Prolog

 

Dies alles geschah viele Jahre nach der Seuche, ungefähr zu derselben Zeit, als man davon sprach, den Amerikanischen Zwinger-Club im Osten und Süden neu zu beleben. Aber dieses hier passierte weiter nordwestlich: Es wurde dunkel auf der riesigen Ebene, die sich von den Appalachen bis zu den Ausläufern der Rocky Mountains erstreckte. Das hohe Gras flüsterte im Abendwind.

Ein Kettenkampfwagen schob sich klappernd und heulend auf die untergehende Sonne zu. Hinter ihm lag der eintönige Horizont aus Gras, fast vollständig eben und ohne ein sichtbares Zeichen von Leben. Das öde Grasland erstreckte sich auf beiden Seiten. Vor ihm lagen, schwarz und von der Entfernung verwischt, die Ausläufer der Berge, ein Pinselstrich in einer kräftigen Linie direkt unter der Sonne.

Der Kampfwagen, ein geduckter, dunkler, hastender Umriß, war der Anfang einer immer länger werdenden Spur von zerdrücktem Gras. Er bewegte sich mit unaufhaltsamer Geschwindigkeit vorwärts. Seine Panzerung war rostig und von Schweißstellen vernarbt. Die stumpfe dunkelgrüne Farbe blätterte ab. Irgend jemand hatte auf die Seite des breiten Doppelturms mit geübter Hand das Wappen der Siebten Nordamerikanischen Republik gemalt. Auch dort war die Farbe schlecht, obwohl sie viel frischer war. Ein anderes Wappen schimmerte darunter durch, und darunter wieder ein anderes.

Joe Custis, mit dem angenommenen Dienstgrad eines Hauptmanns der Siebten Republikanischen Armee, saß auf dem sattelförmigen Kommandantensitz. Kopf und Schultern ragten aus der offenen Luke; die schweren Hände hatte er gegen ihren Rand gestützt. Der Kopfhörer der Gegensprechanlage drückte die Mütze mit dem breiten Schild, die er tief über die zerkratzte Schutzbrille der Amerikanischen Optischen Gesellschaft gezogen hatte, eng an seinen Schädel. Sein massives Kinn war braungebrannt, und die tiefen Furchen um seinen Mund waren schwarz von zusammengebackenem Staub und Schweiß. Sein Kopf drehte sich ständig von einer Seite zur anderen, und immer wieder wandte er sich um, um nach hinten zu sehen.

Ein in der Entfernung noch weißer Fleck zur Linken wurde zu einem frischgestrichenen Hinweisschild, das man auf dem Scheitel eines niedrigen Hügels an einen Pfosten genagelt hatte. Er ließ seine Schutzbrille an seinem Hals herabbaumeln und schaute durch das Fernglas. Es war ein handgeschriebenes Schild in Totenkopfform – nicht neu, aber noch in gutem Zustand – auf dem folgendes stand:

 

KEIN ESSEN

KEIN TREIBSTOFF

KEINE FRAUEN

 

Custis griff zum Kommandantenmikrophon und sagte: „Lew, siehst du das Ding da? Gut, fahr langsam darauf zu. Paß auf – wenn ich es dir sage, hältst du ganz an.“

Er stellte den Kommandantensitz so ein, daß sein Gesicht die Höhe der Okulare des Kuppelperiskops erreicht hatte. Dann hob er das Periskop an, bis es in seiner ganzen Länge dünn und biegsam über der Kuppel ausgefahren war. Es sah mit seinen vielen Gelenken wie die erhobene zitternde Antenne eines Wesens aus, das auf den roten Ebenen des Mars lebte und sich in unerhörte Kämpfe stürzte.

„Langsam jetzt, Lew … langsam … halt.“

Der Kampfwagen hielt mit laufendem Motor an, und das Periskop suchte den Hügel ab. Joe Custis griff nach oben und verschloß das Turmluk über seinem Kopf. Er beugte sich ungelenk nach unten und sah durch die Optik.

