Vernissage

Tamara hätte mir sagen müssen, dass schwarze Kleidung Pflicht ist. Ich bin die einzige in bunt, alle anderen haben schwarz an. Eigentlich ist schwarz feige. Man geht kein Risiko ein, dass was nicht zusammen passt. Fast könnte man denken, hier sei eine Beerdigung und keine Vernissage. Sind die Leute gar nicht wegen der Bilder hier? Alle gucken sich nur gegenseitig an, niemand beachtet die Bilder. Auf meiner Einladung steht, dass Professor Knake nach dem Champagnerempfang eine Einführung in das Werk von Bodo Maximus van den Rhein gibt. Ach so, das ist gar kein Sekt, sondern Champagner? Den Unterschied schmeckt man aber nur, wenn man es weiß. Oder wenn man bezahlt.

„Tamara, wer ist die Frau mit dem großen Ausschnitt?“ Auf den ersten Blick sieht sie super elegant aus, aber wenn sie den Mund aufmacht, ist der Glamour weg. Hildegard Dollendorf-Hahnedingsen. Aha. Nie gehört, aber das Gesicht kam mir irgendwie bekannt vor. Bei den Zähnen lenkt auch so ein Dekolleté nicht ab. Statt ihr Geld für solche Kleider auszugeben, sollte sie sich lieber ein Gebiss kaufen.

„Tamara, kennst du die Frau in dem Kaftan?“ Frau Ludwig? Die Frau Ludwig?“

Ich werde nie verstehen, was die Männer an der finden. So schön ist sie wirklich nicht. Wieso wird so eine vier Mal geheiratet? In der Gala hab ich gelesen, dass sie zweimal geschieden und einmal verwitwet ist. Und den neuen Ehemann hat sie geheiratet, da war der alte noch nicht ganz unter der Erde. Das ist geschmacklos.

„Tamara, das kann nichts mit Liebe zu tun haben. Weißt du, wie alt ihr Neuer ist? Zwanzig Jahre älter als sie. Er wird siebzig.“ Der sucht eine Pflegerin, weil er ganz tatterig ist und sie hat ihn genommen, weil er Geld hat. „Wenn du mich fragst, ich finde das ekelig, wenn alte Knacker sich so junge Frauen nehmen. Und wenn Frauen nur wegen Geld heiraten, ist das genauso eklig. Das ist ein Geschäft und keine Ehe. Wer ist die Frau da drüben? Die Rothaarige, die eben mit ihrem Sohn hereinkam. Wie, nicht ihr Sohn? Ihr Mann? Der? Ich sag ja schon nichts mehr.“

Jetzt ist das noch ein hübsches Paar. In ein paar Jahren sieht das ganz anders aus. Er ist mindestens zwanzig Jahre jünger. Das ist so, als hätte ich einen Fünfundzwanzigjährigen. Um Himmels willen. Nie im Leben würde ich mich vor einem Fünfundzwanzigjährigen nackt ausziehen! Was denkt sie denn, wie lange sie noch so aussieht? Und dann sucht er sich sowieso eine Jüngere. Männer sind so.

In der zweiten Reihe sind noch Plätze frei.

Der kleine Dünne neben mir sieht nett aus. Er hat ein freundliches Lächeln. Sein Kaiser-Wilhelm-Schnauzbart ist ein kleines Kunstwerk. Wie kriegt er nur die Enden so steif? Der Professor kommt. Er liest die Vita des Künstlers vor.

Bodo Maximus van den Rhein. Das ist natürlich ein Künstlername. Van den Rhein ist gut. Tamara hat gesagt, dass er aus Köln stammt. Bilbao, Barcelona, Paris. Alle Achtung, der Bursche ist rumgekommen. Der Professor zeigt auf das riesige Bild hinter sich. Ich dachte, das wär eine rot gestrichene Wand. Es ist ein Bild. Rot. Nur rot. Ohne Rahmen.

