Drittes Kapitel

 

Es war wieder Winter geworden. Sieben Jahre waren seit der Seuche vergangen. Zwischen den Stuyvesant-Gebäuden lag tiefer Dezemberschnee, der in der frostigen Nacht gefallen war. Manhattan erhob seine stumpfen Betonschultern, und hier und da unterbrachen schweigsame Gestalten ihre normalen Plünderungsaktionen und kletterten die rostigen Rolltreppen zu der Spielwarenabteilung hoch.

Eine Gesandtschaft vom nächsten Haus traf zu einem vorsichtigen Gespräch mit Matt Garvin und Gus Berendtsen auf dem zugigen Spielplatz ein.

Garvin beobachtete den Anführer der Gesandtschaft sorgfältig. Er war ein fetter, kleinäugiger, älterer Mann, der sicher auch vor der Seuche etwas dargestellt hatte, wie Garvin vermutete.

Matt wußte, daß es für seine Nervosität keinen konkreten Grund gab. Er hatte es aber nicht gern mit älteren Leuten zu tun. Man konnte nie wissen, wieviel Zeit zum Lernen sie gehabt hatten, und wie viele der kleinen Tricks aus der alten Zeit sie noch kannten.

Der Mann bot ihnen die Hand an und lächelte gewinnend. „Charlie Conner“, dröhnte er. „Wie es aussieht, bin ich für den Haufen da drüben verantwortlich“, sagte er geringschätzig und zeigte mit dem Daumen zu seinem eigenen Gebäude. Aber seine Begleiter, junge, raubtierhafte Gewehrschützen, ließen sie keinen Moment aus den Augen.

„Matt Garvin – und das ist Gus Berendtsen.“ Matt bemerkte, daß Gus sich Conner genau ansah, wie er jedes Mitglied jeder Familie angesehen hatte, die sie in den Wohnungen ihres Hauses angetroffen hatten. „Für unser Gebäude sind wir beide das gemeinsame.“

Conner grinste. „Es ist hart, nicht? Wie habt ihr es gemacht? Euch allmählich ausgebreitet und den Streß jedesmal wieder durchgestanden, wenn ihr mit einer neuen Familie Kontakt aufgenommen habt?“

„So ähnlich“, unterbrach Gus. „Komm zur Sache.“

Conner sah zur Seite. „Werdet nur nicht nervös“, meinte er beruhigend. „Ich habe mir nur gedacht, wo wir jetzt unsere Gebäude organisiert haben, sei es eigentlich an der Zeit, uns zusammenzutun. Je mehr Leute wir haben, desto besser haben wir die Sache unter Kontrolle. Worum es geht, ist, daß im eigenen Territorium die eigenen Regeln befolgt werden, hab’ ich recht? Keiner will sich alles von einem Querkopf verderben lassen. Man muß sich sicher sein, daß alles in Ordnung ist, solange die Regeln befolgt werden, hab’ ich recht? Man will sicher sein, daß die Familie geschützt ist, während man da draußen ist. Man will sicher sein, daß immer ein Nahrungsmittelvorrat da ist, hab’ ich recht? Also, je größer die Gemeinde ist, desto sicherer ist man, hab’ ich recht?“

Garvin nickte. „Genau.“

Garvin breitete seine Hände aus. „In Ordnung. Also, ich habe mein Haus ordentlich durchorganisiert. Ist ja wohl klar. War hier fünfzehn Jahre lang Bezirkskommandant. Habe jede Menge Erfahrung. Also, ich meine, daß ihr Burschen euer Haus ganz ordentlich in Schuß habt, aber es gibt da sicher noch ein oder zwei Sachen, die könnten noch besser sein. Also, hier bin ich. Meine Leute sind mit mir voll und ganz zufrieden. Hab’ ich recht, Jungs?“ fragte er seine Gewehrschützen.

„Klar, Boß.“

„Sie meinen, wir sollten uns euch anschließen?“

Conner lachte leise. „Also, hört mal, daß ich mich euch anschließe, das ist doch wohl nicht sehr wahrscheinlich, oder?“

Er lehnte sich lässig gegen das Schild, das im Asphalt des Spielplatzes steckte und dort von Matt und Gus entdeckt worden war. Auf ihm stand in ungelenken Buchstaben: „Trefft mich morgen hier, und wir können uns darüber unterhalten, ob wir uns zusammentun. – Charlie Conner.“

Gus und Matt sahen sich an. „Wir überlegen es uns.“

„Macht das“, sagte Conner. „Hört mal zu, ich weiß, daß ihr glaubt, ihr hättet das alles gut hingekriegt. Habt ihr auch, ganz ohne Zweifel. Aber jetzt seid ihr soweit, euch auf mehr als ein Haus auszubreiten. Und da müßt ihr euch überlegen, ob ihr jemanden mit mehr Erfahrung benötigt, um all das zu verwalten. Das ist doch eine einfache Rechnung. Ihr habt doch wohl nicht angenommen, daß ihr eine ganze Stadt verwalten könnt, oder? Ich meine, ihr wolltet doch wohl nicht einen von euch beiden als Kandidaten für das Bürgermeisteramt aufstellen, oder?“ Conner lachte herzhaft.

