Prolog

 

Custis hatte ungefähr eine halbe Stunde geschlafen, als ihn jemand an der Schulter berührte. Er dreht sich mit einer flüssigen Bewegung um und ergriff das Handgelenk. Mit der nächsten Bewegung stand er auf den Füßen und hatte dem Mädchen die Hand auf den Rücken gedreht. „Was gibt’s Süße?“ sagte er ruhig und drehte ihr den Arm gerade soweit herum, daß sie ihm den Kopf zudrehen konnte.

Das Mädchen war um die achtzehn oder zwanzig. Sie hatte ein blasses, knochiges Gesicht, und ihre Haare waren in Schulterhöhe grob abgeschnitten. Sie war dünn und reichte ihm gerade bis zur Schulter. Sie trug ein Männer-Armeehemd, das lose um ihren Oberkörper herumhing, und einen Rock, der aus ein paar Männerhosen gemacht war, die sie am Knie abgeschnitten und an den Nähten aufgetrennt hatte. Den überflüssigen Stoff hatte sie benutzt, um sich einen Keil einzunähen. Das Ganze war recht schlampig genäht und reichte bis kurz über ihre schmutzigen Waden.

„Ich hab’ dir was zu Essen gebracht, Soldat“, sagte sie.

„In Ordnung.“ Er ließ ihr Handgelenk los, und sie drehte sich ganz herum, um einen Topf Eintopf vor ihm hinzustellen. Ein hölzerner Löffel ragte daraus hervor. Custis setzte sich hin, verschränkte seine Beine und fing an zu essen.

Das Mädchen setzte sich neben ihn. „Langsam“, sagte sie. „Davon gehört mir die Hälfte.“

Custis brummte. „Hat dich der Kommandant mit dem hierhergeschickt?“ fragte er und gab ihr den Löffel.

Sie schüttelte den Kopf. „Der ist beschäftigt. Um die Tageszeit ist er immer beschäftigt. Da arbeitet er an seiner Flasche.“ Sie aß, ohne aufzusehen, mit ebenso großem Hunger wie Custis, und zwischen den Bissen redete sie.

Custis sah zu der Wache hinüber. Der Mann hatte sich neben sein leeres Eßgeschirr hingekauert und sah mit finsteren Blicken zu Custis und dem Mädchen hinüber.

„Ist das dein Freund?“ fragte Custis sie.

Sie sah kurz auf. „Könnte man sagen. Von uns gibt es sechs oder sieben. Wir gehören in keine Hütte. Hier gibt es ungefähr fünfzig Männer ohne Familien.“

Custis zuckte die Achseln. Er sah noch einmal zu der Wache hinüber, nickte und nahm dem Mädchen den Löffel wieder ab. „Der Kommandant hier – wie heißt der?“

„Eichler, Eisler oder so ähnlich. So nennt er sich jedenfalls. Ich war bei der letzten Gruppe, die er hier oben vor ein paar Jahren übernommen hat. Ich hab’ das nie richtig mitgekriegt. Wen juckt das schon? Namen gibt es viele. Er ist der einzige Kommandant, den wir haben.“

Das sagte ihm also nichts. „Wie heißt du denn?“

„Jody. Kommst du aus Chicago, Soldat?“

„Zur Zeit schon. Ich heiße Joe Custis. Warst du schon mal in Chicago?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich wurde hier geboren. Hab’ noch nie was anderes gesehen. Fährst du zurück nach Chicago, Joe? Mach nur weiter, iß es auf, ich bin satt.“

Custis sah die Felsen und Hütten um sich herum an. „Ich denke schon, daß ich vielleicht wieder von hier weggehe. Vielleicht fahre ich dann nach Chicago.“

„Weißt du das nicht?“

„Ist mir eigentlich ziemlich egal. Ich wohne da, wo mein Wagen gerade ist.“

„Magst du Städte nicht? Ich hab’ gehört, da gibt es alle möglichen Läden und ganze Lagerhäuser voller Kleider und Essen.“

„Wo hast du das gehört?“

„Manche von den Burschen hier kommen aus Chicago und Denver und ähnlichen Orten. Die haben mir davon erzählt. Aber Chicago hört sich am besten an.“

Custis brummte.