Der Professor sagt: „Sehen Sie hier, diese Sinfonie in rot! Nicht, dass dieses Werk so tituliert wäre, nein nein, van den Rhein benennt seine Werke niemals, er will dem Betrachter keine Interpretations- und Assoziationsmöglichkeiten vorweg nehmen…“

Was gibt’s an einem Stück roter Wand zu interpretieren? Und zu assoziieren? Rot. Blut. Wein. Wintermantel. Das fällt mir spontan ein, egal, ob mit oder ohne Titel. Der Professor sagt: „Van den Rhein favorisiert durch diffuse Verteilung der Farbe irritierende Spiegelungen…“ Da spiegelt sich nichts. Wie denn auch, die Farbe ist matt. „Er verzichtet hier bewusst auf figurative Darstellung und lässt Farbigkeit, Struktur und Fläche autonom wirken.“ Also rot ist rot und außer rot sehe ich gar nichts. Der Professor sagt: „Rot ist nicht gleich rot, oh nein!“ Nicht? „...rot lebt hier in Variationen, die das menschliche Auge zunächst kaum wahrnimmt …“ Das ist ja oberschlau! Der sagt, da ist was zu sehen, das kannst du nicht sehen. So was kennt man doch schon. Des Kaisers neue Kleider.

„… aber dann provoziert die Wärme die Farbigkeit der Emotionen…“ Ich sehe gleich rot, wenn ich mir weiter solchen Kokolores anhören muss. Das Bild ist ein Witz. Man kann es auch falsch rum aufhängen, kein Mensch würde das merken.

Wie viel kostet so ein Schinken? „Tamara, gib mir bitte mal den Katalog.“

Das ist es: dreihundert mal dreihundert Zentimeter, Acryl auf Leinwand, rotes Bild, eins bis vierundzwanzig. Der hat vierundzwanzig Mal immer dasselbe Bild gemalt? Und jedes Bild kostet zehntausend Euro? Das gibt’s doch nicht.

Ob ich auch malen soll? Kann ja nicht so schwer sein. Rot kann ich auch.

Der Professor sagt: „Van den Rhein inszeniert seine Farben pathetisch, sie korrespondieren in ihrer Formulierung und irritieren unsere Sehgewohnheiten…“ Da hat er Recht. Wenn ich lange hingucke, tun mir die Augen weh.

Der Professor sagt: „Van den Rheins Rot ist eine Art dramatischer Befindlichkeit, ist Liebesrausch, ist Blutrünstigkeit, ist Warnung und Mahnung, in der das Banale, das Triviale seine Balance im undefinierten Raum artikuliert.“ Das hab ich jetzt nicht verstanden. Der mit dem Kaiser-Wilhelm-Bart neben mir hat einen Lachkrampf. Weiß der auch nicht, was der Professor gemeint hat? Oder hab ich einen Witz nicht verstanden? Die anderen lachen auch? Was habe ich denn verpasst?

Jetzt klatschen alle, die Einführung in das Werk ist, Gott sei Dank, zu Ende. Was soll das denn?

Jetzt geht der Kaiser-Wilhelm-Bart ans Rednerpult? Was sagt er da? „Ich habe noch niemals ein Bild interpretiert, schon gar nicht meine eigenen.“

Das gibt’s doch gar nicht! Ich hab die ganze Zeit neben dem Künstler gesessen. Klar, dass er bei dem Gesülze einen Lachkrampf kriegte. Wenn er seine eigenen Bilder nie interpretiert.

Ob er eins verkauft? Wer kann sich so einen Riesenschinken in rot in die Wohnung hängen? Ich werde mir den Katalog mit nach Hause nehmen. Und vorher frag ich Herrn Bodo Maximus van den Rhein, ob er mir ein Autogramm vorne draufschreibt. Vielleicht schreibt er ja „für Maria“. Immerhin haben wir schon mal zusammen gelacht. Der Katalog passt farblich sehr gut auf das kleine Tischchen im Flur.