Goldhochzeit

Tante Grete und Onkel Kurt haben bald Goldene Hochzeit. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Fünfzig Jahre Ehe. Da hast du keine Chance mehr auf was Neues, wenn es gar nicht mehr läuft. Fünfzig Jahre immer mit demselben. Jedenfalls offiziell. Frauen wie Tante Grete mussten durchhalten, denn so wie heute konnten sie sich über eine Ehe nicht sanieren. Das klingt bösartig, aber mal angenommen, meine Mutter hätte sich scheiden lassen wollen. Dann hätte bei uns auf dem Dorf niemand mehr mit ihr geredet. Mit einer Geschiedenen sprach nämlich keiner. Damals gab’s noch das Schuldprinzip. Das bedeutete zum Beispiel: Wenn der Mann fremdgegangen war, dann hatte er getan, was ein Mann tun musste. Und dann hatte die Frau ihre ehelichen Pflichten nicht erfüllt und wurde schuldig geschieden. Wer schuldig geschieden war, bekam die Kinder nicht zugesprochen. Oder nur Alimente für die Kinder und nichts für sich. Das ist heute anders. Man kriegt so eine Art Jahresprämie. Pro Jahr Ehe soundsoviel Unterhalt. Wenn man also lange durchhält, kann sich das richtig lohnen. Die Kinder bleiben auch heute noch fast immer bei den Frauen, die Frauen kriegen Unterhalt für sich und die Kinder und Wohngeld dazu, und wenn der Mann nicht zahlen kann, zahlt der Staat. Da kann man sich ruhig scheiden lassen, keine ist mehr geächtet, sondern jede hat eine neue Chance. Und weil in der Regel der Papa alle zwei Wochen die Kinder hat, kann man jedes zweite Wochenende wie ein Single auf die Piste gehen und nach Frischfleisch suchen.

So eine Chance hat Tante Grete nie gehabt. Sie rief mich an und bat mich, dabei zu sein, wenn die Frau von der Zeitung kommt. Wenn Leute Goldene Hochzeit haben, gibt’s im Tagblatt immer einen Artikel mit Bild. Ich lese das gerne. Ich bin gespannt, wie die Reporterin so ist.

„Eigentlich wollte ich nicht, dass Sie kommen. Unser Leben muss nicht in der Zeitung breit getreten werden“, sagt Tante Grete zu der Reporterin gleich an der Haustür. Mit einer Kopfbewegung fordert sie die Frau auf, herein zu kommen. Ich sitze im Wohnzimmer und kann sie durch die offene Tür sehen.

Es ist düster in der Diele. Tante Grete hat das alte Bauernhaus von ihren Eltern geerbt und Onkel Kurt hat es umgebaut.

„Meine Ponderosa“, nennt er es immer. Das Zimmer, in dem Tante Grete geboren wurde, ist heute das Ehe-Schlafzimmer. Die niedrigen Decken, dunkle Eichentüren, das wär nichts für mich. Hier riecht es immer nach Putzmitteln, Socken und Eintopf.

„Wir gehen ins Wohnzimmer“, sagt Tante Grete und kommt mit der Reporterin herein. Obwohl hier sowieso immer alles supersauber ist, weiß ich, dass sie wegen der Frau von der Zeitung eine Woche lang geputzt hat. Die helle Auslegware hat sie im Quadrat staubgesaugt, man sieht es an den Spuren im Velours. Die Fransen der rotbunten Perserbrücken liegen Faden für Faden nebeneinander. Die Falten der weißen Gardinen sind festgesteckt, in der Mitte der Fensterbank steht ein rosa Alpenveilchen im Messingtopf.

Eine Uhr tickt. Sonst ist es ganz still.

Ich weiß gar nicht, ob es hier schon mal anders aussah? Die Möbel und Teppiche sind wie neu, aber solange ich denken kann, stehen sie genau an diesen Stellen im Zimmer. Sogar das Alpenveilchen scheint seit fünfzig Jahren an seinem Platz zu blühen.