„Wir überlegen es uns“, wiederholte Gus. „Du hörst von uns.“

Conners Augen wurden schmal. „Wann?“

Matt sagte: „Wenn wir soweit sind.“

Conner sah die beiden nachdenklich an. „Haltet mich nicht zu lange hin.“

„Hast du Angst davor, daß du vorher an Altersschwäche stirbst?“ fragte Gus. Sie drehten sich um und gingen. Conner sah ihnen nach, fuhr herum und stolzierte zu seinem Gebäude zurück. Die Gewehrschützen der beiden Seiten warteten, bis alle drei verschwunden waren, und zogen sich dann vorsichtig zurück. Schließlich lag der Spielplatz wieder verlassen da.

In der Wohnung stellte Matt das Gewehr leise weg. „Also, jetzt wissen wir es“, sagte er. „Ich habe mir doch gleich gedacht, daß wir in letzter Zeit zu oft auf konkurrierende Plünderergruppen gestoßen sind. Die mußten doch von irgendwo in der Nähe kommen.“

„Was hältst du von Conner?“

„Ich meine, daß er mehr Leute als wir verloren hat, denn sonst hätte er die Dinge so weiterlaufen lassen, wie sie waren – das heißt, seine und unsere Leute hätten einander in Ruhe gelassen, falls wir nicht gerade Streit über eine bestimmte Beute miteinander bekommen hätten.“

„Also – was machen wir jetzt?“

„Ich denke, wir sind im Vorteil. Ich glaube, wir können es länger ohne ihn aushalten, als er ohne uns.“

„Und in der Zwischenzeit verlieren wir ständig Leute?“

Garvin sah ihn eindringlich an. „Nicht soviel wie er. Darauf kommt es an. Ihm tut es mehr weh als uns.“

„Erzähl das mal den Witwen.“

„Unseren Witwen muß ich gar nichts erzählen. Alles, was man heutzutage einer Frau versprechen kann, ist, daß ihr Mann so lange sicher ist, wie er zu Hause bleibt. Natürlich verhungern so alle beide und ihre Kinder auch.“

„Sieh mal, wenn wir uns mit Conner einigen, dann stirbt niemand.“

„So, da bist du dir sicher? Du bist sicher, daß das einzige, was Conner will, ist, der Hahn auf einem größeren Misthaufen zu sein? Er will nicht etwa zusätzliche Frauen oder mehr Essen für seine Leute. Er hat seine Revolvermänner auch nur dabei, weil er ihnen versprochen hat, daß sie jetzt bald neue Freunde zum Mau-Mau-Spielen bekommen.“

„Schon gut. Vielleicht. Sicher können wir nicht sein.“

„Wir brauchen überhaupt nicht sicher zu sein. Wir müssen nur irgendwie am Leben bleiben. Hör doch, Gus, ich sage doch gar nicht, daß wir Conner vergessen oder sein Angebot vergessen können. Ich sage nur, daß er sich in zwei oder drei Wochen nicht mehr so aufspielen wird. Wenn wir ein Geschäft mit ihm machen, dann will ich wenigstens eine reelle Chance, daß es ehrlich dabei zugeht. Die haben wir jetzt nicht.“

„Also warten wir.“

„Wir könnten vielleicht noch versuchen, in sein Haus einzudringen. Was meinst du, wie viele Witwen dabei für uns herauskommen?“

„Schon gut. Wir lassen es so laufen.“

Eine Woche später war das Schild auf dem Spielplatz durch ein anderes ersetzt worden, das folgende Nachricht trug:

 

ACHTUNG! Jedermann, der nicht Mitglied der East-Side-Gesellschaft für gegenseitigen Schutz ist (Vorsitzender: Charles Conner), wird hiermit zum Gesetzlosen erklärt und den zuständigen Behörden zur Aburteilung überstellt. Dieser Erlaß ergeht aufgrund der Verfügungsgewalt, die mir von der Demokratischen Partei des Staates New York, Vereinigte Staaten von Amerika, übertragen wurde.

Charles G. Conner

 

„Sonst noch was?“ sagte Matt Garvin.

 

Die kleine Gruppe von Männern kam vom Osten nach Stuyvesant zurück. Sie überquerte den Spielplatz und die Zufahrtswege zu den Höfen. Matt Garvin, der die Führung auf dem Rückmarsch übernommen hatte, schüttelte sich und schlug seinen dicken Kragen hoch, um seine Ohren zu schützen. Der Wind war schwach, gerade noch stark genug, um das leichte Knarren der Fußtritte im Schnee mit seinem Flüstern zu übertönen, aber die Männer und er waren den ganzen Nachmittag draußen gewesen, und langsam setzte sich die Kälte in ihren Knochen fest.

Er sah zu dem mondlosen Himmel hinauf und wünschte sich, daß ein paar Wolken am Himmel das schwache Licht der Sterne dämpfen würden.

Plötzlich erglänzte ein neuer Stern zwischen den Häusern zu gleißendem Licht.

„Ausschwärmen!“ rief er. Die Fallschirmleuchtkugel sank langsam zu Boden. Sie warf den Schatten eines jeden Mannes schwarz und gestochen scharf auf den weißen Schnee, und die ersten Gewehrschüsse peitschten in ihre Richtung.

