Vom Nutzen des Schweigens

 

Seit 2004 der Nachhaltigkeitsfaktor in die gesetzliche Rente eingeführt wurde, berücksichtigt die Rentenformel das Verhältnis von Zahlern und Empfängern bei der Berechnung der Rentenhöhe. Nicht die um zwei Jahre verlängerte Arbeitszeit, die »Rente mit 67«, sondern diese Maßnahme stellt die eigentliche Rentenkürzung dar, die in einer alternden Gesellschaft in den nächsten Jahrzehnten absehbare schrittweise Reduzierung der gesetzlichen Rente. Und es war vielen Politikern auch sehr schnell klar, dass ein ähnlicher Schritt, nämlich die Einführung eines »Nachhaltigkeitsfaktors« im Sinne einer »wirkungsgleichen Übertragung« der Kürzungen in der gesetzlichen Rentenversicherung auf die Beamtenpensionen unausweichlich sein würde.

Deshalb hatte die rot-grüne Bundesregierung auch im Sommer 2005 den entsprechenden Vorstoß in Angriff genommen. Die beiden Fraktionen hatten sogar einen Entwurf eines »Versorgungsnachhaltigkeitsgesetzes« in den Bundestag eingebracht.[1] Dieser Gesetzentwurf sah eine 1:1-Übertragung des Nachhaltigkeitsfaktors aus der gesetzlichen Rentenversicherung auf die Beamtenversorgung vor. Nach der Bundestagswahl wurde das Gesetzgebungsverfahren nicht weiterverfolgt, obwohl der damalige Regierungssprecher Ulrich Wilhelm der neuen Regierung unter Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) noch im November 2006 mitteilte, das Vorhaben würde nun angegangen. »Das wird so schnell wie möglich umgesetzt«, sagte er. Der damalige Sprecher des Bundesinnenministeriums, Stefan Kaller, versicherte ebenfalls, die Änderung würde technisch sauber auch für Beamte umgesetzt. Entsprechende Vorarbeiten gebe es bereits; die Umsetzung beginne, wenn das Gesetz da sei. Das alles werde kein Jahr dauern.

Geschehen ist bis heute nichts. Im Wahljahr 2005 hatte der Bundesrat den Gesetzesantrag kurzerhand abgeschmettert ebenso wie den Versuch, die Anrechnung von Studienzeiten analog zur Rentenversicherung zu streichen. Selbst in der durch Finanz-, Weltwirtschafts- und Staatsschuldenkrise herbeigeführten aktuellen Haushaltsnotlage wagt kein Politiker, auch für die Beamtenversorgung zu übernehmen, was längst für die gesetzliche Rentenversicherung gilt. Dabei hatte Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) sogar zeitweilig die Absenkung der Maximalpensionen bis auf 66,78 Prozent erwogen – ein Höchstsatz, der aber immer noch weit über dem Satz der gesetzlichen Rente gelegen hätte.

Ein solcher Schritt hätte die dringend erforderliche Entlastung für die Länderhaushalte gebracht. Würde man bis zum Jahr 2020 rund zehn Prozent der Pensionsausgaben einsparen, dann würden den Ländern insgesamt rund 28 Milliarden Euro zum Schuldenabbau zur Verfügung stehen. Damit wäre ein Anfang gemacht. Und dabei geht es noch nicht einmal um eine grundlegende Beamtenrechtsreform oder um revolutionäre Veränderungen in der Alterssicherung, sondern nur um die Übernahme längst geltenden Rechts in der gesetzlichen Rentenversicherung für die Beamtenversorgung. Es wäre zweifellos ein schmerzhafter Einschnitt, eine spürbare Verschlechterung für die Beamten, wenn sie nicht mehr knapp 72 Prozent ihrer letzten Bezüge als Pension bekommen, sondern nur mehr rund 66 Prozent, aber erheblich gerechter als die jetzige Situation.

Warum passiert dies nicht? Ist die »unwiderstehliche« Einflussnahme der mächtigen Beamtenlobby der Grund? Wo derart Unerklärbares erklärt werden soll, sprießen sehr schnell Verschwörungstheorien, die bei Fragen der Altersversorgung unserer Staatsdiener zumeist bei dieser »Beamtenlobby« und ihrem angeblichen Einfluss auf alle sie betreffenden Beschlüsse der Politik landen. Doch gibt es »die Beamtenlobby« überhaupt? Und welchen Einfluss hat sie heute noch auf Entscheidungen unserer Politiker? Wer genauer hinsieht, erhält dabei ein eher diffuses Bild.

