Frauenarzt

Ich geh nicht gern zum Frauenarzt. Lieber geh ich zum Zahnarzt. Da hab ich weniger Angst, auch wenn der Frauenarzt nicht bohrt. Ist auch komisch: Ein Mann, der den ganzen Tag nichts anderes zu tun hat, als fremden Frauen in den Schritt zu gucken. Das ist doch unnormal. Warum wird ein normaler Mann Frauenarzt? Kann der zuhause überhaupt noch, wenn der den ganzen Tag zwischen irgendwelchen Schenkeln rumgefuhrwerkt hat? Und wie findet seine Frau das, wenn er sich dauernd nackte Frauen beguckt? Und dann noch in solcher Lage! Findet der Frauen überhaupt noch schön? Es kommen ja nicht nur Gepflegte. Es kommen ja auch welche, bei denen man nicht gleich erkennt, ob sie da unten Haare haben oder einen Schwarm Fliegen.

Warum sind so wenige Frauen Frauenarzt? Gibt’s eigentlich auch Männerärzte? Frauen, die Männerärzte sind? Das wäre ja mal ein Beruf.

Wie dieser neue Doktor wohl ist? Es ist ein Jammer, dass Dr. Buschjost seine Praxis abgegeben hat. Das Alter hatte er.

Ich ging als junges Ding schon zu ihm und damals war er schon alt. Wir sind immer gut miteinander ausgekommen. Ich mochte seine unverbindliche Art. Er hat mir nie ins Gesicht gesehen und er lächelte nie. Das fand ich gut. Es wäre sehr indiskret, wenn einer einen erst untenrum anguckt und dann in die Augen sieht. Und zu lächeln gibt’s auch nichts bei so einem Termin.

Dr. Buschjost guckte immer nur auf seinen schwarzen Schreibtisch, und da war nichts drauf außer der Karteikarte und einem silbernen Kuli. Keine Bücherstapel, keine Fotos, keine Briefe, kein Staubkörnchen – auf schwarz! - gar nichts lag da rum. Damit wollte er den Frauen bestimmt zeigen, wie sauber er ist. Quasi: wie aufgeräumt. Ich habe mal gelesen, dass übertriebene äußerliche Ordnung ein Zeichen für inneres Chaos ist. Das ist bestimmt wahr.

Als ich zum ersten Mal zu Dr. Buschjost ging, war meine Mutter dabei. Da war ich fünfzehn und hatte meine Tage unregelmäßig. Ich weiß es noch wie heute, dass Dr. Buschjost mir ein Hormonpräparat aufschrieb, auf seinen schwarzen, leeren Schreibtisch starrte und warnend murmelte: „Mein kleines Fräulein, das ist aber keine Anti-Baby-Pille, nicht wahr!“ Ich hab so getan, als wüsste nicht, was er meinte. Mutter hatte ich mich nicht aufgeklärt und es war mir peinlich, dass sie auch wusste, was ich schon wusste.

Dann hat Dr. Buschjost Mutter richtig verschwörerisch angesehen. Den Blick habe ich allerdings erst später verstanden, zuhause, als ich den Beipackzettel las. Klar war das die Pille. Das hätt ich schon an der Packung erkennen können: Ein runde Dose, an der man den Deckel drehen musste, um jeden Tag eine Pille rausnehmen zu können. Und die Dinger hatten verschiedene Farben. Weiß, gelb, rosa. Mutter und Dr. Buschjost wollten nur mein Bestes und mich nicht in Sicherheit wiegen. Dabei war das ganz unnötig, ich habe erst mit sechzehn zum ersten Mal. Mit Micha. Micha hatte dünnes blondes Haar, schulterlang, und Akne. Er versuchte, sie mit Visamt-Kompaktpuder zu verdecken. Das ganze Gesicht hatte er damit zugekleistert und seine Pickel sah man trotzdem. Micha war nett und wir mochten dieselbe Musik. Beatles und Donovan, die ganzen alten Sachen.

