Westfälisches Begräbnis

Ich mag keine Beerdigungen, aber manchmal muss man einfach mitgehen. Heute habe ich sogar meinen letzten Urlaubstag geopfert. Dabei war Onkel Willi nicht mal mein richtiger Onkel, sondern nur angeheiratete Verwandtschaft. Wäre er ein Verwandter ersten Grades gewesen, hätte ich einen Tag Sonderurlaub bekommen.

Vielleicht sind wir ja früh fertig, dann hab ich wenigstens noch was von meinem freien Nachmittag und kann endlich das Wohnzimmerfenster putzen.

Ich weiß nicht, warum hier alle heulen, Onkel Willi war neunundsiebzig. Das ist ein schönes Alter. Heulen muss ich nicht, obwohl es traurig ist, dass er nicht mehr da ist. Man darf bei aller Trauer aber auch nicht vergessen, was für ein Ekel er sein konnte.

Hermann Düker zum Beispiel hatte ständig Streit mit ihm. Wegen der hohen Tannen auf Onkel Willis Grundstück hat Hermann Onkel Willi mal verklagt. Weil die Tannen bei Dükers im Wintergarten die Abendsonne verdeckten. Die Tannen mussten weg. Aber Onkel Willi hat sich fürchterlich gerächt und dem Düker monatelang Päckchen von Beate Uhse schicken lassen. Keiner weiß, was in den Päckchen drin war, aber man kann sich das ja denken. Das war ein Theater! Geschrei am Jägerzaun, Waschpulver im Gartenteich, abgeschnittene Narzissen im Vorgarten und Hundescheiße in einer brennenden Zeitung vor der Haustür. Dükers Hermann hatte natürlich versucht, draufzutrampeln, um sie löschen. Das hätte ich zu gerne gesehen. Anzeigen, Gegenanzeigen. Die ganze Nachbarschaft hat sich amüsiert. Nur Frau Düker fand das nicht lustig. Sie ist dann später nach Gütersloh zu ihren Kindern gezogen. Und heute heult der alte Düker bei Willis Begräbnis, als wäre sein bester Freund gestorben. Ob er seine rote Nase vom Saufen oder vom Heulen hat?

Neben ihm sitzt Edgar Pieper, der feiert jede Beerdigung mit. „Wenn irgendwo ein Fell versoffen wird, ist Edgar dabei“, hat Eva Hansmeier im Lottoladen gestern gesagt.

Was es wohl nachher zu essen gibt? Die werden hoffentlich Vormittags keinen Platenkuchen servieren. Platenkuchen ist was für nachmittags.

Jetzt ist es halb zwölf, in einer halben Stunde müssten wir in der Kapelle mit allem durch sein, dann kommt der Trauerzug zum Grab und dann ab zum Imbiss im Sachsenkrug. So steht’s in der Einladung.

Gut, dass ich letzte Woche beim Friseur war, sonst hätt ich das gestern noch machen müssen. Dass Beerdigungen aber auch immer so kurzfristig stattfinden. Wer wohl den Sarg bezahlt hat?

Eiche mit Messing hat Onkel Willi gekriegt. Teuer, so was. Obwohl sich das eigentlich nicht lohnt. Ich hab gelesen, dass Eiche nach drei Jahren verrottet ist. Bei Kiefer geht es schneller. Aber: Tot ist tot und Onkel Willi es jetzt egal.

Wenn ich mal sterbe, reicht mir Kiefer. So schlecht ist helles Holz nicht. Allerdings: Die Leute würden lästern und sagen, ich könnte mir Eiche nicht leisten. Vielleicht gehe ich vorher gucken, was gut aussieht und bezahlbar ist. Haben Beerdigungsunternehmen eigentlich Prospekte? Im Briefkasten hatte ich noch nie Werbung von Bestattern. Auch komisch. Gestorben wird doch jeden Tag, da gibt’s keine Hochsaison wie zum Beispiel bei Gartenmöbeln oder Grillkohle.

Kann man eigentlich ins Testament schreiben, welche Blumen man bei der letzten Feier haben will? Ich finde gelbe Rosen am schönsten.

Das war bei Tante Friedchen damals so nett: Wir haben gelbe Rosen ins Grab geworfen, die Kapelle war gelb dekoriert, der Sarg auch.

Hier hätten sie die Schleifen ruhig ordentlicher drapieren können. Wie sieht denn das aus. Ganz vorne der Kranz ist von der Feuerwehr. Da war Onkel Willi Ehrenoberst. „In ewigem Gedenken“ steht auf der einen Schleife und auf der anderen „Deine Kameraden“. Schön. Der mickrige Kranz daneben ist vom RGZV. Rassegeflügelzüchterverein. Ist ja beim Sammeln nicht viel zusammengekommen. Wo ist mein Gesteck? Das haben sie ganz hinten hingestellt. Also wirklich. Ich nehme immer Gestecke, keine Kränze. Gestecke halten länger und machen sich auch später noch gut, wenn der Hügel glatt geharkt ist.

Die Kapelle ist brechend voll. Sozusagen ausverkauftes Haus. Onkel Willi war ja auch ein netter Kerl. Wo ist der Kranz vom Schützenverein? Onkel Willi war zweimal König. Ein paar von den Schießbrüdern sitzen vorne, aber viele sind es nicht. Die sterben auch aus. Warm ist es. Das liegt an den vielen Menschen. Oder haben die etwa die Kapelle geheizt? Dann wird es teuer, denn wer stirbt, muss bezahlen, jede Kerze, jedes Wort vom Pastor und auf Wunsch auch Kapellenheizung.