Eine solche »unwiderstehliche« Einflussnahme einer »Beamtenlobby« hätte sich ja auch bei den jüngsten Beschlüssen der Politik in Sachen Altersversorgung auswirken müssen. Das gilt sowohl für den Stopp der Zahlungen für Rücklagen in die jeweiligen Landes-Pensionsfonds als auch etwa für das Vorgehen der niedersächsischen Landesregierung, die den Pensionsfonds, der sich ja auch aus zurückgehaltenen Beiträgen von Beamten speiste, kurzerhand in den allgemeinen Haushalt zur Schuldentilgung übernommen hat. Bei beiden Entscheidungen, so darf man vermuten, spielten die aktuellen Haushaltssorgen für die Politik eine sehr viel größere Rolle als etwaige Proteste oder versuchte Einflussnahme der Beamtenvertreter. Gleiches gilt auch für die (Wieder-)Einführung der 42-Stunden-Woche in einigen Ländern, für Kürzungen von Weihnachts- und Urlaubsgeld, Sonderzahlungen und Leistungszulagen. Hier hat sich die Politik ebenfalls über allen Widerstand der Beamten hinweggesetzt. Die Hoffnungen des DBB, dass der Bund nach der Föderalismusreform zügig mit einer umfassenden Dienstrechtsreform für Bundesbeamte eine so überzeugende Vorlage liefern würde, dass sich die Länder freiwillig anschließen würden, haben sich auch nicht erfüllt. Ist der Deutsche Beamtenbund also zu einem zahnlosen Tiger mutiert?

Ganz im Gegenteil. Das Beispiel des Nachhaltigkeitsfaktors zeigt einmal mehr, dass die Schlachtfelder der Zukunft für den Beamtenbund in der öffentlichen Wahrnehmung nicht so sehr im gewerkschaftlichen Tarif-Klein-Klein von Einmalzahlungen und gelegentlichen Gehaltserhöhungen liegen. Wenn es um soziale Gerechtigkeit geht und darum, dass Beamte sich an ihr beteiligen müssen, schweigt der Beamtenbund beharrlich oder verfällt in typisch gewerkschaftliche Reflexe. Dazu gehören zum einen die strikte Ablehnung der »Rente mit 67« und damit natürlich auch der »Pension mit 67« und zum anderen die Ablehnung der staatlichen Schuldenbremse. Dass alle westlichen Industriestaaten mittlerweile ihre Alterssicherungssysteme aufgrund ähnlicher demografischer Entwicklungen genau in diese Richtung weiterentwickeln und die Staatsschuldenkrise in Europa die deutsche »Schuldenbremse« geradezu vorbildlich erscheinen lässt, ficht den Beamtenbund nicht an. »Die Schuldenbremse bremst keine Schulden, sondern die Zukunft«, meinte etwa der baden-württembergische DBB-Chef Nikolaus Landgraf auf einer DGB-Veranstaltung zum Thema »Quo vadis Beamte?« im März 2011. Die Bremse habe wenig mit Generationengerechtigkeit zu tun. Unsere Kinder und Enkel würden eine dramatisch verschlechterte Infrastruktur erben. Der Staat müsse sich vielmehr durch eine sozial gerechte Steuerpolitik auch die nötigen Einnahmen sichern. Mit der Schuldenbremse dagegen beschneide die Politik sich selbst die Spielräume für die nötigen Zukunftsinvestitionen.[2]