„In Denver war ich noch nie.“ Er aß den Eintopf zu Ende. „Gutes Essen habt ihr hier. Hast du das gekocht?“

Sie nickte. „Hast du einen großen Wagen? Mit noch Platz für Leute zum Mitfahren?“ Sie lehnte sich zurück, bis ihre Schulter die seine berührte.

Custis sah in den Topf. „Du bist eine ganz gute Köchin.“

„Mach’ ich gern. Stark bin ich auch. Ich habe keine Angst vor der Arbeit. Und wenn es sein muß, kann ich auch ganz gut schießen.“

Custis runzelte die Stirn. „Soll ich dich mit nach Chicago nehmen?“

Das Mädchen sagte einen Augenblick nichts. „Das liegt an dir.“

Sie lehnte sich immer noch gegen seine Schulter, blickte ihn aber nicht an.

Der Posten war immer wütender geworden. Nun stand er auf. „In Ordnung, Jody, du hast ihn abgefüttert. Verschwinde jetzt.“

Custis richtete sich langsam auf. Er drückte dabei mit zwei Fingern sanft das Mädchen hinunter und gab ihr zu verstehen, daß sie sitzen bleiben solle. Er sah mit einem beiläufigen Blick zu dem Posten hinüber und sprang ihn dann an. Er schlug mit ausgestreckten Händen kurz zu, und das Gewehr fiel zu Boden. Er schlug den Mann nieder, nahm mit derselben Bewegung das Gewehr auf und zog das Magazin heraus. Er zog den Verschluß zurück und fing die ausgeworfene Patrone in der Luft auf. Dann gab er das Ganze dem Posten zurück.

„Mach’ du deine Arbeit, dann mach’ ich dir keine Schwierigkeiten, Kleiner“, sagte er und ging zu dem Mädchen zurück, das sitzen geblieben war. Der Posten fluchte zwar, aber bis er sein Gewehr wieder geladen hatte, war ihm klargeworden, was Custis damit gemacht hatte. Wenn er nicht wollte, daß das Mädchen die Geschichte im ganzen Lager herumerzählte, tat er am besten daran, sich von jetzt an ruhig zu verhalten, und das tat er auch.

Das Mädchen sah Custis von der Seite an, als er sich wieder hinsetzte. „Bist du immer so schnell?“

„Wenn ich damit Schwierigkeiten aus dem Weg gehen kann, schon.“

„Du bist ein komischer Vogel, weißt du das? Wie kommt es eigentlich, daß du um die Augen herum so schwarz verschmierte Haut hast?“

„Gummi, von meiner Brille. Ist zum Teil unter der Haut. Kann man nicht wegwaschen.“

„Dann trägst du aber die Brille schon ganz schön lange.“

„Seit ich groß genug bin, meinem Vater zu helfen. Er hatte selbst ein Fahrzeug – Vollkette. Hat er gefunden, als er in einem alten Fort der U.S.-Armee herumstöberte. Fort Knox hieß es. Das ist schon lange her, noch bevor alles rausgeholt wurde. Da hat er sich den Panzer genommen und ist losgefahren, um Leute zu suchen. Eines kam zum anderen, und später hat er dann für andere Leute Aufträge übernommen. Wo meine Mutter sich aufhält, weiß ich nicht einmal, wahrscheinlich lebt sie gar nicht mehr. Meine frühesten Erinnerungen haben schon damit zu tun, daß ich mit meinem Vater in dem Panzer war.

Das war kein schlechter Panzer. Nur zu langsam. Auf der Straße, meine ich. So haben sie uns einmal in einer Stadt erwischt. Das war ein Ort, der um die einzige heile Brücke herum besiedelt wurde, und wir mußten über diese Brücke. Da waren so ein paar Männer mit einer Bazooka – das ist ein Panzerabwehrraketen-Werfer – am Ende von der Stadt. Die hatten sich hinter einem Haufen Beton verschanzt. Wir haben auf sie geschossen, aber der Panzer hatte nur eine 35-Millimeter-Kanone. Hochgeschwindigkeitsgeschosse – da wird das Rohr wahnsinnig schnell abgenutzt. Es war dann auch praktisch schon hinüber. Wir haben dauernd daneben geschossen, und die anderen haben dauernd versucht, die Bazooka abzufeuern. Sie müssen etwa zehn Raketen gehabt haben, doch die erwiesen sich Stück um Stück als Blindgänger. Als dann endlich eine losging, detonierte sie nicht, als sie uns traf. Sie durchschlug zwar die Panzerung, gelangte ins Innere, und der Zündmechanismus wurde ausgelöst, aber die Ladung ging nicht hoch. Von dem Zünder hat es so einen Qualm gegeben, daß wir nichts mehr gesehen haben. Mein Vater fuhr damals, und ich hörte, wie er versuchte, auf der Straße zu bleiben. Dann ging etwas schief mit einer Kette, vielleicht haben sie uns aber auch mit einer anderen Rakete erwischt – jedenfalls sind wir immer im Kreis herumgefahren und schließlich umgekippt.