Garvin stolperte hinter eines der Autos, das in dem nächsten Zufahrtsweg stand, und suchte Deckung. Seine Füße rutschten auf dem nassen Schnee. Der plötzliche Lichtblitz hatte ihn fast geblendet, aber trotzdem schlitterte er irgendwie in den Schutz des Bleches. Er prallte heftig gegen das kalte Metall. Reflexartig kniff er seine Augen zu. In seiner Netzhaut drehten sich feurige Räder, aber er zwang sich, die Augen wieder zu öffnen. Er zielte, so gut er konnte, um den Fallschirm der Leuchtkugel zu zerfetzen. Er schoß daneben, aber es war sowieso unwichtig, denn nach einem dreifachen Knall vom gegenüberliegenden Dach baumelten drei weitere Leuchtkugeln am Himmel und fielen langsam zu den Männern, die verzweifelt hin und her rannten, herab.

Er hockte neben dem Auto und fluchte. Immer wieder versuchte er, so gut wie vergeblich, in die Fenster zu schießen, wo die roten Funken glühten.

Seit dem Höhepunkt der Seuche hatte er ein solches Gewehrfeuer nicht mehr gehört. Das stetige Hämmern ließ nie ganz nach. Nach seiner Schätzung saßen dort oben mindestens dreißig Schützen, wenn nicht sogar mehr, und sie alle schossen ihre Magazine leer, so schnell sie konnten. Sie luden in Spitzengeschwindigkeit nach, verschossen ihre Munition in einer Schnelligkeit, die sich niemand mehr erlauben konnte.

Zu seiner Gruppe hatten zwölf Männer gehört, ihn selbst eingeschlossen. Drei von ihnen sah er im Schnee liegen. Zwei waren über ihren Gewehren zusammengebrochen, einfach nach vorn gekippt. Der dritte hatte möglicherweise einmal geschossen. Er hatte zumindest nach oben gesehen, denn sein Oberkörper war nach hinten gefallen. Sein Gewehr lag neben ihm, und sein Körper war mit abgeknickten Beinen im Schnee ausgestreckt. Die übrigen Männer hatten wohl irgendeine Deckung erreicht, denn im Hof bewegte sich nichts mehr. Die meisten schossen nicht einmal zurück, so daß selbst Garvin nicht erkennen konnte, wo sie waren.

Er fluchte ununterbrochen vor sich hin. Sie waren voll in die Falle gelaufen. Ein Mann war mit den Leuchtkugeln auf dem gegenüberliegenden Dach postiert gewesen, und er mußte nur noch die Szene beleuchten, nachdem er die Schatten von Garvins Gruppe ausgemacht hatte. Die Gewehrschützen hatten im Fenster gewartet.

Das Gewehrfeuer hörte plötzlich auf. Ein rauhes Lachen brach kurz aus Garvin hervor, als er den Grund erkannte. Die erste Leuchtkugel hatte fast den Boden erreicht. Die Männer in den Häusern sahen auf sie herunter und waren von ihr ebenso geblendet, wie er es gerade gewesen war.

„Ausbrechen!“

In dem Schnee war jetzt hastiges Rutschen und das Geräusch von rennenden Füßen zu hören, als die übrigen Männer hinter Büschen und Autos herausbrachen. Garvin suchte eine neue Deckung und hastete stockend über den Einfahrtsweg. Er sah jetzt einige der anderen Männer, die wie von einer Explosion fortgeschleuderte Trümmer neben ihm dahinschossen. In dem zitternden Licht und den schwankenden Schatten, die die flackernden Leuchtkugeln unter ihren Fallschirmen warfen, wirkten sie wie Gestalten aus einem Alptraum.

Er warf einen Blick über seine Schulter und hielt abrupt an. Einer seiner Männer war neben einer der Leichen stehengeblieben und versuchte, sie wegzuschleppen.

„Laß ihn liegen!“ rief Garvin. Die Leuchtkugel fiel in den Schnee und tauchte den Mann in ein scharfes Licht. „Weiter!“

Die drei restlichen Leuchtkugeln waren immer noch hoch oben in der Luft und sanken langsam nach unten. Sie befanden sich jetzt nur wenig unter der Höhe der Dächer, immer noch weit höher als die meisten Schützen. Der Mann zerrte noch einmal an der Leiche und gab es dann auf, aber er wurde immer noch von der Leuchtkugel auf dem Boden, die trotz des Schnees nicht verlöschte, sondern weiterbrannte, hell angestrahlt.

Der Mann rannte los. Garvin und die sieben anderen Männer, die in den komplizierten Schatten unsichtbar geworden waren, standen wortlos da und beobachteten ihn.

Als er schließlich niedergeschossen wurde, fluchte Garvin und ein weiterer Mann ein einziges Mal, fast im Chor. Dann glitten sie um eine Hausecke, hasteten über den letzten Hof und hinein in ihr eigenes Haus. Währenddessen senkten sich die drei restlichen Leuchtkugeln zu den vier Leichen herab, und von den Heckenschützen kam ein triumphierendes Grölen.