Das mag man so sehen, auch wenn uns die Finanzmarktkrise und die drohende Staatspleite Amerikas und verschiedener anderer Staaten in Europa im Sommer 2011 gerade erst vor Augen geführt haben, dass mit Einnahmenverbesserungen alleine auf Dauer die Sünden der Vergangenheit ganz und gar nicht zu beheben sind. Eine nachhaltige Finanzpolitik darf sich nicht um eine ehrliche Lösung der Staatsschuldenproblematik herumdrücken. Genau dort – in den Sünden der Vergangenheit, begangen durch die Politik – sieht der Beamtenbund vorrangig die Probleme von heute und morgen begründet und nicht so sehr in den sich veränderten Realitäten der Welt des 21. Jahrhunderts. »Auf den Staat kommen in der nächsten Zeit wachsende Pensionsausgaben zu. Das hat vor allem mit der Einstellung von Beamten in den siebziger Jahren, der Überalterung des Öffentlichen Dienstes und der mangelnden Vorsorge durch die Politiker zu tun. Über diese Themen müssen wir diskutieren, nicht über astronomische Zahlenkolonnen und falsche Behauptungen. Es ist höchste Zeit für Sachlichkeit«, sagt deshalb der DBB-Chef im Geleitwort zur eigens von der Beamtenvertretung in Auftrag gegebenen Studie mit dem Titel ›Die 7 Irrtümer zur Beamtenversorgung. Fakten statt Vorurteile‹. Mit dieser Studie versuchte der DBB im Jahr 2010 verschiedene Gutachten und Studien externer wissenschaftlicher Institute und die mediale Berichterstattung über sie zu konterkarieren.[3] Doch selbst dort, wo man dies nicht unbedingt vermuten würde, stoßen die Argumente des DBB mittlerweile auf tiefe Skepsis. Im März 2011 veröffentlichte die nicht gerade im Verdacht übergroßer Gewerkschaftsferne stehende Wochenzeitung ›Der Freitag‹ von Jakob Augstein ein Dossier über Beamte in Deutschland mit dem Titel »Teure Diener«. Die dazugehörige Karikatur trug die Unterzeile: »Mit den deutschen Beamten lässt sich kein Staat mehr machen.«[4]

Das ist überzogen und dem erhofften Sensationswert geschuldet. Aber die verschiedenen Autoren kommen zu Erkenntnissen, die man an anderer Stelle schon sehr viel früher lesen konnte. Vor allem attackierten sie das vom DBB sorgsam gepflegte Bild von der sozialen Lage der sogenannten »kleinen Beamten«, der immer dann zur Sprache kommt, wenn es gilt, Privilegien von Beamten in der Altersversorgung zu beschneiden. Ein »Wachtmeister«, der schon heute kaum mehr in der Lage sei, besonders in teuren Städten wie beispielsweise München eine Familie zu ernähren, könne nicht noch weitere Einkommenseinbußen, auch im Alter, hinnehmen. Das kann im Einzelfall sogar stimmen, obwohl Baden-Württemberg gerade erst in seiner Dienstrechtsreform die Eingangsbesoldung für junge Polizisten – A7 – nahezu vollständig gestrichen hat. Denn das Bild des »kleinen Beamten« entspricht schon seit langem nicht mehr der beruflichen Lebenswirklichkeit im heutigen Öffentlichen Dienst. Die sieht mittlerweile nämlich gänzlich anders aus. Der sogenannte »Stellenkegel« im Öffentlichen Dienst hat seinen klar erkennbaren Schwerpunkt in den oberen Personalsegmenten. Der einfache – und schlecht bezahlte – Dienst ist im Laufe der Jahre immer unbedeutender geworden. 1960 waren mehr als sieben Prozent der Beamten dort tätig. Heute sind es nach Angaben des DBB nur noch knapp drei Prozent. In Zahlen ausgedrückt sind dies nur mehr 46 930 Beamte, darunter gut 26 000 Beamte der Gehaltsgruppe A4 und gut 3000 Beamte der Besoldungsgruppe A3. In der untersten Besoldungsgruppe A2 gibt es in Deutschland nicht mehr als 38 Planstellen (Bruttomonatsgehalt: 1688 bis 1924 Euro). Die Menschen, die sie innehaben, würden sich sicherlich freuen, wenn ihre Bezüge einmal stärker stiegen als die des gehobenen Dienstes. Jeder vierte Beamte gehört dem mittleren Dienst (Besoldungsgruppen A5 bis A8) an. Das sind 464 000 Beschäftigte. Darunter fallen Abteilungspfleger, Hauptfeldwebel, Krankenschwestern, Lokomotivführer und Postboten. Im oftmals zitierten Polizeidienst gibt es nur mehr knapp 8000 Planstellen bundesweit, die unter die unterste Besoldungsgruppe A5 fallen (Bruttomonatsgehalt: 1808 bis 2363 Euro). Fast jeder zweite Beamte ist im gehobenen Dienst tätig (862 000 Beamte, Besoldungsgruppen A9 bis A12, Bruttomonatslohn 2232 bis 4007 Euro), darunter besonders viele Lehrer und Polizeibeamte. Jeder fünfte Beamte (393 800) gehört dem höheren Dienst (Besoldungsgruppen A13 bis B11 und Richterbesoldung, Bruttomonatsgehalt: 3457 bis 11 484 Euro) an, darunter ebenfalls besonders viele Lehrer an weiterführenden Schulen, Pfarrer, Richter und Professoren. Die Welt des »einfachen Beamten« – beispielsweise des »Justizwachtmeisters« – ist mehr oder weniger verschwunden, wenn man die nackten Zahlen betrachtet. Es gibt sie nur noch als Titel einer Facebook-Seite der »Deutschen Justiz-Gewerkschaft im DBB«.