Also, ich bin dann herausgekrochen. Der Panzer befand sich zwischen mir und den Männern mit der Bazooka. Dann kroch mein Vater ebenfalls heraus. Wir hatten beide etwas abgekriegt, aber die Beine waren noch in Ordnung. In der Zwischenzeit haben die mit dem Gewehr losgeballert. Vater und ich hatten beide nur Fünfundvierziger. Ich habe mir dann überlegt, daß das einzige, was wir noch machen konnten, war, wegzulaufen, und das sagte ich ihm auch. Er meinte, das beste sei, wenn wir uns trennten, sonst würden sie uns beide erwischen. Das sah ich nicht ein, zumal man nicht wissen konnte, wann wir uns wieder treffen würden, wenn wir uns einmal getrennt hatten. Da setzte er plötzlich einen seltsamen Gesichtsausdruck auf, stieß mich weg und rannte los. ‚Daß du mich ja nicht verschwendest!’ brüllte er mir zu und schoß auf die Männer. Ich habe sie später beide erwischt.“

„Dein Vater muß ein merkwürdiger Mensch gewesen sein.“

Custis zuckte die Achseln. Er saß mit dem Mädchen den ganzen Nachmittag zusammen und unterhielt sich, bis schließlich ein anderer Schütze von der Hüttenreihe zu ihnen hinüber kam.

Er sah zu Custis und dem Mädchen herab. Sein Blick zuckte einmal zwischen den beiden hin und her, und dabei ließ er es bewenden. „Dieser Henley, der Bursche, den du mitgebracht hast – der will dich sprechen.“

„Was hat er denn für Schmerzen?“

„Ich hab’ mir gedacht, das ist sein Bier. Seine Armbanduhr hat er mir gegeben, damit ich dich holen komme. Hab’ ich hiermit wohl gemacht.“

Der Mann war ein haariger Kleiderschrank – größer als Custis. Als Custis jedoch mit verärgertem Gesicht in einer flüssigen Bewegung aufsprang, trat der Mann mit dem Gewehr einen Schritt zurück. Custis sah ihn erstaunt an. Das passierte ihm oft, und zwar stets im Umgang mit den am finstersten aussehenden Menschen. Er verstand das nicht so recht.

„Bis später“, sagte er zu dem Mädchen und machte sich auf den Weg.

 

Als Custis eintrat, lief Henley unruhig in der Hütte auf und ab. Er zuckte nervös mit dem Mund. „Es wird aber auch Zeit, daß Sie kommen. Ich habe Sie beobachtet, wie Sie dort draußen mit dem Mädchen geschäkert haben.“

„Kommen Sie zur Sache, Henley. Warum haben Sie mich kommen lassen?“

„Warum ich Sie kommen lassen habe! Warum sind Sie nicht sofort hierhergekommen, sobald der Kommandant mit Ihnen fertig war? Wir müssen doch Pläne machen – die Sache hier durchdenken. Wir müssen uns darüber klarwerden, was wir machen, wenn sich unsere Lage hier verschlechtert. Ist Ihnen eigentlich noch nicht die Idee gekommen, daß dieser Mann Pläne haben könnte, mit uns alles mögliche anzustellen?“

Custis zuckte die Achseln. „Ich habe keinen Sinn und Zweck darin gesehen, mich damit verrückt zu machen. Wenn er sich zu irgend etwas entschlossen hat, dann merken wir es schon. Es hat doch gar keinen Sinn, wenn wir Pläne machen, solange wir nicht seine kennen.“

Henley starrte ihn ärgerlich an. „Ist Ihnen das egal? Ist es Ihnen egal, wenn Sie umgebracht werden?“

„Natürlich nicht. Aber darüber hätte man sich schon unten in der Ebene Gedanken machen müssen.“

„Genau, und die Entscheidung ist Ihnen leichtgefallen, oder?“ Er sah Custis starr an. „War nicht besonders schwer für Sie, unser aller Leben aufs Spiel zu setzen.“ Seine Augen verengten sich zu Schlitzen.