Die Frau von der Zeitung und Tante Grete setzen sich in die dunkelgrünen Samtsessel.

Ich gebe ihr nur kurz die Hand, sage, dass ich Maria Jesse heiße und dass Tante Grete meine Nenn-Tante ist, gar nicht meine richtige Tante, dass ich irgendwie aber zur Familie gehöre und dass sie mich gar nicht beachten soll, ich setz mich in die Essecke und bin quasi gar nicht da.

Ich gucke ein bisschen durch den Raum, macht man ja sonst nicht so. Auf dem Kacheltisch liegen die Fernsehzeitung und eine Fernbedienung. In den Regalen der Schrankwand stehen gerahmte Fotos, ein Porzellanklo mit rosa Seidenblumen und ein Porzellanschwan mit weißen Seidenblumen. Pieksauber alles, nicht ein Stäubchen irgendwo. Hier würde das Ölgemälde vom röhrenden Hirschen gut passen, aber Tante Grete und Onkel Kurt haben die Zwiebelturmkirche am See. Tante Grete sieht adrett aus: Die graue Dauerwelle ist frisch gewickelt und sitzt wie ein Helm, die weiße Bluse ist faltenlos. Zum dunklen Rock trägt Tante Grete Hausschuhe.

„Mein Mann kommt gleich“, sagt sie in dem Moment, als Onkel Kurt eintritt. Er trägt zum weißen Hemd die gute Krawatte und auch Hausschuhe.

„Mutter, nun biete der Frau doch mal ’ne Tasse Kaffee an“, sagt Onkel Kurt, während er der Frau kräftig die Hand schüttelt. „Oder wollen Sie lieber Tee? Ist alles da, müssen Sie nur sagen.“

Sie nimmt Kaffee.

„Mutter, nun hol doch Kaffee und Kekse, wo bist du nur wieder mit deinen Gedanken.“ Onkel Kurt kneift die Lippen zusammen und schüttelt den Kopf. Ich finde das schrecklich, dass die beiden sich mit „Mutter“ und „Vatter“ anreden, hätte Manni je „Mutter“ oder „Mutti“ zu mir gesagt, hätte ich das Nudelholz gezückt.

Tante Grete geht in die Küche. Um die Fransen der Perserbrücken macht sie einen Bogen. Onkel Kurt setzt sich in den Ledersessel und drückt einen Knopf an der Armstütze. Die Sessellehne surrt einige Zentimeter zurück. „Habe ich von meinen Töchtern zum Siebzigsten bekommen, den Sessel. Teures Ding, das können Sie mir glauben“, sagt er. Die Frau von der Zeitung nickt, offenbar glaubt sie ihm.

Die Uhr tickt. Aus der Küche höre ich Geschirr klappern. Die Frau holt einen Block und einen Stift aus ihrer Handtasche. Jetzt geht es los mit dem Interview. Irgendwann muss sie ja mal anfangen. „Sie haben vor fünfzig Jahren geheiratet. Sie wissen ja, dass wir über Paare, die goldene Hochzeit feiern, gern einen kleinen Artikel schreiben“, sagt sie.

„Schreiben Sie nur, schreiben Sie nur, wir haben nichts zu verbergen“, sagt Onkel Kurt. Tante Grete kommt mit einem Tablett herein.

„Ach Mutter, warum hast du denn nicht das gute Geschirr genommen? Das hier doch nicht! Geh mal und hol von dem Indisch blau.“

Tante Grete schaut ihn an und geht wortlos zurück in die Küche. Sie macht wieder einen Bogen um die Perserfransen.

Wir trinken Kaffee aus indisch blauer Tasse. Die Kekse sind von Aldi.

„Wann haben Sie sich kennen gelernt?“, fragt die Frau. „Neunzehnhundertfünfzig“, sagt Onkel Kurt.

„Nein, Vatter, das stimmt doch gar nicht, es war einundfünfzig“, berichtigt Tante Grete.

