Kein Testament

Ich habe mich erkältet. Das ist nicht weiter tragisch, ich nehme nachher ein Kamille-Dampfbad und reibe mir die Brust mit Tigerbalsam ein, dann trinke ich Fencheltee mit Honig und schlafe mich so richtig aus. Meine Mutter sagte immer: „Schnupfen dauert mit Medikamenten neun Tage und ohne anderthalb Wochen.“ Eben. Also Augen zu und durch. Nicht so wie Manni, der starb immer gleich tausend Tode. Aus jedem Wehwehchen machte er ein Riesendrama, typisch Mann. Wenn die Männer Kinder kriegen müssten, würden sie schon an den Schmerzen der Vorwehen sterben. Von den Presswehen wollen wir gar nicht reden.

Manni lachte mich aus, als ich ihm das mal sagte, aber als ich erklärte, dass ein Kindskopf so groß ist wie eine Melone und bei uns durch diesen engen Ausgang gepresst werden muss, grinste er.

Aber als ich sagte, er sollte sich doch mal im Detail vorstellen, er müsste eine Melone scheißen, da war er sofort ruhig.

Wenn Manni morgens um sechs Uhr zweiundzwanzig noch in seinem Bett lag, anstatt wie jeden Tag pünktlich um diese Zeit auf dem Klo zu sitzen, ahnte ich schon, was los war. Wenn er nasal und langgezogen rief: „Mariiia!“, wusste ich sofort Bescheid. Ich bin bestimmt eine liebevolle und geduldige Krankenschwester, aber nur, wenn einer wirklich krank ist und nicht nur so tut, um mein Mitleid zu bekommen.

Einmal hatte Manni sich im Hochsommer erkältet. Es war an einem Samstag. Schon morgens hatten wir über zwanzig Grad. Ich konnte durch die Schlafzimmertür sehen, dass er in seinem blauen Streifen-Schlafanzug vor dem Spiegel der Frisiertoilette stand und sich die Zunge rausstreckte. Seinen Unterkiefer drückte er mit dem Zeigefinger nach unten, dabei hatte er die Augen weit aufgerissen und versuchte offensichtlich, sich seine Lungenflügel durch den Rachen anzugucken. Ich hab so getan, als hätte ich ihn nicht gesehen und bin wieder in die Küche gegangen.

Als er dann rief: „Mariiia!“ und ich rüber zum Schlafzimmer lief, lag er wieder im Bett und hatte sich die Decke bis an die Nase hochgezogen. Ich wurde aggressiv, als ich seine Stimme hörte, er klang so leidend. „Ich bin krank, Maria, ich hab Fieber. Hohes Fieber. Aber das Thermometer ist kaputt, es zeigt nicht richtig an, nur Sechsunddreißignull, das kann nicht stimmen. Du musst unbedingt ein Neues kaufen.“ Super, oder? Woher wollte er wissen, dass er hohes Fieber hatte, wenn das Thermometer kaputt war? „Weil ich es eben weiß“, sagte er in einem Ton wie ein bockiger Dreijähriger. „Ich kenne schließlich meinen Körper.“ Oh ja. Den kannte ich auch.

Als ich ihn kennen lernte, den Körper, war er braungebrannt, groß und schlank, mit langen Beinen, breiten Schultern und einem knackigen Po. Groß war er natürlich immer noch, man schrumpft ja erst richtig im Alter, nicht in dem Mittelalter, in dem wir jetzt sind.

Aber Mannis Haut war später weiß und fahl, erging seit Jahren nicht mehr in die Sonne. Sein Hintern war schlaff und welk und steckte immer noch in Boxershorts Größe fünf. Das ging, weil er sich irgendwann entschieden hatte, seinen Bauch über der Hose zu tragen. Ich ging aus dem Zimmer, weil ich Brötchen holen und auf einem Weg aus der Apotheke das neue Fieberthermometer mitbringen wollte. Ich hörte ihn rufen: „Mariiiaaa, sei so lieb und bring mir Taschentücher mit, ich hab ganz schreckliche Absonderungen der Nasenschleimhaut“. Ich dachte, ich hör nicht richtig, aber freundlich wie ich bin, holte ihm vier Pakete Tempos und schmiss sie aufs Bett.