Endlich geht die Predigt los. Bin gespannt, was der Pastor über ihn sagt. Gekannt haben werden sie sich nur aus der Wirtschaft, in der Kirche hab ich Onkel Willi jedenfalls nie gesehen. Nicht mal Weihnachten. „Unser lieber Freund Willi Schröder ist von uns gegangen.“

Da hat er Recht, da gibt’s keinen Zweifel. Da vorne liegt er in seiner Kiste. Ob sie ihn im Kittel begraben haben? Er trug immer diesen grauen Kittel. Oder haben sie ihm extra für heute einen Anzug angezogen? Wäre schade drum, den guten Anzug hätte man in die Kleidersammlung geben können, dann hätt noch einer was davon gehabt. Wenn Onkel Willi ihn heute anhat, ist der Anzug mit weg.

Wer jammert denn da vorne so laut? Nächstes Mal setze ich mich weiter vorne hin. Allerdings kann man hinten besser sehen, wer da ist. Und an den Schultern sieht man, ob einer richtig weint. Wenn die Schultern zucken, ist das echtes Heulen. Wenn einer nur mit dem Taschentuch an den Augen rumtupft, ist es gespielt.

Wer zahlt heute eigentlich? Onkel Willi hatte bestimmt eine Lebensversicherung. Aber wer kriegt die? Einer muss erben und die Veranstaltung hier finanzieren. Bin gespannt, wer da absahnt. Müsste man beim Trauerzug sehen können: Wer am dichtesten hinter dem Sarg hergeht, muss Verwandtschaft sein.

Endlich, gleich können wir raus. Ich kann nicht mehr sitzen. Vielleicht sollte man anregen, dass die Bänke in der Friedhofskapelle Polster bekommen? Die alten Leute, die oft zu Begräbnissen gehen müssen, würden sich freuen, wenn sie es gemütlicher hätten.

„Tach, Frau Obermeier, wie geht’s? Ja, wirklich traurig. Und so früh. Neunundsiebzig ist doch heutzutage kein Alter mehr. Nein, ich weiß auch nicht, wer jetzt sein Haus übernimmt. Da muss viel dran gemacht werden. Wer das erbt, wird ordentlich was reinstecken müssen. Sehen wir uns nicht mehr beim Essen? Schade. Na denn, schönen Tag noch, Frau Obermeier.“

Dass sie auf diesem Friedhof immer noch Kieswege haben! Ich ruiniere mir die Absätze. In Minden haben sie Asphalt, das ist besser für die Schuhe und knirscht beim Gehen nicht so laut. Ganz schön lange Schlange, hundert Leute sind das sicher. Erde werfe ich aber nicht rein! Dafür kannte ich Onkel Willi doch nicht gut genug. Bin gespannt, wer an der Grube heult.

Liegt drüben nicht Trude Stühmeier? Ja, das ist das Familiengrab. Ach, hat sie’s schön.

Weiße Erika, Koniferen und Buchsbaum. Und gepflegt. So eine Grabbepflanzung kostet ein Vermögen. Stühmeiers lassen das bestimmt vom Gärtner machen, die ham‘s ja. Wenn sie Pech haben, fressen ihnen die Kaninchen alles ab. Hab ich selber schon erlebt: Frische Blumen, ordentlich gepflanzt, und nach ein paar Tagen standen nur noch die Stängel. Mensch, hab ich mich geärgert. Seitdem hab ich bei Mutter Efeu gesetzt, das ist immer ordentlich und man muss auch nicht so oft zum Schneiden hingehen.

Wie sieht denn der Grabstein von Dreschmeiers aus! Alles grün vermoost, das kann man doch so nicht lassen! Ich will später gar keinen Stein. Wenn sich keiner um mein Grab kümmert und alles verwildert ist, sollen die Leute gar nicht wissen, dass ich da liege.

Hier also wird Onkel Willi ewig ruhen. Schönes Plätzchen, da hat er Morgensonne. Und in guter Gesellschaft ist er auch, so nah neben der Frau vom Bürgermeister.

Wer ist die Frau mit dem Schleier vorm Gesicht? Kenn ich nicht. Schleier. Was soll denn das? Wir sind hier nicht beim Fernsehen.

Viertel nach zwölf, wir haben ganz schön überzogen. Ob die im Sachsenkrug mit dem Essen warten?

„Tach, Frau Niedermeier. Ja, schön hat er es hier. Nein, ich weiß nicht, wer die Frau mit dem Schleier ist. Uneheliche Tochter? Willi? Sagen Sie bloß. Ach, und die erbt? Jaja, wir reden beim Essen, bis gleich.“

Ob diese angebliche Tochter in sein Haus einzieht? Oder ob sie es verkauft? Solche Leute denken doch nur pekuniär. Mit Schleier…

Langsam könnt ich nen Schnaps vertragen, es ist frisch. Ich brauch für Beerdigungen unbedingt mal eine wärmere Jacke. Aber wenn die Leute im Sommer sterben, weiß ich auch nie, was ich anziehen soll. Aaamen. Ich glaube, ich trinke nachher zwei Schnäpse, durchgefroren, wie ich jetzt bin. Auf Onkel Willis Wohl. Das hätte er so gewollt.