die Pilotenschule der VEGA gegangen, während er sich für die militärische Laufbahn entschied. Gelegentlich waren wir immer wieder zusammengetroffen und hatten so dafür gesorgt, daß unsere Freundschaft keinen Rost ansetzte. Ich lachte.

»Sven, wenn du auch noch Captain Romen die Hand gibst, dann hast du die zwei größten Pechvögel des Jahrhunderts begrüßt. Was du vor dir siehst, ist das Ergebnis eines Acht-Tage-Marsches durch Sibirien – auf der Flucht vor dem Feuer.«

Major Hansen wendete sich stirnrunzelnd an Romen.

»Wie soll ich das verstehen? Hat Ihr Commander die sibirische Taiga für einen fremden Stern gehalten?«

Romen verzog keine Miene.

»Das wäre das Schlimmste nicht«, erwiderte er trocken. »Übler war's schon, daß ein paar sibirische Dorfpolizisten uns für die Invasion vom Mars gehalten haben. Sie legten uns Handschellen an und sperrten uns ins nächste Kittchen – und da keiner von diesen Hinterwäldlern Metro sprach und wir nicht Russisch, hätten wir da aller Wahrscheinlichkeit nach Wurzeln schlagen können, wenn da nicht zufällig der Inspektor aufgetaucht wäre.«

»Der euch dann laufenließ?«

»Der uns nach Moskau verfrachtete«, berichtigte ich, »zum Zwecke eines ausführlichen Verhörs. Hier haben wir uns dann selbständig gemacht. Eigentlich wollten wir zum VEGA-Büro, aber dann beschlossen wir doch, erst einmal bei dir hereinzuschauen.«

Hansen schob uns auf die Sitzecke zu. 

»In Ordnung. Hier seid ihr. Was kann ich für euch tun – oder anders gefragt: Was braucht ihr?«

Hansen war ein Mann weniger Worte. Ich konnte mich genauso kurz und bündig fassen. 

»Zunächst einmal ein Bad.«

Hansen nickte. 

»Kein Problem. Weiter?«

»Was zu essen.«

Hansen nickte. 

»Wird besorgt, während ihr badet. Weiter?«

»Neue Kleidung.«

Hansen nickte.

»Bekommt ihr aus der Kammer gegen Quittung. Weiter?«

Ich sah Hansen eine Weile lang stumm an, bevor ich es aussprach: »Und Einblick in das Register über nicht identifizierte Flugobjekte in Erdnähe vom Neunten dieses Monats.«

Major Hansen bekam auf einmal dünne Lippen.

»Du weißt, daß das nicht geht.«

»Es muß gehen, Sven.«

»Es ist ein Verstoß gegen die Dienstvorschriften. Warum, zum Teufel, besorgst du dir die Auskunft nicht auf dem Amtsweg?«

»So wie ich deine Dienststelle kenne, Sven, wird das Tage dauern. Ich brauche die Auskunft jetzt.«

»Warum?«

»Da steht einiges auf dem Spiel.«

Ich reichte Hansen die von Harris unterschriebene Vollmacht. Er studierte sie und gab sie mir zurück. 

»Schön und gut, Mark, aber das gilt nur für die VEGA. Hier befindest du dich in einem Büro der bewaffneten Streitkräfte.«

»Mit voller Absicht«, erwiderte ich. »Sven, ich brauche deine Hilfe, ohne daß du viele Fragen stellst.«

Major Hansen warf mir einen anklagenden Blick zu.

»Verdammte Freundschaft! Vom Neunten dieses Monats?«

»Vom Neunten«, bestätigte ich. 

Major Hansen stampfte bereits auf die Tür zu.

»Das Bad«, sagte er, »befindet sich am Ende des Ganges. Ich hoffe, zumindest dort wirst du ohne meine Hilfe zurechtkommen.«

 

Wir waren geduscht, rasiert, mit frischer Garderobe versehen und hatten gegessen. Nun saßen wir über den Kontrollkarten, mit denen Major Hansen aus dem Computerraum zurückgekehrt war. Die Zahl der nicht identifizierten Flugobjekte in Erdnähe war größer, als ich mir hatte träumen lassen.