„Ob ich mir Tee koche?“

Ich wusste genau, was das hieß, denn diese Frage war keine Frage. Ich zischte ihn an: „Koch dir Tee, besser ist das!“

„Aber wenn ich wirklich hohes Fieber habe und jetzt aufstehe, dann krieg ich vielleicht eine Lungenentzündung.“ Dieses wehleidige Weichei!

„Möchten der Herr Kamille oder Pfefferminz?“ Und, siehe da, jetzt näselte er nicht mehr: „Ich möchte schwarzen Tee mit frischem Zitronensaft. Aber brüh ihn in der Tasse auf und leg einen Teller drauf, damit er nicht so schnell kalt wird.“

„Liiiebling“ – ich kann das zuckersüß sagen, auch wenn ich sauer bin, also sagte ich „Liiiebling, kann ich noch was für dich tun, du armes Mäuschen?“ Ich solle mit ihm nicht reden wie mit einem Baby, sagte er. Er hätte wahrscheinlich eine schlimme Stirnhöhlenvereiterung und ich sollte das bitteschön ernst nehmen.

Dann nahm er ein Taschentuch, rotzte trompetend hinein und beguckte sich das Ergebnis genau und lange und mit schief gelegtem Kopf. Sein Augenaufschlag war filmreif, als er sagte: „Hier. Guck dir das an. Grünlich gelb. Zähe Konsistenz. Was bedeutet das?“

„Das bedeutet, dass Du ein Schwein bist“, kreischte ich und hatte Angst, dass ich mir das Taschentuch wirklich aus der Nähe ansehen musste. Ich hab die Tür zugeknallt und wollte Brötchen holen gehen. Ich war vor der Haustür, als mir etwas einfiel. Es war so eine Ahnung, und ich hatte Recht. Ich sah Manni durch das Badezimmerfenster vor dem Spiegel stehen.

Direkt neben der Haustür kann man prima ins Bad gucken, wenn man auf Zehenspitzen steht. Unser Postbote hatte mich mal darauf aufmerksam gemacht.

Manni stand vor dem Waschbecken und war mit dem Gesicht ganz dicht vor dem Alibert. Er hatte sich das Unterlid mit dem Mittelfinger runter gezogen, prüfte wieder seinen Rachen, tastete den Hals ab und sagte mit aufgerissenem Mund „Aaaah“ zu seinem Spiegelbild. Jetzt mit nacktem Oberkörper. Manni hatte inzwischen eine richtige Fettschürze. Ich hatte lange nicht drauf geachtet, wie er nackig aussieht.

Braucht man nach so langen Ehejahren auch nicht mehr. Sein Dingens konnte Manni ganz sicher nicht mehr sehen, wenn er normal grade stand. Naja, egal, da gab’s sowieso nicht besonders viel zu sehen. An die statistischen siebzehnkommafünf Zentimeter des deutschen Durchschnittsmannes kam er auch im wildesten Liebesrausch nicht ran.

(Das hab ich jetzt geschätzt, nicht gemessen.)

Als ich mit den Brötchen und dem neuen Thermometer zurückkam, lag Manni wieder im Bett und hatte sich bis an die Nasenspitze zugedeckt. Ich sah Schweißperlen auf seiner Stirn. Kein Wunder, es war eine Affenhitze und die Sonne schien direkt auf sein Bett. „Decke weg und umdrehen“, sagte ich.

Ich wusste natürlich schon vorher, dass er sich zieren würde, Männer sind ja immer sehr eigen mit ihren Hintern. Manni krakeelte, rektal messen sei nicht möglich, denn ihm täte alles, aber auch wirklich alles weh. Wenn ich verstünde, was er meinte. Ich verstand.

Er maß unter dem Arm und ich blieb auf der Bettkante sitzen. Damit er das Thermometer nicht warm reiben konnte, man kennt ja diese Tricks. Ich nahm es ihm sofort unter der Achsel weg, als es piepte.

