Lesung im Hochzeitszimmer

Immerhin sind ungefähr dreißig Leute gekommen. Das ist gar nicht schlecht fürs erste Mal. Wir sind im Hochzeitszimmer in Niedermeiers Hof. Hier feiern sie auch Beerdigungen, Taufen und Konfirmationen. An den Wänden hängen kleine Geweihe und große Strohblumensträuße. Die Einrichtung ist aus Eiche.

Tante Grete und ich sitzen auf einer Eckbank am Fenster. Es ist noch ein bisschen unruhig. Füße scharren, leise Gespräche, Räuspern, Thekengeräusche aus der Bierstube nebenan. Wir warten darauf, dass die Lesung endlich beginnt.

Nicht jeden Tag sind Schriftsteller in unserem Ort, das ist hier etwas Besonderes. Deshalb konnte ich auch Tante Grete überreden, mitzukommen. Sie geht eigentlich nicht zu Lesungen.

„Ach Kind, da versteh ich doch nix von“, sagt sie normalerweise, wenn man ihr mit Kultur kommt. Aber ich habe sie beruhigt: „Es kommen zwei Autoren aus Niederbecksen-Mitte, die sind noch nicht berühmt und deshalb dichten sie bestimmt noch ganz normal.“

Ich habe Tante Grete den Zeitungsartikel aus dem Westfälischen Tagblatt gezeigt: „Gedanken und Geschichten von Karl-Ludwig Brandofen und Gert Höckenschnieder“ Es stand auch ein Bild der Dichter in der Zeitung. Ich schätze, die sind so ungefähr in meinem Alter. Das kann man sich doch mal anhören. Kost‘ ja nix.

Da. Das ist einer der Künstler. Erkenne ich sofort am Bart und der Nickelbrille auf der Nasenspitze. Brille tragen die Intellektuellen ja alle. Und das muss der andere Autor sein.

Meine Güte, der hat ja ne Pelzjacke an. Bei dem Wetter. Plötzlich ist es ruhig im Saal. Am Tisch neben uns sitzen die Krügers mit ihren drei Kindern. Die machen dauernd auf Kultur. Alle Kinder gehen aufs Gymnasium. Als hätten wir nicht schon genug arbeitslose Akademiker.

Es kommen noch zwei Nachzügler. Setzen sich auf die letzen beiden freien Plätze. Ich kenne die Leute nicht. Aus dem Ort sind die jedenfalls nicht.

Die Dichter haben sich in die beiden Clubsessel neben der Stehlampe gesetzt. Einer rechts, einer links, in der Mitte die Lampe mit plissierten Pergamentschirm. Was das wohl für‘n Pelz ist? Tante Grete tippt auf Kaninchen, aber ich denke, es ist eher Bisamwamme. „Bisam ist Ratte, und Wamme ist Bauch!“, sagt Tante Grete. Oh. Rattenbauch. Dann ist es wohl doch Kaninchenfell, ich kann mir nicht vorstellen, dass ein richtiger Dichter Ratte trägt.

Jetzt geht‘s los. Die Schriftsteller sind aufgestanden und die Leute klatschen. Ich klatsche erst nach der Lesung. Woll‘n wir erst mal sehen, ob die überhaupt Applaus verdienen. Jetzt sitzt der eine wieder. Der mit dem Rattenpelz. Der mit der Nickelbrille steht und wischt sich die Hände an der Hosennaht ab. Aha, sind wir ein bisschen nervös?

„Liebe Gäste“, sagt er mit leicht schnarrender Stimme.Dann hält er eine Rede über die Dichtung. Im Allgemeinen. Nach zehn Minuten geht er auf die Dichtung im Besonderen ein. Erzählt von Leuten, die ich nicht kenne. Die Namen Dehmel und Benn habe ich mitbekommen, eine Frau Kirsche oder so ähnlich sei auch ganz berühmt und sein Vorbild ist irgendein Araber. Den Namen habe ich nicht verstanden, er kommt jedenfalls aus dem Diwan. Westöstlicher Diwan.

(Und ich dachte immer, ein Diwan sei ein Sofa und kein Land.)

Jetzt steht Rattenträger auf. Im gleichen Moment setzt sich Nickelbrille. Ich muss lachen, wie die Stehaufmännchen. Rattenträger räuspert sich und sagt: „Wir beginnen.“

Alle klatschen. Ich nicht. Er schiebt sich die Pelzärmel hoch und breitet die Arme aus. Ist wohl doch zu warm.