„Es sei denn – Sie wissen irgend etwas, Custis. Kein Mensch, der seine fünf Sinne beieinander hat, hätte sich so wie Sie verhalten, es sei denn, Sie wußten, daß Sie nicht in Gefahr sind.“

„Das ist eine miserable Richtung, in der Sie da denken.“

„Wirklich? Sie sind hier hochgefahren wie jemand, der heimkehrt. Was weiß ich denn schon von Ihnen? Ein ungebundener Panzerkommandant, der aus dem gleichen Teil der Ebene kommt wie die Banditen. Ich weiß, daß Sie schon mehrmals für Chicago gearbeitet haben, aber was heißt das schon?“ Custis konnte förmlich riechen, wie der Offizier sich mit Hysterie vollsog. „Sie haben uns verkauft, Custis! Ich kann einfach nicht verstehen, wie Chicago Ihnen jemals vertrauen konnte!“

„Hat man aber wohl, sonst hätte man mir den Auftrag nicht gegeben.“

Henley kaute auf seiner Unterlippe. „Ich weiß nicht so recht.“ Er machte eine Pause und murmelte etwas in sich hinein. „Es gibt Leute, die meine Stellung wollen. Die haben vielleicht das Ganze hier eingefädelt, um mich loszuwerden.“

„Sie haben sie ja nicht alle, Henley.“

Custis dachte, daß Henley ihm noch vor ein paar Jahren leid getan hätte. Er hatte jedoch in der Zwischenzeit eine ganze Menge Leute durchdrehen sehen, die gedacht hatten, sie würden umgebracht werden. Auf diese Art waren mehr umgekommen als nötig war. Viele hätten überlebt, wenn sie ihre Gedanken klar gehalten hätten. Das schien angeboren zu sein. Custis hatte nie so reagiert, und er fragte sich, ob mit ihm vielleicht etwas nicht stimmte. Wie auch immer, Custis hatte herausgefunden, daß es keinen Sinn hatte, so oder so darüber zu denken. Es war einfach etwas, das manche Leute taten, und wenn man es merkte, stellte man sich darauf ein.

Plötzlich sagte Henley: „Custis – wenn wir hier herauskommen, dann fahr mich nicht zurück nach Chicago.“ Er duzte ihn.

„Was?“

„Nein, jetzt hör mal zu – wenn wir ohne Berendtsen zurückkommen, dann bringen sie uns um. Vielleicht auch, wenn wir mit ihm zurückkommen. Wir gehen einfach woanders hin. Wir können uns doch vom Land ernähren, Bauernhöfe überfallen. Nimm mich in deine Mannschaft auf. Ist mir egal – ich lerne MG-Schießen, oder was du willst. Aber nach Chicago können wir nicht zurückkehren.“

„Dich würde ich nicht in meiner Mannschaft haben wollen – selbst wenn ich ganz allein fahren und alle MGs selbst bedienen müßte.“

„Ist das deine endgültige Entscheidung?“ Henleys Lippen zitterten.

„Da kannst du Gift drauf nehmen!“

„Du meinst wohl, du hast auf alles eine Antwort!“

Custis knurrte: „Nimm dich zusammen.“

Und Henley schaffte es tatsächlich. Er wartete einen Augenblick, aber dann hörte er auf, rastlos herumzulaufen, und fuhr sich mit der Hand über den Kopf, um sein verschwitztes Haar zu glätten. „Ich komme hier schon raus. Paß nur auf – ich komme hier raus, und dann lasse ich dich erschießen.“

Custis schüttelte seinen Kopf und sagte langsam: „Hör mal zu, ich will hier genauso herauskommen wie du. Ich denke, ich schaffe es vielleicht auch. Wenn ich es schaffe, dann versuche ich, dich mitzunehmen, weil ich dich hier reingebracht habe. Wenn du aber den Streß nicht aushältst, dann hättest du gar nicht erst herkommen sollen.“

„Deine Reden kannst du dir sparen, Custis. Von jetzt an passe ich selbst auf mich auf. Erwarte ja keine Hilfe von mir.“

„Hallo, ihr zwei“, sagte der Gewehrträger an der Tür, „der Kommandant will mit euch sprechen.“

 

Hinter den Bergen ging die Sonne unter. Weiter oben auf der Westseite der Berge war noch helles Tageslicht, aber das Tal füllte sich mit Schatten. Custis folgte Henley an der Hüttenreihe entlang. Er fühlte sich in dem bedrückenden Halbdunkel am Fuß der Klippen leicht nervös und fragte sich, wie das alles enden würde.