Er hatte siebenunddreißig fünf. Er keifte: „Siehst du. Ich wusste, dass es steigt, ich wusste es doch.“ Jetzt reichte es mir. „Kein Wunder, dass du glühst, bei der Hitze, unter der warmen Steppdecke. Dir ist doch echt nicht mehr zu helfen.“ Er sah mich entsetzt an, mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen. „Wie meinst du das, Maria?“ sagte er heiser. Na warte. Ich ließ ihn zappeln. „Maria! Was verheimlichst du mir? Was meinst du damit, dass mir nicht zu helfen ist?“ Ich ging einfach aus dem Zimmer, ließ aber die Tür einen Spalt offen und beobachtete ihn vom Flur aus.

Er drehte den Rücken zur Tür und deckte sich wieder bis oben hin zu. Keine Ahnung, wozu das alles gut sein sollte. Er hatte kein Fieber und ein bisschen Schnupfen. Kein Grund für so ein Theater, oder? Ich wollte ihn heilen, ein für alle Mal.

Das Telefon stand im Flur. Ich wählte die Nummer von Dr. Kutscher. Der alte Arzt machte auch am Wochenende Hausbesuche, heutzutage eine Seltenheit.

„Hallo, Herr Doktor, Maria Jesse hier. Tut mir leid, wenn ich Sie am Wochenende störe, aber es handelt sich um einen Notfall. Mein Mann…“ Den Rest flüsterte ich. Dr. Kutscher verstand die Lage sofort, er kannte Manni seit Jahren. „Ja, Herr Doktor, das ist früh genug. Vielen Dank, dann bis nachher.“ Ich legte auf, lauschte einen Moment und hörte die Sprungfedern quietschen.

Ich kannte Manni gut genug um zu wissen, dass er aufrecht im Bett gesessen und mit Dumbo-Ohren gelauscht hatte.

Im Schlafzimmer roch es nach ungeputzten Zähnen, verbrauchter Luft und Achselschweiß. Ich sah ihn an. Er war wirklich blass um die Nase und sein Blick flackerte. „Mit wem hast du telefoniert?“ „Das hast du doch gehört, mit dem Arzt. So schlecht wie es dir geht, hatte ich keine andere Wahl, oder?“ Jetzt wurde er rot.

Dann sagte ich: „Tja. Was muss, das muss.“

Er schnappte nach Luft. Ich zog die Augenbrauen hoch, besser gesagt, nur die linke, das hatte ich geübt und ich wusste, dass es streng und klug aussah. Dann blickte ich wortlos aus dem Fenster und tat nachdenklich.

Zwei Stunden später klingelte es und Dr. Kutscher war endlich da. Wir flüsterten im Flur und ich war froh, dass der alte Herr sofort wusste, was zu tun war. Er untersuchte Manni sehr sorgfältig. Er hörte die Brust ab, ließ ihn ein- und ausatmen, legte das Stethoskop auf dem Rücken an, tastete hinter den Ohren und unter den Armen nach den Lymphknoten. Dann musste Manni sich auf die Bettkante setzen und Dr. Kutscher prüfte mit einem kleinen Hämmerchen an Mannis Knie die Reflexe. Einwandfrei. Er fühlte den Puls, ließ sich die Zunge zeigen und Manni langgezogen „A“ sagen. Langsam und umständlich packte der Doktor dann seine Sachen in die Tasche zurück. Manni hatte totale Panik in den Augen. Hach, hab ich das genossen.

Er strich die Bettdecke glatt und nestelte nach einem Taschentuch. Er schnäuzte sich umständlich und laut. Nachdem er sich geräuspert hatte, sagte Manni: „Und? Herr Doktor, bitte sagen Sie mir die Wahrheit. Ich bin stark, ich kann alles ertragen, aber die Wahrheit muss es sein.“

Dr. Kutscher ließ sich mit der Antwort wirklich Zeit. Manni schwitzte. „Nun, mein lieber Herr Jesse.“ Pause. Mannis Lippe zitterte. Er senkte den Kopf, so richtig schön in sein Schicksal ergeben. Ich konnte sehen, dass er langsam eine Glatze bekam, eine klassische Tonsur würde das eines Tages sein. Sonst sah ich das nicht, weil er größer ist als ich. Manni hauchte: „Bitte, Herr Doktor!“ Er flehte richtig. Wunderbar. „Sie haben eine akute Rhinitis, mein Lieber“, sagte der Arzt. „Und … was … heißt das?“ „Schnupfen. Herr Jesse, Sie haben Schnupfen.