Auch die Tatsache, dass in der gesetzlichen Rentenversicherung ein wissenschaftliches Hochschulstudium mittlerweile keinerlei Berücksichtigung mehr bei den Rentenanwartschaften spielt, in der Beamtenversorgung jedoch weiterhin mit 855 Tagen anerkannt wird, ist eines der vielen kleinen Geheimnisse. Begründet wird diese Ungleichbehandlung damit, dass sonst die Pensionskürzungen zu hoch ausfielen. Während ein Rentner höchstens rund 59 Euro Rente einbüße, könnte ein Beamter bei vollem Verlust der drei Hochschuljahre bis zu 452 Euro verlieren. Diese Rechnung ist makaber und eine Ohrfeige für alle zukünftigen Rentner, die studiert haben.

Wenn die offensichtliche Auseinanderentwicklung von Beamtenpensionen und Renten in die Debatte über die Sicherung unserer Altersversorgung miteinbezogen wird, wird dies eine Gewerkschaft wie ver.di vor eine gewaltige Zerreißprobe stellen. Doch es ist nur eine Frage der Zeit. Noch kann sich der Beamtenbund neben den Deutschen Gewerkschaftsbund DGB stellen, die »Rente mit 67« in Bausch und Bogen verurteilen und für grundfalsch erklären. Aber es wird zunehmend schwieriger werden zu erklären, warum die einen um die Höhe ihrer künftigen Rente zittern müssen, während die anderen weiterhin zäh um ihre Besitzstände kämpfen. Mag die völlige Angleichung von Renten und Pensionen dabei am Ende auch an der verfassungsrechtlichen Besonderheit der Beamtenversorgung scheitern, so wird die Wahrung des vergleichsweise hohen Versorgungsniveaus für die derzeitigen Ruhestandsbeamten aber mit Sicherheit nicht durchzuhalten sein: Hartz IV für Rentner und Mindestpension für Beamte – eine Mindestrente gibt es bezeichnenderweise ja nicht – passen auf Dauer eben nicht zusammen. Die Rentendebatte werden deshalb auch die Beamten nicht ungeschoren überstehen.[5]

Diese Fakten treffen den Deutschen Beamtenbund an einer empfindlichen Stelle. Denn der DBB ist keine Mitgliederorganisation, sondern die Dachvereinigung von vierzig Fachgewerkschaften aus dem Öffentlichen Dienst und privatisierten Unternehmen, die zuvor in öffentlicher Hand waren. Die »Tarifunion« spielt im DBB eine Sonderrolle als Ableger des Beamtenbundes für Beschäftigte des Öffentlichen Dienstes ohne Beamtenstatus. Sie organisiert Angestellte und Arbeiter der staatlichen Verwaltungen oder auch privatisierter Bereiche und fasst damit die tariflichen Interessen von Mitgliedern der unterschiedlichsten, zum Teil recht kleinen und spezialisierten Berufsverbände zusammen. Darunter findet sich der »Bundesverband Bayerischer Hygieneinspektoren« (BBH) genauso wie »Die Kommunalgewerkschaft« (Komba), mit denen ver.di in der Vergangenheit auf betrieblicher und regionaler Ebene oft und heftig im Clinch lag. Die Erfahrung zahlreicher bei ver.di engagierter Betriebs- und Personalräte mit solchen konkurrierenden Organisationen sind häufig negativ: Zu große Nähe zu den Arbeitgebern ist noch der mildeste Vorwurf. Dem DBB und ver.di zur Seite stehen die GEW, die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft und die Polizeigewerkschaft.