 

„So schlimm war es noch nie“, sagte Berendtsen mit steinernem Gesicht und kalten Augen. Er saß bei Garvin am Tisch des Wohnzimmers. „An Leuchtkugeln habe ich nie gedacht. Jetzt ist Schluß. Es geht hier nicht mehr darum, daß sie eine Konkurrenz beim Plündern sind. Sie schneiden uns die Zufahrtswege ab.“

Garvin nickte. „Wir hatten noch Glück; wenn sie nicht mit den Leuchtkugeln gepatzt hätten, wären es mehr als vier Opfer geworden.“ Er drehte sich in seinem Stuhl um und sah zu den anderen Männern im Wohnzimmer hinüber. Sie vertraten alle Familien in dem Haus. In ihren Gesichtern sah er, was er erwartet hatte: grimmige Konzentration, Ratlosigkeit und Angst, in unterschiedlicher Ausprägung, aber insgesamt durchaus gleichrangig. Ein Mundwinkel zuckte nach oben, als er sich wieder Gus zuwandte. Zwischen diesen Männern und den Heckenschützen gab es keine Unterschiedsmerkmale. Sie hatten in gewisser Weise Angst vor sich selbst. Sie hatten aber auch Grund dazu.

„Gut“, sagte Berendtsen rauh, „wir hatten Glück. Aber dabei können wir es nicht bewenden lassen. Das war doch nur ein Anfang. Wenn wir es so weiterlaufen lassen, dann hungern sie uns hier völlig aus.“

Garvin fragte die Männer: „Hat jemand einen Vorschlag?“

„Ich kapiere das nicht“, sagte einer von ihnen mit weinerlicher Stimme. „Wir haben die doch gar nicht gestört.“ Garvin setzte ihn in Gedanken auf die Liste der Ängstlichen.

„Erzähl keinen Mist, Howard!“ fiel einer der anderen Männer ein, bevor Garvin seine Ungeduld zeigen konnte. Matt erkannte ihn. Er hieß Jack Holland. Sein Vater war einer der Männer gewesen, die am Anfang des Angriffs niedergeschossen worden waren. Als Gewehr trug er ein abgegriffenes, angeschlagenes Spielzeug, das offensichtlich die zweit- oder drittbeste Waffe der Familie war. Es gelang ihm aber trotz seines jugendlichen Gesichts, das lächerliche Kleinkalibergewehr mit einer Aura des Todes zu umgeben. Garvin warf einen kurzen Blick auf Berendtsen.

Gus nickte mit der fast vollkommenen Verständigung, die zwischen den beiden Männern gewachsen war. Solange Holland für sie sprach, waren ihre Worte nicht notwendig.

„Wir sind hier in der Nachbarschaft die fetteste Beute“, sprach der Junge weiter. Seine Stimme und seine Augen wirkten älter als er selbst. „Außerdem hungern bei denen sicher etliche Frauen und Kinder, weil wir die ganzen Läden in der Umgebung ausräumen. Wir haben denen ganz schön was getan.“

Garvin nickte Berendtsen zu. Dem komplizierten Netz von Urteilen und Entscheidungen, das er in seinem Kopf geknüpft hatte, wurde ein neuer Faktor zugefügt. In ein paar Jahren würden sie einen weiteren guten Mann auf ihrer Seite haben.

Einen Augenblick verlor er sich in Gedanken über die Pläne, die nun in seinem Kopf soweit gediehen waren, aber in den letzten Jahren erst Stück für Stück hatten wachsen müssen. Die Zweite Republik, über die er immer noch lächelte, aber nicht mehr so breit wie früher, war gewachsen. Die Zeit, die nötig war, bis sie das ganze Haus umfaßte, hatte ihm und Gus die Erfahrung verliehen, mit mehr Menschen zusammenzuarbeiten und die ständig wachsenden Pflichten zu verteilen.

Es war seltsam, im Lichte der Vergangenheit für eine Zukunft zu planen. Aber es war eine gute Sache, zu planen, zu gestalten und zu hoffen, das Wissen zu haben, daß auch dann, wenn die Pläne von einem Augenblick zum anderen geändert werden mußten, weil unerwartete Probleme auftauchten, das eigentliche Ziel sich nie ändern würde.

Er unterbrach das Murmeln von Diskussionen, die sich zwischen den Männern entwickelt hatten. „Gut, Holland hat es auf einen Nenner gebracht. Wir sind eine durchorganisierte Gruppe mit einem systematischen Nachschubplan. Für uns ist das prima, für andere, die nicht zu uns gehören, weniger gut. Als es losging, haben wir alle erwartet, daß etwas passieren würde. Manche von uns haben vielleicht gedacht, die Schwierigkeiten, die wir mit Conner auf den letzten paar Plünderungszügen hatten, seien schon alles, was wir zu befürchten hätten. Wir hätten es besser wissen sollen, aber das ist jetzt nicht mehr wichtig. Jetzt haben wir sie, und keiner nimmt sie uns ab. Also noch einmal: Was machen wir jetzt?“

„Wir gehen da drüben rein und machen die Drecksäcke fertig“, knurrte jemand.

„Gehst du als erster?“ fuhr ihn ein zweiter an.

„Ganz genau, mein Junge“, meinte ein dritter. Wen er damit unterstützte, blieb zweifelhaft.