Micha war ein richtiger Kumpel. Deshalb hab ich es auch mit ihm zum ersten Mal getan.

In der Bravo hatte gestanden: „Den ersten Mann vergisst Du nie.“ Immer wieder las ich bei Dr. Sommer, dass Mädchen schrecklichen Liebeskummer hatten, nachdem sie es das erste Mal getan hatten. Das wollte ich nicht erleben. Und weil ich mit Micha befreundet war und meine Freundinnen alle schon mal „hatten“ und ich nicht, hab ich Micha einfach gefragt, ob er das erste Mal nicht bei mir erledigen könnte.

Ich erinnere mich noch ganz genau an sein neckisches Grinsen, als er sagte: „Klar. Gerne. Wird gemacht, Mariechen.“ Es war im Sommer. 1975. Ein superheißer Tag im Juli. Wir trafen uns bei ihm zuhause. Salzsiederstraße zwölf. Seine Eltern waren nicht da. Micha führte mich in die Garage neben dem Haus. In der Ecke lag eine blaue Matratze. Ich dachte: Hier wird es gleich passieren. Hier werde ich meine Unschuld verlieren. Wenn ich hier heute rausgehe, werde ich nie mehr dieselbe sein. Micha knutschte mich ab und fummelte mir unter dem Minirock herum. Unangenehme Sache, aber jetzt hatte ich zugesagt und es gab kein Zurück.

„Guck mal, was ich habe“, sagte Micha. „Was ist das?“ „Patentex oval“.

Verhütungszäpfchen, klar. Lieber Himmel, gut, dass er dran gedacht hatte. „Ich hab zwei“, sagte er. Sollte ich das etwa zweimal nacheinander machen? Diese Sau.

Wir saßen im Schneidersitz auf der Matratze. Micha riss eines der kleinen Dinger auf. Eine eklig zähe weiße Masse quoll heraus. „Mist, geschmolzen, ich hatte es in der Hosentasche“, sagte er. Wir gingen durch die Seitentür der Garage ins Haus, hinauf in die Küche, er legte das Zäpfchen in den Kühlschrank. In seinem Zimmer hörten wir Platten. Penny Lane, Mister Postman und Obladioblada. Nach einer Stunde holte Micha das Zäpfchen aus dem Kühlschrank und quetschte daran rum. „Okay, es ist hart. Es kann losgehen.“ Ab in die Garage.

Ich hab mich später mal gefragt, warum wir es nicht in seinem Zimmer erledigt haben. Wahrscheinlich wegen der Flecken auf der Matratze. Blitzschnell zog ich meinen Minirock aus, stellte meine grün schwarz gestreiften Plateausandalen ordentlich neben die Matratze, streifte die Bluse über den Kopf, ordnete meine Haare, legte mich auf die Seite und verschränke die Arme vor der Brust. Ganz schnell. Mich hatte nämlich noch nie ein Junge nackt gesehen.

Michas Röhrenjeans klebten ein bisschen am Körper. Er war dünn. Und O-Beine hatte er auch. So sah also ein Männer-Dingens aus.

Ich weiß noch, dass ich mich sehr wunderte. Weil da keine Haare dran waren. Ich hatte bis dahin gedacht, an dem ganzen Teil wären Haare. Das Dingens erinnerte mich an eine Knacker Brühwurst und ich fand es nicht hübsch.

Micha legte sich neben mich und wir knutschten ein bisschen. Aufgeregt war ich nun nicht mehr. Micha schon, ich spürte, wie schnell sein Herz klopfte. Er drehte mich auf den Rücken.

Der Wasserfleck an der Garagendecke hatte die Form von Frankreich. Oder von Spanien?

„Frau Jesse, bitte.“ Wie? Was? Achso.

„Nehmen Sie bitte schon mal im Sprechzimmer zwei Platz.“ Wieder warten. Ich rede erst mal mit dem neuen Doktor. Dr. Holger Schiller. Der sieht mich erst nackt, wenn ich weiß, dass ich ihm vertrauen kann.