„WIR BEGINNEN“, schreit er so laut, dass Tante Grete neben mir zusammenzuckt. Dann holt er tief Luft und flüstert: „Einen jeden Tag, als seien wir von Sinnen.“

In diesem Moment springt Nickelbrille auf und Rattenträger setzt sich hin. Nickelbrille schreit:

„WIR BEENDEN!“, dann wispert er: „Einen jeden Abend mit Feuer in den Lenden.“ Setzt sich.

Rattenträger springt wieder hoch, Nickelbrille setzt sich. „Feuer in den Lenden!“, prustet eins von den Krügerkindern los und kriegt einen Lachkrampf. Böse Blicke in Richtung Krügers, so geht man doch nicht mit Kultur um! Frau Krüger legt den Zeigefinger an die Lippen, das Kind soll ruhig sein, kann es aber nicht, es lacht und lacht. Frau Krüger muss selber lachen, kann sich aber zusammenreißen. Gott sei Dank. Wo kommen wir hin, wenn jeder lacht, wenn‘s gar nicht lustig ist. Die beiden Stehaufmännchen springen weiter abwechselnd auf und ab. Aber jetzt schreien sie nicht mehr, jetzt reden sie normal. Der, der steht, sagt einen Satz und setzt sich, dann steht der andere auf und sagt einen Satz, der sich auf den vorigen reimt. Das ist schon Kunst. Ich könnte das jedenfalls nicht.

Jetzt kommt Musik. Nickelbrille kündigt an: „Wir freuen uns nun auf die beiden Schülerinnen der Erich-Kästner-Gesamtschule: Lara-Apollonia Gerdsmeier, vierzehn Jahre alt, Gesang, und Jule-Alexis Brömmel, dreizehn Jahre alt, Blockflöte.“ Eins der Krügerkinder lacht schon wieder: „Jule mit Blödflöte“, sagt der Kleine. Ich gucke ihn streng an und schüttele den Kopf. So was sagt man nicht. Der Bengel reagiert nicht. Arrogantes Pack.

Ach, die Musik kenne ich, das ist ein Stück von den Beatles. „Hey Jude, lalala ...“ Klingt mit Flöte aber ziemlich blutarm. Und die Sängerin quiekt ein bisschen. Na ja, sind ja noch Kinder. Diesmal klatsche ich auch. Man darf den Kleinen nicht den Mut nehmen. Wer weiß, was aus denen mal wird. Vielleicht sind sie eines Tages so berühmt wie André Rieu oder Wolfgang Petri und dann kann man sagen: „Die hab ich schon als Kind gekannt.“ Jetzt sind wieder die Stehaufmännchen an der Reihe.

Hinten links sitzt eine Frau im hellen Kostüm. Sie hat den Kopf schief gelegt und die Augen geschlossen. Meine Güte, die wird doch nicht eingeschlafen sein? Ach nein, jetzt klatscht sie. Ein Gedicht ist zu Ende. Das nächste beginnt. Die Frau im Kostüm schließt wieder die Augen. Ach so, sie konzentriert sich. Ich versuche das auch und komme mir bescheuert vor. Also gucke ich wieder hin. Nickelbrille ist an der Reihe. Er liest aus einem grünen Heft vor.

„Wir bohren einen Tunnel durch die Zeit.

Und schwimmen Sonne.

Atmen Hauch.

Die Mutter schreit.

Die Höhe zweifelt noch.“

Das verstehe ich nicht, es reimt sich ja nicht mal. Außerdem fehlen Wörter in den Sätzen. Schwimmen Sonne, atmen Hauch. Was soll denn das bedeuten? Und welche Mutter schreit und warum? So ein Quatsch. Das Gedicht ist zu Ende. Die Leute klatschen. Einer ruft: „Bravo!“ Bravo? Ob das Kunst war? Ich klatsche vorsichtshalber auch. „Wir machen zwanzig Minuten Pause“, sagen Rattenträger und Nickelbrille im Chor. Die Leute gehen rüber in die Bierstube.

„Ich hol mir erst mal ein schönes Pils“, sagt einer. So ein Prolet. Ich bestelle mir Rotwein. Ich finde, das gehört bei Lesungen dazu. Auch wenn die Gedichte komisch sind. Während ich auf den Wein warte, beobachte ich die Leute.

Die beiden Künstler stehen an einem Tisch, auf dem viele Bücher aufgestapelt sind. Rattenträger hat eine Geldkassette aus blauem Metall vor sich. Einige der Gäste versammeln sich drum herum und blättern in den Werken. Ich nehme meinen Wein, schlendere hinüber, das will ich mir auch ansehen.