„Das habe ich mir gedacht.“ Berendtsen war aufgesprungen und überragte den Tisch ebenso, wie seine Stimme die Streitereien abbrach. Er wartete einen Augenblick, bis sich der letzte Mund, der sich gerade noch zum Sprechen geöffnet hatte, wieder geschlossen hatte. Mit vorgeschobenem Kinn ließ er seine finsteren Augen von Mann zu Mann schweifen. Garvin, der im Verlauf ihrer Freundschaft die tausend feinen Zeichen zu lesen gelernt hatte, konnte in der Haltung des großen Manns leichte Spuren von Belustigung erkennen. Vielleicht hatte auch er das seltsame Schauspiel genossen, das der Nicht-mehr-ganz-Unzivilisierte bietet, der vor dem Noch-Wilden Angst hat.

Aber die Männer sahen hastig auf Berendtsen, und nur ein paar von ihnen hatten ein listiges Glitzern im Auge.

„Ihr führt euch auf wie ein Haufen Mäuse, die vom Blitzlicht überrascht werden“, fuhr Gus fort. „Und erzählt mir jetzt bloß nicht, daß es genau dies ist, was euch passiert ist, denn zwischen uns und Mäusen sollte es eigentlich noch ein paar Unterschiede geben.“

Matt grinste breit, und auch bei einigen anderen Männern zuckte der Mund als Antwort. Berendtsen sprach weiter.

„Die Sache ist plötzlich ernst geworden, und so etwas haben wir noch nie erlebt. Es ist nicht damit zu vergleichen, wenn Leute an die Wand klopfen und einem sagen, daß das Gebäude organisiert wird. Die Leute dort drüben wohnen separat. Die können wir zu nichts zwingen.“

Er unterbrach sich, um seinen Blick noch einmal über die Männer wandern zu lassen. „Und wir gehen nicht dort drüben in das Haus hinein und erobern es Zimmer für Zimmer. Das würden die bei uns nicht schaffen. Und das würden wir bei denen nicht schaffen.

Wir können sie nicht fertigmachen, und sie können uns nicht fertigmachen. Aber wir können uns gegenseitig immer noch Stückchen um Stückchen abhacken und dabei langsam verhungern. Das liegt in der Natur der Sache, weil wir nicht zu gleicher Zeit auf Plünderungszüge gehen und einen Krieg führen können. Dort draußen gibt es eine Menge Leute, die genau aufpassen, so daß man eine starke Gruppe benötigt, wenn man die Nahrung nach Hause schaffen will.

Es gibt einen Ausweg: Wir können uns verbünden – wenn wir Conner dazu bringen können, daß er sich auf etwas einläßt, das weniger als Sklaverei für uns bedeutet. Das ist zwar nicht die schönste Vorstellung auf der Welt, aber einen anderen Weg, das zu erhalten, was wir haben, sehe ich nicht. Conner ist kein Edelmann. Er wird versuchen, es uns so schwer wie möglich zu machen. Aber vielleicht können wir uns irgendwie einigen. Ich meine, der Versuch wenigstens muß gemacht werden, weil wir sonst zuviel verlieren werden.“

Die Diskussion brach wieder aus, und Garvin setzte sich hin, bis sie sich totgelaufen hatte. Seiner Ansicht nach hatte Gus nicht recht. Was er sagte, bedeutete, daß jemand ein großes Risiko eingehen müßte, und das ging ihm gegen den Strich.

Aber er wußte keine andere Lösung. Matt hatte gehofft, daß sich im Lauf der Zeit etwas finden würde. Jetzt wußte er nicht, was er tun sollte, und ließ, wiederum instinktiv, jemand anders den ersten Schritt tun. Er sah über den Tisch zu Gus, der bei dem verdunkelten Fenster vor sich hin brütete, als sähe er die anderen Häuser draußen in der Nacht.

„Also, irgend etwas müssen wir tun.“ Jack Hollands Stimme erhob sich scharf über das Stimmengewirr. „Sonst werden wir als die Leute in die Geschichte eingehen, die beinahe etwas angefangen hätten, aber es dann doch nicht geschafft haben.“

„Die Geschichte ist mir scheißegal“, meinte ein anderer Mann. „Aber ich habe fünf Kinder, denen ich etwas zu essen geben möchte.“

Damit war die Sache wohl klar, dachte Garvin. Keiner von ihnen konnte es jedoch etwas anderes nennen als ein schlechtes Geschäft. Besonders Gus, und er, weil sie hinausgehen und mit Conner reden mußten.