Jahrzehntelang gab es Konkurrenz, ja sogar erbitterte Feindschaft, aber heute bieten ver.di-Chef Frank Bsirske und DBB-Chef Peter Heesen nach außen gerne ein Bild der Harmonie. Das muss keineswegs von Dauer sein, denn es ist ein ungleiches Paar, das da seit einigen Jahren den Zusammenschluss übt. Hier der joviale DBB-Chef Peter Heesen, 1947 im mehrheitlich katholischen Krefeld geboren, mehrere Jahre lang Chef des eher konservativen Deutschen Philologenverbandes, der über Jahre hinweg bis zur Ernennung von Christian Wulff von der CDU in die Bundesversammlung für die Wahl des Bundespräsidenten nominiert wurde. Sein Beamtenbund ist nicht nur personell mit seinen zahlreichen Unterorganisationen und Fachverbänden mächtig, sondern auch finanziell äußerst potent. Wo andere Gewerkschaften eine Streikkasse für die Tarifauseinandersetzungen vorrätig halten müssen, leistet sich der DBB für seine Beamten, die nicht streiken dürfen, als Organisation eine mehr als repräsentative Vertretung in bester Berliner Lage und richtet seit fünfzig Jahren teure Tagungen aus – lange Zeit traditionell und vielleicht nicht ganz ohne Grund im beliebten Rentner- und Pensionärskurort Bad Kissingen. Seit einiger Zeit am Rhein – in Köln, unweit des Doms.

Auf der anderen Seite steht für ver.di der quirlige Frank Bsirske, 1952 in Helmstedt geboren, Mitglied bei den Grünen, Politikwissenschaftler und langjähriger ÖTV-Funktionär und Vorsitzender, der zum ersten Vorsitzenden von ver.di aufstieg. Der Grund für den Schulterschluss zwischen ver.di und DBB im Jahr 2007 ist wohl eine einfache Rechnung: ver.di organisiert eine Minderheit bei den Beamten und eine große Mehrheit bei den Angestellten und Arbeitern, der eher konservative DBB zusammen mit der »Tarifunion« schart umgekehrt eine Mehrheit der Beamten und eine Minderheit der Angestellten im Öffentlichen Dienst hinter sich. Gemeinsam sind sie stark. Doch diese Rechnung muss nicht immer und ewig gelten. Vor allem dann nicht, wenn allzu offensichtlich wird, dass sich die Interessen innerhalb des Arbeitnehmerlagers zu weit auseinanderentwickeln. Derzeit gilt, dass die Aktionen in den Städten, die Streiks in Betrieben, Kindergärten und in Krankenhäusern vom professionelleren ver.di-Apparat organisiert werden und der DBB sich zurückhält. Eine Entwicklung wie bei der vormals ebenfalls außerhalb des DGB arbeitenden Deutschen Angestellten Gewerkschaft DAG, also ein über Jahre vorbereitetes Hinführen auf den Zusammenschluss zur Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, ist eher unwahrscheinlich.[6]

Es gibt auch interne Probleme im Lager der Gewerkschaften. Nachdem sich im Jahr 2005 der »Marburger Bund« als Verband der angestellten und beamteten Ärzte nicht mehr von ver.di vertreten fühlte und sich abspaltete, vollzog die Eisenbahnergewerkschaft GDBA einen ähnlichen Schritt, als sie mit der DGB-Gewerkschaft Transnet zur »Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft« (EVG) fusionierte und nun als schlagkräftige Spartengewerkschaft außerhalb des DBB operiert. Damit war im Jahr 2010 erstmals seit langem die Zahl der Mitglieder im Beamtenbund gesunken. Heute bringt es die Beamtenorganisation auf nur mehr 1,26 Millionen Mitglieder, das sind rund 200 000 weniger als noch im Jahr 2009. Im Angestelltenbereich sank die Mitgliederzahl um 1,7 Prozent auf 355 000 Mitglieder.

Und die nächste Spartengewerkschaft wirbt gerade unter Beamten verstärkt um Sympathien: Die DFEUG, die Gewerkschaft der Betriebsfeuerwehren von großen Chemieunternehmen und vor allem von Flughäfen. Wenn sie streiken, geht auf deutschen Flughäfen zum Beispiel nichts mehr, ähnlich wie bei den Lokomotivführern oder Piloten und (einstmals verbeamteten) Fluglotsen. Bisher ist die neu gegründete Feuerwehrgewerkschaft zwar noch meilenweit von der Schlagkraft einer Lokführer- oder Pilotengewerkschaft entfernt. Die DFEUG hat bisher nur knapp 800 Mitglieder, im Feuerwehr-Fachverband bei ver.di sind hingegen rund 7000 Feuerwehrleute organisiert, weitere 3000 bei der Beamtengewerkschaft Komba. Aber DFEUG-Chef Schäfer hat sich zum Ziel gesetzt, in spätestens einem Jahr mit der Komba gleichauf zu liegen. Ein Problem bleibt auch dann für die junge Gewerkschaft bestehen: Der Großteil der rund 100 000 Feuerwehrleute in Deutschland sind Beamte der Berufsfeuerwehren. Sie dürfen also gar nicht streiken. Doch DFEUG-Chef Schäfer erwartet, dass die Beamten den Betriebsfeuerwehren die Streikkassen füllen werden. Das aber wird nur auf Kosten des DBB gehen können.[7]