Bei Micha damals wusste ich, dass alles klar ging. Nachher habe ich mich mit eiskaltem Wasser aus dem Wasserhahn für den Gartenschlauch gewaschen, weil mir das geschmolzene Verhütungszäpfchen wieder raus lief. Wenn Mutter davon was in meinem Schlüpfer gesehen hätte…

Ich achte sehr auf meine Unterwäsche, wenn ich zum Frauenarzt muss. Auch auf die Socken. Das ist immer schwierig. Meistens muss man sich unten rum freimachen und behält den Büstenhalter an. Es sieht so blöde aus, wenn man mit Socken, BH und nacktem Hintern hinter dem Vorhang herkommt und zum Untersuchungsstuhl geht. Also trage ich immer lange Pullover, die bis über den Hintern reichen. Und die Socken ziehe ich aus. Barfuss sieht besser aus, wenn man schon unten ohne ist. Barfuss natürlich nur, wenn man keinen Fußpilz und keine Hornhaut hat.

Er hat den Schreibtisch von Dr. Buschjost nicht übernommen.

Dieser hier ist aus hellem Holz. Soweit ich das bei dem vielen Gedöns sehen kann. Meine Güte, ist das ein chaotischer Mensch. Diese vielen Blätter und Briefe und Formulare. Warum legt sich einer Bücher stapelweise auf den Schreibtisch? Hat er zwischen den Untersuchungen Zeit zum Lesen?

Gynäkologische Endokrinologie für die Praxis, Klimakterium und psychosoziale Folgen. Was der alles wissen muss. Vielleicht liest er das auch gar nicht. Die Bücher liegen hier vielleicht nur, um uns Frauen zu zeigen, wie schlau er ist. Ich hab mal das Buch „Die Insel des vorigen Tages“ geschenkt gekriegt. Völlig konfuses Zeug, merkt man ja schon am Titel, und ist auch kein bisschen spannend. Ich hab die ersten drei Seiten gelesen und nicht verstanden. Von Hubertus Ecco oder so ähnlich. Ein ganz Berühmter. Dieses Buch von der Insel hab ich immer aufgeschlagen auf die Sessellehne gelegt, bevor Besuch kam. Es machte schon Eindruck, wenn einer es in die Hand nahm, die ersten komischen Sätze las, die Stirn runzelte und „aha“, sagte. In Wirklichkeit lese ich ganz gerne die Bücher von Konsalik, Gaby Hauptmann und Hera Lind. Und von der Frau mit dem komischen Namen: Ildyko von irgendwas. Diese Schriftstellerinnen schreiben vom wahren Leben. Oder jedenfalls kann man sich das vorstellen, wovon sie schreiben. Okay, den impotenten Mann fürs Leben brauch ich nicht. Wenn ich mal wieder jemanden kennen lernen würde, wäre das schön, wenn der auch könnte.

Tollen Computer hat Dr. Schiller. Der Bildschirm- einen Fernseher in der Größe hätte ich gern. Was sind denn das für Fotos? Das muss seine Familie sein. Hübsche Frau. Vier Kinder. Na klasse. Dann weiß er ja, worum es geht. Vier Stück. Das können sich ja nur noch Ärzte leisten. „Guten Tag, Herr Doktor.“

Großer Gott, ein gut aussehender Frauenarzt. Der sieht aus wie Uli Wickert. Das ist ja wohl das Letzte! Der hätte Schauspieler werden sollen und kein Gynäkologe. Das ist eine Frechheit. Der will uns normalen Frauen doch bloß auf die Nase binden, was wir nicht kriegen können. Wie bei der Geschichte mit dem Fuchs und den Trauben, die zu hoch hängen. Der kann jetzt noch so scheißfreundlich tun, hier bin ich zum ersten und zum letzten Mal. Als ob ich mich vor so einem ausziehen würde! Ein hübscher Frauenarzt ist wahrhaftig das Letzte, was ich gebrauchen kann