Der Mittelwert der erdnahen Bewegungen war angegeben: 26741 pro 24 Stunden. Drei Prozent davon galt als nicht eindeutig identifiziert – und das bedeutete, daß Romen und ich es mit einem Stapel von mehr als 800 Karten zu tun bekamen. 

Hansen fragte: »Habt ihr wenigstens einen Anhaltspunkt?«

»Drei«, antwortete ich. »Eine Tornado. Gestartet in Dal Bor 13 – um 11.44 Uhr.«

»Und was willst du darüber wissen?«

»Mich interessiert, wo sie wieder 'runtergegangen ist.«

Hansen wiegte den Kopf. 

»Wird nicht leicht sein, das festzustellen. Aber immerhin – wir können den Kreis der Verdächtigen damit einengen.«

Er nahm die Karten zur Hand und blätterte sie rasch durch. Den größten Teil legte er wieder fort. Neun Karten blieben übrig.

»Bewegungen zwischen 11.30 und 12.00 Uhr!« sagte er. Er warf die Karten auf den Tisch. Neun Karten – neun Objekte.

Eines davon mußte die Tornado sein – mit Dr. West im Cockpit. Es war die letzte der neun Karten, die meine Aufmerksamkeit erregte. Ein mittelgroßes Objekt war über Sizilien geortet worden: im Sinkflug auf Tunis. Ich schob Romen die Karte zu. 

»Das könnte er sein«, sagte ich. »Er hat schon immer eine Leidenschaft für Tunis gehabt.«

Romen wirkte beunruhigt.

»Mir wäre lieber, Mark, du wärest mit deinem Verdacht im Unrecht. Tunis ist zu einem verdammt heißen Pflaster geworden.«

Ich wandte mich an Major Hansen. 

»Ich brauche noch etwas, Sven.«

Hansen seufzte übertrieben laut. 

»Dachte ich's mir doch. Wenn man Leuten wie dir auch nur den kleinen Finger reicht …«

Hansen scherzte. In Wirklichkeit hätte er alles für mich getan, sofern er das verantworten konnte. 

»Sven, ich benötige den aktuellen Lagebericht, Stichwort Tunis.«

Hansen schlug ein Register auf, überzeugte sich von der Codenummer und wählte diese an. Zwei Minuten später lag der Bericht auf seinem Schreibtisch.

 

Tunis, Hauptstadt der nordafrikanischen Provinz Tunesien. Letzter bekannter Einwohnerstand: 6,3 Mio. Januar 77 im Zusammenhang mit der radioaktiven Verseuchung des afrikanischen Kontinents evakuiert. Neuerdings infolge bis knapp unter den Gefahrenpunkt abgesunkener radioaktiver Werte unter Vorbehalt wieder bewohnbar, aber zur Besiedelung offiziell noch nicht freigegeben.

Lage: Tunis entwickelt sich mehr und mehr zu einem Brennpunkt für illegale Transaktionen zwischen EAAU und VOR. Die gegenwärtige Einwohnerschaft setzt sich zusammen aus Kriminellen und Deserteuren beider Nationen, die dort vor jeglicher Nachstellung und Verfolgung sicher sind. Das Verbrechen regiert.

Mord und Totschlag sind an der Tagesordnung. Niemand kümmert sich darum. Es gibt weder eine Verwaltung noch eine Polizei. 

 

Ich blickte auf.

»Für einen Mann, der ein sicheres Versteck benötigt, ist das der ideale Ort. Ich denke, ein Abstecher nach Tunis würde sich lohnen.«

Hansen stieß mir den Zeigefinger vor die Brust. 

»Mark, ich weiß zwar nicht, worum es geht – doch von Tunis solltet ihr euch fernhalten. Man wird euch die Kehle durchschneiden. Der ganze überlebende Rest des Malembo-Clans soll dort zusammengeströmt sein – und seitdem du ihren großen Häuptling erledigt hast, steht dein Name ganz obenan auf der Abschußliste.«

Hansens Rat war gut gemeint, und Hansen hatte sicherlich recht. Aber er sprach zu einem Manne, auf dessen Gewissen Boris, der Wärter, lastete.