 

„Es ist bald Weihnachten“, sagte Gus mit einer leisen, brütenden Stimme. Er und Garvin standen beim Fenster. Die Decken waren wieder abgenommen worden, weil die Männer fortgegangen waren und sie das Licht ausgeschaltet hatten. „Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen. Stuyvesant, du kleine Stadt, wie liegst du so still …“ Er schnaubte. „In hundert Jahren – da wird man wieder richtig Weihnachten feiern. Dann gibt es wieder Weihnachtsbäume und Lametta und Kerzen. Und ich hoffe, die Kinder spielen dann mit Spielzeugschleppern.“

„Für Jim habe ich einen Teddybär besorgt“, sagte Garvin. „Was hast du für Ted?“

Gus schnaubte wieder. „Was besorgt man für einen normalen Vierjährigen? Bücher mit vielen Bildern, weil Carol bald anfangen will, ihm das Lesen beizubringen. Einen kleinen Zug aus Holz … solche Sachen eben. Die sind für einen Vierjährigen richtig. Wenn er ein oder zwei Jahre älter ist, dann können wir anfangen, ihm zu erklären, warum die Bücher ohne Bedeutung sind und sein kleiner Zug eine Spielzeugnachbildung von etwas ist, das es nicht mehr gibt. Was man ihm dann schenkt, das ist die Frage, die mir Unbehagen bereitet.“

Auch Matt starrte mit stumpfen Augen auf die kalte Stadt. Berendtsens Stimmung übertrug sich auf ihn und beherrschte seine Laune.

Morgen würde es besser sein. Für irgend jemanden würde es immer morgen besser sein. Die schwierige Aufgabe bestand darin, dafür zu sorgen, daß dieser Jemand zu den eigenen Leuten gehörte.

Er hatte Jim und die einjährige Mary. Außerdem war sich Margaret fast sicher, daß sie wieder schwanger war. Gus und Carol hatten Ted.

Das Gewicht, das auf Berendtsens Schultern ruhte, drückte auch Garvin zu Boden.

„Glaubst du, es klappt?“ fragte Gus ausdruckslos.

„Man hat schon Pferde kotzen sehen“, antwortete Matt.

 

Die Morgendämmerung schimmerte durch das Gewebe der Decken, die vor Garvins Schlafzimmerfenster hingen. Er schüttelte den Kopf, um den letzten Rest Schläfrigkeit loszuwerden. Er glitt auf seiner Seite aus dem Bett und schüttelte sich.

„Der Ofen ist wieder ausgegangen, Liebling“, murmelte Margaret verschlafen unter den Decken hervor.

„Ich weiß. Wahrscheinlich habe ich wieder vergessen, ihn vor dem Schlafengehen zu bestücken. Schlaf weiter“, flüsterte er und zog sich hastig an. Sie drehte sich einmal um, lächelte und vergrub ihren Kopf wieder in dem Kissen. Als er sich seine Stiefel zuschnürte, war sie wieder eingeschlafen, und er lachte leise über ihr leichtes Schnarchen.

Bevor er in die Küche ging, um Rasierwasser zu erhitzen, sah er noch kurz nach den Kindern. In der Küche starrte er lange in die Flamme, bevor er den Topf aufsetzte. Dann ging er leise in das Badezimmer, noch immer nachdenklich. Er war mehr bemüht, Gedanken auszuweichen, als ihnen nachzuhängen. Er wusch und rasierte sich automatisch, aber mit ruhiger Hand. Er spülte die Toilette mit einer Schüssel Spülwasser aus, füllte den Ofen auf und zündete ihn an, aß sein Frühstück. Schließlich seufzte er, schob seinen Teller weg und stand auf. Er ging zu der groben Tür hinüber, die sie nach dem Durchbrechen der Wand eingesetzt hatten, und klopfte leicht daran.

„Ja, Matt“, antwortete Gus von drinnen. „Komm herein. Ich trinke gerade noch eine Tasse Kaffee.“

Matt ging hinein und setzte sich zu Berendtsen an den Tisch. Gus stutzte sich auf seine Ellbogen. Seinen Kopf hatte er tief in die Schultern gezogen. Die Tasse mit dem schwachen, fast gelblichen Kaffee hatte er mit beiden Händen umfaßt und hielt sie in der Höhe seines Kinns. Ab und zu hob er sie an seinen Mund, um daraus zu trinken. Sie saßen wortlos zusammen, bis Gus endlich die leere Tasse auf den Tisch stellte.

„Kalt heute“, sagte er.

„Ich wäre fast erfroren im Bett. Ich habe vergessen, den Ofen vollzupacken“, gab Matt zur Antwort.

Berendtsen seufzte tief. Er stand auf und nahm sein Gewehr in die Hand. Aus der Tasche seiner Windjacke zog er ein viereckiges Stück weißen Tuches und band es mit zwei Ecken an den Gewehrlauf.

„Hast du deins?“ fragte er.

„Drinnen.“ Matt senkte seinen Kopf zu der Wohnung. „Weiß Carol, was du machst?“

Berendtsen schüttelte den Kopf. „Margaret?“

„Nein.“

„Eigentlich hätten wir es ihnen erzählen sollen“, sagte Gus. „Ich hatte damit begonnen, es Carol zu sagen, aber ich konnte es dann doch nicht … Ich überlegte mir, daß es doch keinen Einfluß auf das haben würde, was passieren wird. Da kann sie so doch wenigstens noch eine Nacht gut schlafen, habe ich mir gedacht.“ Er lächelte dünn. „Habe kalte Füße gekriegt.“

Matt nickte. „So ist es.“ Er ging zu der Tür. „Ich auch. Na ja, bringen wir es hinter uns.“

Sie gingen durch Matts Apartment hinaus und überprüften die Positionen der anderen Männer an den Fenstern, von denen aus man das gegenüberliegende Gebäude unter Feuer nehmen konnte. Danach gingen die beiden Feiglinge hinaus in die Kälte.