Komische Bücher! Sehen aus wie selbst gebastelt. Die Krügers haben natürlich gleich drei gekauft. Ich sehe, dass sie sich von den Künstlern Autogramme reinschreiben lassen. So ein Quatsch. Was hat man denn davon, wenn einer seinen Wilhelm da reinschreibt? Und nicht mal in Schönschrift, man kann das gar nicht lesen. Schön sind die Bücher schon, alle in flaschengrün und auf allen steht drauf: EDITION HÖCKENSCHNIEDER & BRANDOFEN. Aber richtige Bücher sind das eigentlich gar nicht, sehen aus wie geheftete Din-A-vier-Blätter. Sind nicht mal Taschenbücher. Meine Konsaliks habe ich alle als Taschenbücher gekauft, die sind nicht so teuer und man kann sie im Bett besser halten. Ich schaue eins aus der Edition Höckenschnieder und Brandofen genauer an. Es hat den Titel: OHR-GASMI-SCHE SKIZZEN. Ach du grüne Neune! Und: Orgasmus wird doch nicht mit H geschrieben! Ach so, die meinen das Ohr, „ohrgasmisch“, jetzt verstehe ich, das ist gar nicht so doof.

Achtundzwanzigneunzig! Das ist unverschämt teuer, quasi sechsundfünfzig Mark, denke ich und sage das auch zu Rattenträger. Der schaut mich milde lächelnd an und sagt:

„Aber ich bitte Sie, all diese Werke sind handgefertigte Unikate, durchnummeriert und handsigniert. Und das Papier, sehen Sie hier, das Papier, es hat eine ganz besondere Qualität, weil es je nach Lichteinfall diese fantastischen Strukturen schimmern lässt.“

Ich sage: „Wenn ich für ein geheftetes Büchlein achtundzwanzigneunzig bezahlen soll, dann will ich mindestens vergoldete Heftklammern darin haben.“ Rattenträger guckt beleidigt und sagt: „Vielleicht ist dieses Buch mit unseren Fotoarbeiten eher interessant für Sie?“ Er schiebt mir ein rotes Fotoalbum hin. EINGÜSSE steht in Goldschrift drauf. Ich schlage es auf.

Großaufnahme: Aus einer Packung fließt Milch in ein Glas. Nächste Seite: Aus einer Kanne fließt Kaffee in eine Tasse. Nächste Seite: Aus einer Flasche fließt Bier in ein Glas. Ich schaue Rattenträger verständnislos an. Er lächelt und sagt:

„Eingüsse! Auch die banalen, nur vordergründig irrelevanten Details in unserem Alltag formulieren in ihrem täglichen Gebrauch eine gewisse Poesie, die wir mit diesen Fotografien konservieren wollten.“

Hä? Ich blättere weiter. Wasser aus Schlauch in Planschbecken. Limonade aus Flasche in Glas. Wasser aus Wasserhahn in Badewanne. Tee aus Kanne in Schale. Wein aus Karaffe in Glas. Schnaps aus Flasche in kleines Glas. Wasser aus Gießkanne in Blumenkasten. Also, das ist ja wohl nicht wahr!

Die haben einen Pinkelstrahl über einer Kloschüssel fotografiert! Ich schlage das Plastikfotoalbum entrüstet zu. „Fünfundsechzig Euro“ steht fett auf dem Preisschild auf der Rückseite. Ich schnappe nach Luft und starre Rattenträger an. Der hat gesehen, bei welchem Bild ich das Album zugeklappt habe. Er lächelt wieder und sagt: „Auch solche Eingüsse unterliegen biologischer Unerlässlichkeit, sind daher universell, weil ach so menschlich, und auch sie verdienen sehr wohl die uneingeschränkte Wachsamkeit des Publikums!“

Ich winke Tante Grete zu.

Ich will gehen, sie soll mitkommen. Sie greift eilig nach ihrer Handtasche, ich bin schon in der Tür. „Komm, Tante Grete“, rufe ich. „Das hier ist Abzockerei, das lasse ich mir nicht bieten. So ein Blödsinn.“ „Aber Kind“, sagt Tante Grete, „es hat ja nicht mal Eintritt gekostet, wir können doch noch bleiben. Ist jedenfalls besser als Fernsehen.“

Nein. Ich habe kein Mitleid. Ich gehe nach Hause. Und da lese ich meinen Konsalik.