Klassentreffen

Es ist lange her. Mindestens zwanzig Jahre.

An das letzte Klassentreffen kann ich mich trotzdem gut erinnern.

Susi hatte alles organisiert. Typisch. Die hat schon alles an sich gerissen. Sie war so eine, die im Mittelpunkt stehen musste, immer alles besser wusste und die sich beinahe mit den Lehrern duzte. Und gute Noten hatte die Streberin obendrein. Hässlich war sie nicht, nur die beigefarbenen Locken waren schrecklich. Und sie hatte komische Sachen an. Nietenhosen mit Bügelfalte.

Sie trug die Nase oben, als wäre sie was Besseres gewesen. Als Erwachsene war sie auch nicht anders. Manchmal denke ich, man ändert sich im Grunde nie. Susi war beim letzten Klassentreffen grade Mutter geworden.

Sie zeigte Babyfotos rum und fachsimpelte mit ein paar anderen Frauen über Schwangerschaften, Geburten und alles, was dazu gehört. Ich wollte es nicht wissen, aber ich musste mit anhören, dass sie einen Dammschnitt hatte. Es hätte geklungen, als schneide man mit der Geflügelschere in ein Hähnchen, erzählte Susi. Und dass die Nachgeburt so komisch ausgesehen hätte, und dass sie später Alkoholumschläge bekam, weil sie nach einem Milchstau eine Brustentzündung hatte und dachte, dass ihr die Möpse platzen.

Dass so was eine Mutter beschäftigt und dass sie darüber reden möchte, das verstehe ich.

Ich habe auch zwei Kinder in die Welt gesetzt. Aber ich habe niemals beim Gulasch über meine Nachgeburten gesprochen.

Mittendrin war Susi beim letzten Klassentreffen aufgesprungen und hatte sich für eine Stunde verabschiedet. Sie musste zum Stillen. Man sah es an ihrem Pullover, dass es höchste Zeit wurde. Die Still-Einlagen hatten versagt.

Was ziehe ich bloß an? Es soll schon nach was aussehen. Nur, weil ich eine mittelmäßige Schülerin war, muss man heute nicht denken, ich würde mittelmäßig leben.

Vielleicht das Kostüm und hohe Schuhe? Oder lieber doch den Hosenanzug? Wenn die Weiber sehen, wie schlank meine Beine noch sind, werden sie neidisch. Das muss nicht sein. Grade als geschiedener Single muss ich aufpassen. Oft hab ich das Gefühl, als stehe auf meiner Stirn zu lesen: „Freiwild – haltet eure Männer fest!“

Ich ziehe den Hosenanzug an. Dass ich noch eine gute Figur habe, sieht man auch, wenn ich Hosen trage. Wenn ich irgendwann in die Wechseljahre komme, ist es mit meiner Größe vierzig sowieso vorbei. Jeder nimmt dann zu, und in meinem Alter sitzt jedes Gramm auf den Hüften besonders hartnäckig. Reicht doch, dass ich alt werde, muss ich nicht noch fett werden. Mist.

An manche Mitschüler kann ich mich kaum erinnern. An Gaby und Ulla, ja, wir waren viele Jahre lang ein Trio. Und an die doofe Anita natürlich auch. Die heißt jetzt Bergmann. Besser ist das. Ihr Mädchenname war Schlotterhose. Was haben wir darüber gelacht und wie haben Anita damit geärgert. Mir tat sie manchmal leid. Wenn ich Anita Schlotterhose geheißen hätte, hätte ich jeden geheiratet, um diesen Namen loszuwerden.

Wie entsteht so ein Name? Ich meine, Meier, Müller, Schulze – das waren früher mal Berufe. Aber Schlotterhose?

Peter Bretthauer, Uwe Drosselmeier, Ralf Kunz. Und Rüdiger.

Rüdiger Borsutzky. Rüdiger war meine erste richtige Liebe.

Er hat mich geküsst. Auf der Klassenfahrt nach Arnsberg im Sauerland. In der Tropfsteinhöhle.

Hach, war ich glücklich. So glücklich, dass ich meine Tasche stehen ließ. Mit meinem ganzen Geld drin. Als ich es später gemerkt habe, war sie natürlich weg.

Rüdiger. Er war der hübscheste Junge der ganzen Schule. Ein bisschen sah er aus wie David Cassidy. Gute Figur. Dünne Beine. In den Röhrenjeans zu den Boots wirkte er ein wenig o-beinig.