Er beobachtete Henley. Der Offizier ging mit kurzen, abgehackten Schritten, und Custis konnte erkennen, daß er seine ganze Selbstkontrolle einsetzte. Sein Gesicht verlor den verzweifelten Ausdruck und nahm wieder eine zuversichtliche Miene an. Nur wenn man wußte, wohin man zu sehen hatte, konnte man noch die Panik in ihm erkennen, die ihn wie Kraftstoff antrieb.

Sie kamen zu der Hütte des Kommandanten.

„Kommen Sie rein“, sagte der Kommandant von seinem Tisch aus, und Custis war sich unschlüssig, ob er von seinem Hausgemachten betrunken war oder nicht. Die Hütte war innen so dunkel, daß er von dem alten Mann nur einen Schatten ohne Gesicht erkennen konnte. Es hätte fast jeder Beliebige sein können, der dort saß.

Custis spürte, wie sein Bauch sich verkrampfte. Henley hielt vor dem Tisch an, und Custis stellte sich neben ihn.

„Freut mich zu sehen, daß Sie noch da sind, Custis“, sagte der alte Mann. „Ich habe schon Angst gehabt, daß Sie bei einem Fluchtversuch umkommen.“

„Ich bin doch nicht verrückt.“

„Hab’ ich auch nicht angenommen.“

Henley unterbrach. „Sind Sie zu einem Entschluß gekommen, was Sie tun werden?“

Der Kommandant seufzte. „Warum wollen Sie Berendtsen eigentlich zurückhaben, Major?“

„Er ist also verfügbar?“

„Antworten Sie bitte auf meine Fragen. Wir ziehen das hier auf meine Art durch.“

Henley leckte sich die Lippen. Custis konnte das Geräusch deutlich hören. „Also“, sagte der politische Offizier schließlich mit Überredung in der Stimme, „seit er sich abgesetzt hat, gibt es keine Hoffnung auf Stabilität mehr. Regierungen kommen und gehen über Nacht. Eine Verfassung ist das Papier nicht wert, auf dem sie steht. Wir haben nie unter Berendtsens Herrschaftsbereich gestanden, aber seine Gesetze haben mehr Gültigkeit gehabt als die meisten anderen. So etwas brauchen wir in Chicago – der ganze obere Mittelwesten braucht so etwas.“ Jetzt, wo er einmal angefangen hatte, sprach er viel flüssiger. „Papiergeld ist nur Dreck, Kredit gibt es nirgendwo, und die Hälfte der Zeit hängt dein Lebensfaden an der Gnade der guten Laune deines Nachbarn. Wir haben keine Gesellschaft, wir haben einen dürftig organisierten Sauhaufen. Wir brauchen Berendtsen, wenn er noch lebt. Er ist der einzige, dem jeder mit Begeisterung folgen würde.“

„Man würde einer Leiche folgen?“

„Einem Namen folgen – einer Legende. Einer Legende von einer Zeit, in der es in der Welt noch eine Zivilisation gab.“

„Glauben Sie das wirklich, Henley?“

„Felsenfest!“

„Ach, Sie glauben, daß es funktionieren würde – Sie können sich vorstellen, daß eine Masse sich organisieren ließe, die daran glaubt. Aber es ist Ihnen doch wohl klar, das Berendtsen, wenn er Chicago übernehmen würde, als erstes Sie und Ihren Haufen aufhängen lassen würde.“

Henley versuchte es noch einmal. „Wirklich? Wenn wir diejenigen sind, die ihm die Möglichkeit gaben, zurückzukommen und zu Ende zu führen, was er angefangen hatte?“

„Ich glaube nicht, daß Ted Berendtsen eine derart selbstmörderische Dankbarkeit gezeigt hätte. Nein.“