 

Sie stellten sich mitten auf den Zufahrtsweg, der das andere Gebäude von ihrem trennte. Dort blieben sie stehen und sahen die kahle Außenwand empor.

Garvin wechselte mit Gus einen Blick. „Was machen wir jetzt?“ fragte er.

Berendtsen zuckte die Achseln. Er hielt sein Gewehr mit der weißen Fahne deutlicher nach oben. Matt tat das gleiche. Schließlich warf Gus seinen Kopf zurück und rief: „Hallo! Hallo, ihr dort drinnen!“

Das Echo erstarb langsam, aber nichts bewegte sich.

„Hallo! Conner! Wir wollen mit dir reden!“

Irgendwo in den Reihen von Glas mußte sich ein Fenster langsam geöffnet haben.

Jemand hinter ihnen, in ihrem eigenen Haus, schoß zuerst, aber das änderte nichts mehr. Es war nicht die Ursache, sondern ein verzweifelter Versuch, das Gewehrfeuer zu verhindern, das plötzlich aus einem halben Dutzend Fenstern hervorbrach.

Obwohl Matt halb befürchtet hatte, daß es so kommen würde, war es für ihn ein Schock, das Gewehrfeuer losbrechen zu sehen und zu spüren, wie plötzlich sein rechtes Bein unter ihm zusammenknickte. Er fiel auf dem Zufahrtsweg auf die Seite. Sein Kopf schlug gegen den Asphalt. Für einen verzweifelten Augenblick, der ihm verhängnisvoll lang erschien, war er völlig bewegungsunfähig. Als dann endlich das heftigere Feuer seiner eigenen Leute die feindlichen Schützen in die Deckung zurückzwang, konnte er endlich den Schutz eines Autos erreichen, indem er Gus’ toten Körper als Kugelfang benutzte und ihn vor sich herschob. Blutend und frierend blieb er dort bis zum Abend. Sein Blick ruhte unverwandt auf dem Gesicht des toten Berendtsen. Im Verlauf dieses langen Tages nahm sein Gesicht allmählich einen Ausdruck an, den es noch hatte, als seine Männer ihn endlich holen konnten, und dieser Ausdruck blieb in seinen Augen bis an sein Lebensende. Und immer wieder sollte dieser Ausdruck in seinem Gesicht aufflammen und die Menschen um ihn leiser sprechen lassen.

 

In seinem unruhigen Schlaf hörte Garvin die ganze Zeit das Schluchzen. Es wurde lauter, brach ab, wurde leiser und schien im Rhythmus dem fiebrigen Klopfen in seinen Adern zu folgen. Ab und zu, wenn er sich schüttelte oder seine Zähne zusammenbiß, um gegen den Schmerz in seinem Bein anzukämpfen, hörte er, wie Margaret versuchte, Carol zu trösten. Einmal brachte er selbst die Worte hervor: „Immer mit der Ruhe, Ted. Ich erkläre es dir später. Paß in der Zwischenzeit auf deine Mutter auf.“ Er sagte es zu einem verwirrten und verängstigten Kind. Vor allem jedoch konnte er dem Bild nicht entkommen, das sich in sein Gehirn eingegraben hatte, dem Bild von Gus’ hingestrecktem Körper …

Als er nach siebzehn Stunden wieder vollständig erwachte, hatte er den Schock überwunden. Sein Bein tat zwar noch weh, aber die Wunde war sauber geblieben, und Knochen waren nicht verletzt worden. Er setzte sich auf und sah sich um.

Margaret saß auf einem Stuhl neben seinem Bett und beobachtete ihn schweigend. Er nahm sie sanft bei der Hand. „Wo ist Carol?“

„Sie ist zu Hause und schläft. Mrs. Potter kümmert sich um sie. Ted ist bei Jimmy.“ Ihr Gesicht wirkte wie eingefroren, und ihr Ausdruck war nicht zu entziffern.

„Was hast du mit den Leuten vor?“ fragte sie.

Er sah sie fragend an. Seine Gedanken waren noch nicht ganz klar, so daß er nicht verstand, was sie meinte.

„Welche Leute?“

Sie hatte sich bis dahin unter eiserner Kontrolle gehalten. Jetzt aber brach es in charakteristischer Art aus ihr heraus.

„Diese Wilden!“ Ihr Gesicht war immer noch unbewegt. Nur ihre Lippen regten sich, aber ihre Stimme peitschte wie Klavierdraht, den man für eine Peitschenschnur benutzt. „Solche Leute sollten einfach nicht am Leben bleiben. Leute, die so etwas fertigbringen!“

Garvin holte tief Luft und ließ sie langsam aus sich heraussickern. Er schloß seine Augen einen Augenblick, als eine Welle von Schmerz von seinem Bein aus hochstieg. Was konnte er ihr sagen?

Daß Menschen nicht aus freiem Willen Wilde wurden? Sie hatte schon vergessen, was es für die Leute in der Gegend bedeutete, die sich nicht zusammengeschlossen hatten, mit bewaffneten Plünderergruppen in Konkurrenz zu treten.

Sein Kopf war jetzt klar geworden. Er hatte sich eine andere Lösung für das Problem Conner überlegt.