Eine interessante Nebenfolge seit der Föderalismusreform I ist auch die fortschreitende Emanzipation der Landesverbände innerhalb des Deutschen Beamtenbunds gegenüber dem DBB. Die Reföderalisierung des Dienstrechts in Deutschland geht auf diese Weise mit einer Marginalisierung des Dachverbandes einher. Die verbandsbezogene Interessenvertretung der Beamten fraktioniert sich zunehmend nach Länderinteressen. Aber noch hält das solidarische Band zwischen DBB und DGB. Und so gilt auch weiterhin, was in einem »ver.di-Positionspapier« vom 17. Oktober 2007 zum »Gesetz zur Neuordnung und Modernisierung des Bundesdienstrechts – Dienstrechtsneuordnungsgesetz DNeuG« steht. Dort wird ausdrücklich begrüßt, dass der Nachhaltigkeitsfaktor in der Altersversorgung nicht auf die Beamten übertragen werde.[8] Wie dies ver.di angesichts drohender Altersarmut auf Dauer seinen Mitgliedern außerhalb des Öffentlichen Dienstes noch verständlich machen will, bleibt ein Geheimnis, zumal der gemeinsame Protest des Bundes der Steuerzahler, der Rechnungshöfe und der kommunalen Spitzenverbände, der nicht länger vor den »hergebrachten Grundsätzen« des Berufsbeamtentums kapitulieren will, es mittlerweile bis zur Bundestagsdrucksache von Rot-Grün geschafft hat.

»Seit Beginn der neunziger Jahre seien alle Reformen der gesetzlichen Rente ›wirkungsgleich‹ auf die Altersbezüge des Öffentlichen Dienstes übertragen worden«, erklärte der Sprecher des Bundesinnenministeriums. Dies gelte auch für die »Rente mit 67«.[9] Wir haben gesehen, dass dies derzeit keineswegs pauschal zutrifft. Und man darf auch vermuten, dass diese Position nicht so sehr einer großen inhaltlichen Nähe zu den Positionen des Beamtenbunds geschuldet ist, sondern vielmehr dem Versuch, eine Wählerklientel nicht unnötig gegen sich aufzubringen. Die Aussichten auf zukünftige politische Unterstützung sehen deshalb auch nicht gerade rosig aus, vor allem auch, weil die schwarz-gelbe Bundesregierung unter Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bis jetzt alle Rufe aus ihrer eigenen Partei nach Einsparungen auch bei Beamtenpensionen abgeblockt hat. Im Gegenteil: Im Dezember 2011 hat die schwarz-gelbe Regierungskoalition die Erhöhung der Pensionen für politische Spitzenbeamte um mehr als 600 Euro beschlossen. Die Erhöhung betrifft unter anderem Staatssekretäre und Ministerialdirektoren. Damit profitieren vor allem Mitarbeiter, die bei einem möglichen Regierungswechsel ausgetauscht werden würden. Wenn sie in den einstweiligen Ruhestand versetzt werden, sollen ihre Pensionen um bis zu 635 Euro steigen.

Wenn die Politik wie in Niedersachsen einen Vorsorgefonds für Beamtenpensionen verfrühstückt oder wie in Bayern eine Landesregierung kurzerhand die Zahlungen für die Rücklagen von Beamten einstellt, hält sich der Protest der Beamtenorganisationen in Grenzen. Die Pensionen müssen sowieso aus dem Steueraufkommen späterer Generationen bezahlt werden, und dem DBB geht es um viel mehr. DBB-Chef Peter Heesen weicht deshalb gerne auf staats- und wirtschaftspolitische Felder aus, die nicht direkt etwas mit der Alterssicherung von Beamten zu tun haben. Auf der Jahrestagung im Januar 2011 in Köln, die immerhin unter dem Thema »Die Zukunft der Staatsfinanzen« stand, spielte die Alterssicherung als solche deshalb auch so gut wie keine Rolle. Damit der Staat auch weiterhin die Pensionen seiner Beamten bezahlen kann, versuchte der DBB-Chef in seiner gut einstündigen Rede Vorschläge zur Reduzierung der Staatsschulden zu machen. Dazu sollten, so Peter Heesen, die Staatsschulden in einen Altschuldenfonds ausgegliedert werden. Für Zinsen und Tilgung könnten das Goldvermögen oder die Gewinne der Bundesbank genutzt werden.

