Berichterstattung

Es sind Ausländer. Das ist das erste Mal, dass Ausländer in unserem Haus wohnen. Ich weiß nicht, ob die Hausverwaltung sich das gut überlegt hat. Die Leute müssen ja zu den anderen Mietern passen. Ich weiß nicht mal, welche Nationalität die haben. Frau Pohlmann aus der zweiten Etage weiß auch nicht, wo die herkommen. Sie schätzt, Persien. Sie sagt, er wäre Arzt im Krankenhaus, Herr Sauer aus dem Erdgeschoss hat es ihr erzählt. Ein Doktor. Angeblich hat er vorher in Berlin gearbeitet. Das muss seinen Grund haben, dass er jetzt nach Ostwestfalen versetzt wurde. Freiwillig geht ein richtiger Arzt nicht in die Provinz. Da muss was vorgefallen sein.

Frau Pohlmann hat im Berliner Telefonbuch nachgeguckt, ob es da einen Doktor Raad gibt. Im alten Telefonbuch, da ist die richtig auf Zack gewesen. Es gibt in Berlin wohl ein paar Raads, aber keinen Doktor. Gut, das heißt noch nichts, unten an der Klingel steht hier auch nur „Raad“. Sonst nix. Wo die herkommen, kann man an diesem Namen auch nicht sehen. Raad, das kann alles mögliche sein, sogar deutsch.

Sie spricht nicht mit mir. Ich hab sie neulich im Hof gegrüßt, als sie am Fenster stand. Sie hat das Fenster zugeknallt. Kein Gruß zurück, nichts. Das sind keine deutschen Manieren. Das macht man nicht. Da müssen die sich anpassen. Und grade, wenn er Arzt ist. Aber das ist auch noch nicht bewiesen.

Eigentlich stellt man sich im Haus vor, wenn man neu eingezogen ist. Das haben bisher alle so gemacht. Die nicht. Haben sie vielleicht nicht nötig. Oder sie wissen es nicht besser.

Irgendwann muss sie mit mir reden, wir müssen uns schließlich absprechen, wer wann die Treppe macht. Die letzten Wochen, als die Wohnung gegenüber leer stand, hab ich geputzt, aber jetzt muss das wieder im Wechsel sein. Seh ich überhaupt nicht ein, dass ich den Herrschaften noch den Dreck wegputze.

Gestern hab ich ihr einen Treppenhausputzplan an die Tür geklebt. Ich hab geschrieben: Erste Woche: Frau Jesse. Zweite Woche: Neue Mieterin. Dritte Woche: Frau Jesse. Vierte Woche: Neue Mieterin. Den Namen kenne ich ja offiziell gar nicht, sie hat sich ja bei mir noch nicht vorgestellt. Der Zettel ist weg, die Treppe hat sie am Samstag nicht geputzt. Sauerei so was. Ich hab sie noch nie im Treppenhaus gesehen, obwohl ich oft genug durch den Spion gucke. Ihn höre ich morgens nicht weggehen, er ist ganz leise. Aber wenn Madame aufsteht, dann höre ich das. Die knallt die Türen, da sitz ich hier kerzengerade. Wer weiß, wo die weg kommt. Vielleicht hatten die da nur Zelte und keine Türen. Wenn sie aber mit einem Arzt verheiratet ist und schon in Berlin gelebt hat, wird sie unsere Lebensart kennen. Und sie wird doch deutsch reden können? Wenigstens „Guten Tag“ kann man in einer fremden Sprache können, wenn man schon im Ausland lebt. Wie soll sie einkaufen, wenn sie kein deutsch kann? Oder fernsehen? Einmal fuhr sie in ihrem weißen Polo an mir vorbei. Führerschein hat sie also. Ob der in Deutschland gültig ist?

Tamara sagte am Telefon: „Wenn du die Frau kennenlernen willst, Tante Maria, dann klingel doch einfach bei ihr. Und wenn sie das Treppenhaus putzen soll, dann sag es ihr.“ Tamara hat Nerven. Das seh ich gar nicht ein, dass ich hinter so einer noch herlaufe. Ich bin die Ältere, sie ist die Neue, sie muss den Kontakt suchen, nicht ich. Ich weiß von der nur, was Frau Pohlmann herausgefunden hat. Am Anfang hieß es ja nur, dass die Wohnung wieder vermietet wäre. An wen, das hat mir keiner gesagt. Bis die Pohlmann eines Tages außer Atem vor meiner Tür stand und sagte: „Berichterstattung. Es sind Ausländer!“ Tolle Nachrichten. Später rief sie dann an und sagte: „Berichterstattung: Er soll Arzt sein.“ Und dann kamen peu a peu die ganzen Neuigkeiten ans Tageslicht. Ohne die Berichterstattung wüsste ich heute nichts über die Leute, mit denen ich gezwungenermaßen nicht nur unter einem Dach, sondern sogar auf einer Etage wohne. Als Frau Pohlmann damals einzog, das ist auch schon wieder fünf Jahre her, die Zeit vergeht, da hat sie sich auch überall vorgestellt. So gehört sich das, dann gibt‘s auch keinen Ärger. Obwohl die Pohlmann mir ganz schön auf die Nerven geht. Die immer mit ihren Krankheiten. Dauernd hat sie was Neues. Gürtelrose, Rheuma, Arm gebrochen. Als sie einzog, hatte sie es mit den Beinen. Die waren offen. Da hat sie immer Digital-Fotos gemacht und im Haus rumgezeigt. Fotos von offenen Beinen. Ekelhaft! Sogar dem Sauer aus dem Erdgeschoss hat sie die Bilder gezeigt. Sie hat ihn gefragt, ob er ihr von den Fotos eine CD machen kann, damit sie die an ihre Freundin Annemie in Solingen-Ohligs schicken kann. Frau Pohlmann zeigt auch ihre Röntgenbilder rum, dann sagt sie immer „Mein Arzt meint…“ Ihr Arzt. Als hätte sie den extra engagiert.

Man darf nie zu ihr sagen: „Wie geht‘s?“ Dann hat man verloren und steht eine Stunde im Treppenhaus. Sie sagt dann: „Wie es mir geht? Das wollen Sie nicht wirklich wissen.“ Und bevor man sagen kann, dass sie damit auch wieder Recht hat, legt sie los. Ich kenne alle ihre Werte und ihren Körper von innen und aussen. Wegen der Röntgenbilder und der Ultraschallfotos. Als ob das einen interessiert. Sie hat keine Kinder, denen sie von ihren Krankheiten erzählen könnte, deswegen müssen die Hausbewohner herhalten. Irgendwann hatte sie angeblich einen Schlaganfall. In Wirklichkeit war es ein klitzekleiner Hörsturz, aber sie macht immer gleich ein Drama draus. Das Allerneuste: Jetzt hat sie angeblich einen Gehirntumor. Bin gespannt, wann davon die neuesten Fotos kommen. Na ja. Zur Not ist ja jetzt ein Arzt im Haus.