„Sie wollen es also nicht machen?“

„Ich bin nicht Berendtsen.“

„Wer ist es denn dann? Wissen Sie, wo er ist?“

„Berendtsen ist seit dreißig Jahren tot“, sagte der alte Mann. „Was, um Himmels willen, haben Sie denn erwartet? Wenn er noch leben würde – was nicht der Fall ist –, wäre er jetzt sechzig Jahre alt. Ein Mann von diesem Alter, in dieser Welt – Ihr ganzer Plan ist phantastisch, Major, und jeder, der ein bißchen nachdenkt, der weiß das auch. Aber Sie wollen es selbst nicht gestatten nachzudenken. Sie brauchen Ihre Berendtsens viel zu dringend.“

„Das ist also Ihr letztes Wort?“

„Erst will ich Custis etwas fragen. Bleiben Sie hier und hören Sie zu. Das wird Sie interessieren.“

Custis runzelte die Stirn.

„Custis?“

„Ja?“

„Glauben Sie, daß ich Berendtsen bin?“

„Das haben Sie mich schon mal gefragt. Nein.“

„Also nicht. Aber glauben Sie, daß Berendtsen noch lebt?“

„Nein.“

„Verstehe. Sie glauben nicht, daß ich Berendtsen bin, und Sie glauben nicht, daß Berendtsen noch lebt – was machen Sie dann hier oben in den Bergen, möchte ich wissen. Was hatten Sie hier oben zu finden gehofft?“

Custis merkte, daß er ärgerlich wurde. Er hatte das Gefühl, als triebe ihn jemand in die Enge. „Vielleicht gar nichts. Vielleicht bin ich einfach nur ein Mann, der seine Arbeit macht, weil er dazu gezwungen ist, der überhaupt nicht irgend etwas oder irgendwen sucht. Nur ein Mann, der seine Arbeit macht.“

Der Kommandant gab ein humorloses Lachen von sich. Das Geräusch stach aus der wachsenden ‚Finsternis der Hütte nach Custis. „Es ist Zeit, daß wir aufhören, uns anzulügen, Joe. Du hast deinen Kampfwagen – dein ganzes Leben – in eine Position gebracht, in der du alles sofort verlieren kannst. Das weißt du, und ich weiß es auch, und die Diskussion von den Vorteilen von Staubgranaten gegenüber Napalm können wir uns sparen. Warum hast du dich auf ein solches Spiel eingelassen? Warum hast du uns den Köder vor die Nase gehalten? Wer, hattest du gehofft, würde danach schnappen?“

„Auf diese Art konnte ich schnell herausfinden, was Henley wissen wollte.“

„Und wie wolltest du hier wieder herauskommen, nachdem du einmal drinnen warst? Henley ist dir doch keine zwei Cents Papiergeld wert. Du bist der unabhängige Kommandant eines gepanzerten Fahrzeugs, der einen einfachen Auftrag ausführt; was soll also die ganze Mühe, die du dir gibst? Du wußtest doch sicherlich verdammt genau, daß dieser Auftrag nicht im Interesse der Siebten Republik sein konnte. Du bist ein Kind deiner Zeit. Wenn du dir die Zeit genommen hättest, ein bißchen nachzudenken, wäre dir doch klargeworden, was hier gespielt wird. Und die Achte Republik ist dir ebenfalls völlig gleichgültig. Ein Mann schwört nicht einer Zahl aus einer bedeutungslosen Reihe Gefolgschaft. Nein. Du wolltest einem Mann Gefolgschaft schwören, der seit dreißig Jahren tot ist. Streite es nur ab!“

Custis wußte keine Antwort. Draußen war es dunkel geworden. Er hatte den Faden bis zum Ende verfolgt, jenen, der mit dem Kommandanten und ihm zu tun hatte.

„Du möchtest, daß ich dir erkläre, ich sei Berendtsen, nicht wahr?“

„Vielleicht“, gab Custis zögernd zu.

Wieder lachte der Kommandant – ein harsches, bitteres Krächzen, das Custis die Haare zu Berge stehen ließ. Henley atmete schwer in der Dunkelheit.

„Du und Henley, ihr seid beide elende Spinner. Was würdest du denn anfangen mit deinem Berendtsen, Joe? Hier oben in den Bergen mit ihm zusammen verhungern – mit einem alten Mann. Was würdest du denn von ihm erwarten, wenn du ihn finden würdest? Glaubst du, er würde hingehen und eine neue Welt für dich aufbauen? Das hat er ja einmal versucht. Vielleicht hat er ja auch Erfolg gehabt, wenn die Menschen hoffen können, bloß weil er gelebt hat.