»Die Frage ist, wo können wir stille Reserven heben, die wir beim Staat haben, um die Altschulden zu tilgen«, rief er den Delegierten im Konrad-Adenauer-Saal der Kölner Messe zu. Denkbar sei, den Solidaritätszuschlag als Zahlung in den Altschuldenfonds umzuwidmen oder eine Vermögensabgabe auf Privat- und Betriebsvermögen einzuführen. Außerdem forderte Heesen eine Finanztransaktionssteuer, »nicht zuletzt deshalb, um auch der Branche, die viel Schaden angerichtet hat, die Möglichkeit zu geben, sich an der Schadensbegleichung zu beteiligen«.[10] Über all das kann man trefflich streiten. An das Gold der Bundesbank wollten schon viele Politiker und auch Gewerkschaftler heran. Zum Glück ist es ihnen bis heute nicht gelungen. Auch eine Finanztransaktionssteuer mag in diesen Zeiten mehr als sinnvoll sein. Im nationalen Alleingang wird es sie allerdings nie und nimmer geben. Und international und in der Eurozone sind die Widerstände immer noch groß. Das alles wissen Peter Heesen und die Mitglieder im Beamtenbund natürlich nur zu gut. Und deshalb stand auch die Jahrestagung des DBB im Januar 2012 nicht etwa im Zeichen von Sparmaßnahmen, wie wir sie gerne von anderen Ländern verlangen. Im Gegenteil: Im DBB warnt man, genauso wie bei ver.di, die in die Tarifverhandlungen 2012 mit einer Forderung von 6,5 Prozent gegangen sind, vehement davor und schreckt auch vor Horrorszenarien und kräftigen Tönen nicht zurück: »Wir sind dabei, uns bis zur Handlungsunfähigkeit durchzusparen, nur weil wir meinen, wir brauchen einen schlanken Staat. Auch Menschen, die an Bulimie leiden, sind schlank. Aber die sind schlank und krank. Wollen wir wirklich eine Staatsbulimie?«, fragt etwa DBB-Chef Peter Heesen und ergänzt: »Wir werden die Probleme des demografischen Wandels nicht lösen mit dem Programm des billigen Jakob. Das wäre Kirmesniveau: unterhaltsam, aber wertlos.« Zur Finanzierung müssten deshalb »die mit den starken Schultern in besonderer Weise beitragen«. Im Klartext: mehr Steuern, um auch künftig den Öffentlichen Dienst wie bisher zu bezahlen.

Das alles soll aber nur von den wirklich wichtigen zukunftsweisenden Fragen ablenken. Und die lauten: Wie viele Beamte braucht ein Staat mit sinkender Bevölkerung in der Zukunft überhaupt noch? Wo sollen sie eingesetzt werden und wie teuer dürfen sie uns kommen? Es soll davon abgelenkt werden, dass, wie Bernd Raffelhüschen errechnet hat, Beamte in den vergangenen Jahren allenfalls ein Viertel jener Reformlasten tragen mussten, die den Rentnern aufgebürdet wurden. Mit verteilungspolitischer Gerechtigkeit hat dies alles wenig zu tun. Über eine gerechte Lastenverteilung in unserer Gesellschaft auch unter Einbeziehung der Beamten wird mittlerweile dort am heftigsten debattiert, wo man dies vielleicht am wenigsten vermuten würde. Im attac-Forum des Internets lautet die entsprechende Überschrift zum Thema »Unsere Beamten sind einfach unbezahlbar«. ver.di ist übrigens Mitglied in dem globalisierungskritischen Netzwerk. Eine solche Diskussion will der Beamtenbund jedoch um jeden Preis vermeiden. Seinen wichtigsten Verbündeten allerdings hat er dabei in der Politik. Noch.

Die Pensionslüge: Warum der Staat seine Zusagen für Beamte nicht einhalten kann und warum uns das alle angeht
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