Er dachte an Margaret, aber auch an Carol und den jungen Ted, der in dieser Welt groß werden mußte und die Arbeit eines Mannes in ihr zu tun hatte, und er war froh, daß sein nächster Schritt so und nicht anders aussehen würde.

Er drückte Margarets Hand. „Ich kümmere mich darum“, sagte er düster.

 

Ungeschickt, von seinen Bandagen gehindert, rannte Garvin mit seinen Männern über den Zufahrtsweg. Der enge Zwischenraum zwischen den beiden Gebäuden dröhnte und hallte von dem Kugelhagel wider, der von den Gewehren der Feinde und der Wache ausging, die ihnen den Rücken deckte und Feuerschutz gab. Vor sich hörte er das unterbrochene und viel leichtere Feuer seiner Vorhut, die den Keller des feindlichen Hauses ausräumte. Er schwankte unter dem Gewicht der Dynamitstangen, die er und seine Männer in Säcken mitschleppten.

Holland, der neben ihm rannte, griff ihm unter den Arm. „Schaffst du es, Matt? Wir hätten das auch ohne dich geschafft.“

Garvin spuckte ein Lachen aus. „Ich muß es selbst zünden.“ Er rannte um die Hausecke und humpelte hastig zu dem Eingang, der zum Keller führte. Einige der Männer mußten dort schon dabei sein, die Ladungen an den Stützpfeilern und tragenden Wänden anzubringen.

 

Margaret starrte ihn ungläubig an. „Matt! All die Leute! Du hast all die Leute umgebracht, bloß weil ich gesagt habe …“

Er stand wortlos im Wohnzimmer. Seine Blicke verschwammen jedesmal, wenn ihn wieder eine neue Welle des Schmerzes überschwemmte. Seine Schultern hingen herab, und der leere Sack wurde von seiner Hand umklammert. Er rieb sich müde die Augen.

„Matt, du hättest nicht auf mich hören sollen. Ich war aufgeregt. Ich …“

Es wurde ihm klar, daß er schwankte, aber er versuchte nicht so sehr, sich zusammenzunehmen, wie er es getan hätte, wenn jemand von seinen Leuten dabeigewesen wäre.

„Ich habe es nicht getan, weil du irgend etwas gesagt hast“, versuchte er zu erklären. Die Worte verschwammen in seinem Mund. „Ich habe es getan, weil sonst nichts anderes übrigblieb. Ich mußte es befehlen und selbst dabei sein, weil ich die Verantwortung trage.“

„Du mußtest all diese Leute umbringen?“

„Weil es noch mehr gibt. Schau doch mal aus dem Fenster, aus irgendeinem Fenster, von dem aus du die Reste dieser Stadt sehen kannst, die Häuser, die noch stehen.“

„Nein, Matt, das kann ich nicht.“

„Wie du willst.“ Er ließ sich in einen Stuhl fallen und starrte auf den klebrigen Fleck auf seinem Hosenbein. In seiner Müdigkeit wünschte er, daß Gus derjenige gewesen wäre, der etwas hinter ihm stand, statt umgekehrt.

Wieder wurde es Nacht. Garvin stand an einem Fenster und sah hinaus.

„Heiliger Abend, Jack“, sagte er zu Holland, der ebenso hinaussah.

„Ja, Sir.“

Matt knurrte halb bedauernd: „Es kommt dir sinnlos vor, Jack, oder?“

Holland zögerte und runzelte unsicher die Stirn. „Ich weiß nicht so recht. Irgendwie weiß ich es schon, ich meine, es gab gute Gründe dafür. Aber trotzdem …“ Er sah schnell zu Garvin hinüber. Er fragte sich offensichtlich, ob es ratsam war, weiterzureden.

Garvin lachte wieder, dieses Mal unbeschwerter. „Ich freß dich schon nicht auf, bloß weil du mir sagen willst, daß du es nicht richtig findest, was wir gemacht haben. Das ist immer noch eine freie Republik.“ Er zeigte zu den dunklen Gebäuden hinüber, und sein Gesicht verzog sich vor Bedauern. „Da draußen ist es aber noch keine. Aber das ist das gleiche wie damals, als Gus und ich an die Wand bei deinem Vater geklopft haben, um ihm zu sagen, welche Wahl er hat – genauso wie Gus bei mir an die Wand geklopft hat. In der Nacht nach dem Hinterhalt hatte Gus unrecht. Er hatte recht, aber falsch war es trotzdem. Wir können sie dazu zwingen, es so zu machen, wie wir es uns vorstellen – indem wir lauter klopfen, als es Gus sich jemals vorgestellt hat.“ Er drehte sich um und legte Holland die Hand auf die Schulter.

„Du kümmerst dich vielleicht besser um die Wache unten, Jack.“

Er sah auf die mondbeschienenen Trümmer hinunter, die einmal das Nachbarhaus gewesen waren. Er konnte das Schild vor sich sehen, das auf dem Haufen von Backsteinen, Metall, Glas und Fleisch stehen würde: „Lernt eure Lektion – arbeitet mit! Matt Garvin, Präsident der Zweiten Freien Republik von Amerika.“

„Jawohl“, sagte Holland. Er drehte sich zum Gehen. „Und frohe Weihnachten.“