Aber was könnte er denn jetzt machen als alter Mann? Seine Art Leben, das ist nur etwas für einen jungen Mann – wenn es überhaupt für jemanden etwas ist.

Du, Joe – du bist ein anderes Kaliber als der Schakal, der dort neben dir steht. Was hast du denn geglaubt, womit Berendtsen angefangen hat? Was ist denn los mit dir, Custis? Du hast einen Kampfwagen und eine Mannschaft, die überall mit dir hingeht. Wozu brauchst du dann noch einen vorgefertigten Helden?“

Custis wußte keinerlei Antwort mehr.

„Mach dir keine Gedanken, Joe – Henley bekommt auch einiges zu hören. Ich kann förmlich die Rädchen in seinem Kopf arbeiten hören. Jetzt im Augenblick überlegt er sich, wie er dich verwenden kann. Er sieht es schon vor sich. Die ganze Maschinerie von Chicago stellt sich auf dich ein. Die Legende, die sie sorgfältig um dich herum aufbauen werden. Der unbezähmbar starke Amerikaner aus der Prärie. Das einzige, was du dabei zu tun hättest, wäre, oben auf der Tribüne zu stehen und zu brüllen, und seine Bande macht den Rest. Genau das denkt er jetzt. Aber um ihn brauchst du dir keine Gedanken machen. Mit ihm wirst du fertig. Das wird noch sehr lange dauern, bevor jemand wie du sich Gedanken um jemanden wie Henley machen muß – noch Jahre. Und ich kann mich hier hinsetzen und dir das alles erzählen, und Henley und Konsorten machen sich keine Gedanken darum, weil sie glauben, sie hätten immer alles im Griff. Wenn er sich natürlich der Legende von Joe Custis ganz sicher sein will, muß er ein für allemal klarstellen, daß Berendtsen nicht zurückkommt …“

Custis hörte das Geräusch von Stahl, der aus Henleys Stiefelschaft herausglitt. Er sprang dorthin, wo der Mann gestanden hatte, aber Henley hatte Minuten gehabt, um sich vorzubereiten. Custis hörte, wie er gegen den Tisch stieß, und dann das dünne Pfeifen seiner Klinge in der Luft.

Der Alte war sicher ausgewichen, dachte Custis. Zeit genug hatte er dafür gehabt. Er hörte das satte Geräusch von Henleys Dolch, und dann das dumpfe Geräusch, als das Heft den Widerstand von Fleisch überwand. Er hörte, wie der alte Kommandant seufzte.

Er blieb ohne Bewegung stehen und atmete mit offenem Mund, bis er hörte, wie Henley sich bewegte. Er griff ihn von unten an, unterhalb der Stelle, wo die Klinge stehen könnte. Als sein erster Schlag landete, flüsterte Henley: „Sei kein Narr! Mach kein Geräusch! Mit ein bißchen Glück können wir hier herausmarschieren!“

Er nahm Henley mit seinen bloßen Händen auseinander, ohne dabei ein Geräusch von sich oder Henley zuzulassen. Er ließ den Offizier zu Boden gleiten und glitt ohne einen Laut um den Tisch, wo er den Alten zusammengesunken vorfand. Er berührte seine Schulter. „Kommandant …“

„Schon in Ordnung“, seufzte der alte Mann. „Ich hab’ darauf gewartet.“ Er bewegte sich leicht. „Ich habe ein schreckliches Durcheinander hinterlassen. Er hat sich schneller entschlossen, als ich dachte.“ Er richtete sich auf, und seine gesprungenen Fingernägel kratzten an seinem Hemd entlang. „Ich weiß jetzt nicht … du mußt jetzt irgendwie ohne mich herauskommen. Ich kann dir nicht helfen. Warum bin ich nur so alt?“

„Das geht schon klar, Kommandant. Ich habe mir etwas überlegt. Ich komme schon durch.“

„Du wirst eine Waffe brauchen.“ Der Kommandant hob seinen Kopf und zog die Schultern zurück. „Hier.“ Er zerrte an seiner Brust und gab Custis ungeschickt das nasse Messer in die Hand.