Onkel Kurt guckt böse. „Neunzehnhundertundfünfzig kam ich aus der Gefangenschaft und wurde ins Krankenhaus am Birkenweg gebracht!“, ruft er. Tante Grete sagt zu der Zeitungsfrau: „Jetzt fragen Sie bloß nicht weiter nach, sonst erzählt er Ihnen die ganze Geschichte von Russland.“

Um Himmels Willen. Wer Onkel Kurt kennt, kennt auch die Russland-Geschichten. „Du hast doch nichts mitgemacht! Ich war schwer verwundet in Russland und das Frollein hat es sich hier gut gehen lassen“, sagt Onkel Kurt zu der Reporterin. „Sie kommt vom Bauernhof, wissen Sie, die haben doch nie Hunger kennen gelernt! Die Bauern hatten immer zu fressen, weil sie untereinander gekungelt haben. Aber wir, als der Russe uns damals gefangen hielt ...“

Tante Grete fällt ihm ins Wort: „Vatter, ich wünsche nicht, dass du vor der Frau so redest! Und morgen steht das in der Zeitung, du bist doch nicht bei Trost!“

Zu der Frau sagt sie: „Ich wollte sowieso nicht, dass Sie herkommen, wir wollen gar nicht in die Zeitung.“ Tante Grete ist heute wirklich ein bisschen kiebig. Kann doch die Frau nichts dafür, dass sie solange durchgehalten hat.

„Natürlich muss das in die Zeitung! Was du immer redest. Siekers und Niedermeiers waren auch in der Zeitung, als sie Goldene hatten, das ist nun mal so. Schreiben Sie ruhig mit, junge Frau, wir haben hier nichts zu verbergen.“ Die Zeitungsfrau lächelt gequält und versucht es anders. „Wann sind Sie geboren, Frau Sauer?“

Sie notiert ihr Alter.

„Waren Sie berufstätig?“ Onkel Kurt antwortet für Tante Grete: „Das hatte meine Frau nicht nötig! Wir hatten immer ein gut gehendes Geschäft, da brauchte sie nicht bei fremden Leuten arbeiten zu gehen!“ Tante Grete ruft: „Ich hab nicht gearbeitet? Und wer hat das Haus und den Garten in Ordnung gehalten und die Kinder groß gezogen? Du hattest doch nur Zeit fürs Geschäft! Und wer hat dir die Buchhaltung gemacht und im Laden geputzt? Das war doch wohl ich, oder wer?“ Da hat sie Recht, denke ich. Onkel Kurt wird komisch: „Ach, wolltest du etwa eine Putzfrau auch noch haben? Du hattest doch den ganzen Tag Zeit, dich um alles zu kümmern.“

„Und du hast hier keinen Handschlag getan, alles musste ich alleine machen. Und die Kinder haben dich auch nicht interessiert, nur wenn sie was ausgefressen hatten, warst du da!“ Jetzt schluchzt Tante Grete, zieht ein weißes Taschentuch aus ihrem Blusenärmel und schnäuzt laut. Sie sagt zu der Frau: „Das schreiben Sie aber nicht, oder? Ich wollte nicht, dass Sie kommen.“

Die Frau sagt: „Ich schreibe nichts, was die Leute nichts angeht. Aber es wäre doch auch für die jungen Menschen schön zu wissen, wie man fünfzig Jahre lang eine Ehe aufrecht erhält.“ Das kann die nicht ernst meinen, oder? Sie sieht so aus, als würde sie gerne gehen.

„Das kann ich Ihnen sagen, wie man eine Ehe aufrecht hält“, sagt Onkel Kurt. „Man läuft nicht, so wie heutzutage, bei jedem Streit auseinander! Wir haben noch Treue und Pflichtbewusstsein gelernt und wenn man heiratet, sagt der Pastor: Bis dass der Tod euch scheidet. So was hat für Leute wie uns noch Gültigkeit.“ Die Frau von der Zeitung hakt ein: „In welcher Kirche haben Sie geheiratet?“

Onkel Kurt sagt: „Im Nachbardorf. Meine Frau kommt ja vom Bauernhof. Da ist es Sitte, dass man auf dem Hof auch feiert. Die hatten ja auch keine Not nach dem Krieg. Als mich damals der Russe gefangen genommen hatte ...“ „Vatter!“, unterbricht ihn Tante Grete.