Rüdiger konnte „Yesterday“ auf der Gitarre spielen. Und: „Wir fuhren nach Madagaskar“, aber das fand er nicht wirklich gut. Solche Lieder spielte er auf Wunsch von Herrn Höhner am Lagerfeuer. Und wenn der Lehrer im Bett lag, gab Rüdiger die anspruchsvollen Sachen. Donovan und Beatles und so. Er war einer der Intellektuellen. Er hätte so gut zu mir gepasst.

Am Lagerfeuer fing alles an. Der Feuerschein in seinem Gesicht, seine schlanken Finger, die liebevoll die Gitarrensaiten streichelten, und diese Augen. So blau. So schön. Dann hat er mich angelächelt. Und ich habe ihn zurück angelächelt.

Die halbe Nacht konnte ich nicht schlafen. Immer hatte ich dieses Lächeln vor Augen.

Am nächsten Tag haben wir die Dechenhöhle besichtigt. Rüdiger saß auf der letzen Bank. Und obwohl mir hinten im Bus immer schlecht wurde, setzte ich mich genau vor ihn. Habe mir immer lässig durchs Haar gestrichen. Ich war damals ein hübsches Ding. Noch keine Brille, keine Falten, natürlich nicht. Ich hatte Ähnlichkeit mit Ute Kittelberger, dem Bravo-Girl. Die hat dann Bernd Clüver geheiratet. Das war auch ein Süßer, auch wenn das Lied vom Jungen mit der Mundharmonika kitschig war. Wir sangen immer „Der Junge mit dem Hund von Monika…“ Ach, ist das alles lange her.

In der Tropfsteinhöhle erklärte Herr Höhner uns die Stalagmiten und die Stalaktiten. Stalaktiten sind oben. Ich kann mir das bis heute merken, weil Rüdiger so eine Bemerkung machte. „Tieten sind oben.“ Ich sag ja, der hatte wirklich Ideen.

In der Höhle haben wir nebeneinander gestanden. Und irgendwie sind wir ganz zufällig hinter der Gruppe zurückgeblieben. Wir waren die letzten. Und dann hat Rüdiger meine Hand genommen. Er hat mich geküsst. Richtig. Mit Zungenschlag. Dann hat er diesen Satz gesagt. Er hat gesagt: „Maria.“ Dann hat er eine Pause gemacht. Er war total verlegen. Und dann hat er gesagt: „Willst du mit mir gehen?“ Kann man sich ja vorstellen, was damals in mir passierte. Wo ich ihn doch schon so lange so süß fand. Natürlich habe ich „Ja“ gesagt. Das ging noch eine ganze Weile weiter mit Rüdiger und mir. Auch nach der Klassenfahrt. Bis zu diesem Abend auf dem Spielplatz. Er saß in der Schaukel und ich auf seinem Schoß. Wir haben geknutscht. Ich hab die Zeit vergessen und kam zu spät nach Hause. Meine Mutter war gnadenlos. Als mein Hausarrest nach drei Wochen zu Ende war, war Schluss mit Rüdiger. Er ging mit Angela, einer hochnäsigen Tussi aus der Parallelklasse. Tagelang habe ich geheult und auf meinem tragbaren Plattenspieler „Lobo“ gehört. „Baby, I‘d love you to want me“.

Ich bin vor Liebeskummer fast gestorben. Zwei Wochen lang konnte ich die „Partridge Familie“ mit David Cassidy nicht ohne Heulkrämpfe ansehen. Den Starschnitt aus der „Bravo“ riss ich von der Wand und ersetzte ihn durch Poster von den Les Humphries Singers und Terence Hill.

Ich hab mich oft mit meiner Mutter wegen dieser Poster gestritten. Sie schwärmte für Rudolf Schock und Bruce Low. Die Geschmäcker sind verschieden.

Ich weiß gar nicht mehr, wo Rüdiger abgeblieben ist. Beim letzen Klassentreffen war er nicht dabei. Schade. Da war ich immerhin noch zwanzig Jahre jünger als heute. Ich war schon längst mit Manni verheiratet. Ich hätte Rüdiger zeigen können, was er damals nicht haben wollte und später nicht mehr kriegen konnte. Ob er sich geärgert hätte? Oder wäre ich vielleicht ganz froh gewesen? Womöglich hat Rüdiger heute einen dicken Bauch und Halbglatze? Vielleicht hat er aber immer noch so schöne lange Locken? Vielleicht sehe ich ihn heute. Die Zeiten haben sich geändert. Ich bin nicht mehr fünfundzwanzig, aber ich bin auch nicht mehr verheiratet. Ich ziehe den Rock an.