„Erinnern Sie sich noch an das Hochzeitsessen?“, fragt die Frau. „Wir hatten ein Schwein geschlachtet“, sagt Tante Grete. „War es eine schöne Feier? Sind Sie in Weiß gegangen?“ Tante Grete lächelt zum ersten Mal. „Meine Mutter hatte mir ein gebrauchtes Kleid von der Tante umgearbeitet. Tag und Nacht hat sie daran gesessen. Und ich hatte einen langen Schleier.“

„Welche Erinnerungen haben Sie an Ihre Hochzeit, Herr Sauer?“ Onkel Kurt schlägt sich aufs Knie und sagt: „Tja, wir haben uns ordentlich einen genommen, die Bauern haben damals ja alle schwarz gebrannt, wissen Sie.“

„Besoffen wie ein Stier warst du!“, zischt Tante Grete und fügt hinzu: „Und nicht nur am Tag der Hochzeit!“ Nun ist es wieder mucksmäuschenstill, nur die Uhr tickt. Tante Grete sagt böse: „Das schreiben Sie aber nicht! Das geht die Leute nichts an, was Sie hier hören. Ich hab ja gleich gesagt ...“ Die Frau von Zeitung wird ärgerlich: „Wissen Sie, ich mache hier meinen Job, ich bin nicht freiwillig hier. Wenn Sie sich nicht einig sind, machen wir eine Meldung in der Rubrik »Jubilare« und mehr nicht.“ Recht hat sie.

Onkel Kurt beschwichtigt: „Mutter, nun schenk der Frau und Maria noch Kaffee ein, wo hast du wieder deine Gedanken.“ Der Kaffee ist nur noch warm. An der Tülle der Kanne ist ein Schaumgummi-Schmetterling als Tropfenfänger mit einem Band befestigt. So was habe ich schon lange nicht mehr gesehen. Die Frau von der Zeitung macht weiter: „Wie werden Sie Ihre goldene Hochzeit feiern?“ „Gar nicht“, sagt Tante Grete und Onkel Kurt ruft gleichzeitig: „Im Dorfkrug“. Tante Grete keift: „Darüber ist das letzte Wort noch nicht gesprochen! Ich sehe nicht ein, den Leuten Essen und Trinken zu spendieren, damit sie sich später das Maul zerreißen können. Dem passt dann das Essen nicht, der hat nicht genug gepichelt, irgendeiner hat doch immer was zu lästern, davon will ich nichts wissen.“ Da hat sie Recht. „Natürlich wird gefeiert“, sagt Onkel Kurt. „Das gehört sich so! Was sollen die Leute denken, wenn wir nicht feiern. Sieht ja so aus, als könnten wir uns das nicht leisten. Wenn es in der Zeitung steht und wir haben keinen eingeladen, dann werden sie sich das Maul zerreißen.“ Jetzt hat er Recht.

„Ich hab ja gleich gesagt, es soll nicht in die Zeitung. Das braucht überhaupt keiner zu wissen.“ Die Frau von der Zeitung steht auf und sagt: „Ich glaube, Sie haben Recht. Ihre Geschichte sollte nicht in die Zeitung. Ich danke Ihnen für das Gespräch. Wir werden, wenn Sie einverstanden sind, nur die kurze Meldung in der Rubrik „Jubilare“ bringen.“ Tante Grete nickt. Wenn ich ehrlich bin, denke ich, dass diese Meldung auch nicht in die Rubrik „Jubilare“ gehört. Die Frau von der Zeitung sollte sie lieber unter der Rubrik „Herzliches Beileid“ veröffentlichen. Bin ich froh, dass ich Manni rechtzeitig losgeworden bin.