Auf der anderen Seite des Höhenzugs lag ein Tal, oder vielmehr das, was vor langer Zeit einmal ein Tal gewesen war. Jetzt war es eine breite, flache Senke, in die zehntausend Jahrhunderte Regen die fetteste Krume hineingespült hatten. In dem Tal gab es Felder und verstreut niedrige, bucklige, grasbewachsene Erhebungen. Kein Licht war zu sehen. Auf den Feldern war keine Bewegung auszumachen, aber eines von ihnen war halb geeggt. Der Boden war frisch aufgebrochen, die Oberfläche schimmerte noch schwer und fett bis zu einem Punkt, an dem die Spuren der Spitzegge von ihrem vorherigen Kurs abwichen und auf eine der Erhebungen zuführten, die in Wirklichkeit eine Grashütte war. Ein Bauer hatte seine Arbeit unterbrochen und sein Pferd und die wertvolle handgefertigte Egge in Sicherheit gebracht.

Die Stimme des Fahrers hallte im Kopfhörer von Joe Custis wider. „Soll ich näher ranfahren. damit wir es uns genauer ansehen können?“

„Nein. Nein, fahre um die Sache hier herum, und dann nimm wieder den alten Kurs. Näher will ich nicht rangehen. Es könnte dort Fallen oder Minen geben.“

Custis senkte das Periskop, und der Wagen stieß bis zu der Stelle zurück, an der sie zuvor vom Kurs abgewichen waren. Hier schwenkte er herum und begann wieder vorwärts zu rollen. Das Heulen der Koboldmotoren nahm wieder das vertraute Geräusch an. Der Wagen ließ das Schild langsam in der Ferne entschwinden.

Das Luk des Flakkanoniers hinten auf dem Turm öffnete sich mit einem Schlag. Custis drehte sich herum und sah hinunter. Major Henley, der politische Offizier, zog sich nach oben und rief laut, um das Geräusch des Motors zu übertönen, der wie der Bohrer eines Zahnarztes heulte.

„Custis! Warum haben wir angehalten?“

Joe hielt sich eine Hand hinter das Ohr. Nach einem kurzen Moment strampelte sich Henley in dem Luk höher, zog sich über die Umrandung und krabbelte über die Turmkuppel nach vorn. Er stemmte einen Fuß gegen die linke Kettenabdeckung und hielt sich an dem Griff fest, der auf der Seite des Turms angeschweißt war. Custis überlegte sich, wie lange es wohl dauern würde, bis er ausrutschen und sich am Turm die Zähne ausschlagen würde.

„Warum haben Sie angehalten?“

„Befestigte Stadt. Unabhängig. Wollte ich mir mal ansehen. Gibt in letzter Zeit einige davon hier oben. Interessant.“

„Wie meinen Sie das, unabhängig?“

„Die kümmern sich einen Dreck um irgend jemanden. Man wird nur hineingelassen, wenn man dort geboren ist. Oder wenn man etwas hat, das nur mit einer Kanone aufzuhalten ist. Ich glaube nicht, daß sie Kanonen haben. Sonst hätten sie uns angegriffen und sich nicht so eingeigelt.“

„Ich dachte, Sie hätten gesagt, das Gebiet hier werde von den Gesetzlosen beherrscht.“

Custis nickte. „Wird es auch, wenn man von diesen Städten absieht. Sie sehen doch keine offenen Städte mehr, oder?“

„Gesetzlose sehe ich aber auch nicht.“

Custis zeigte in Richtung der Berge. „Die beobachten uns, wie wir auf sie zu kommen.“

Henleys Blick glitt nach Westen. „Woher wissen Sie das?“

„An ihrer Stelle würde ich dort sein“, erklärte Custis geduldig. „Hier draußen auf der Prärie bin ich ihnen haushoch überlegen, und das wissen sie auch. Dort oben jedoch hätten sie mich auf dem Präsentierteller. Also sind sie dort.“

„Das ist ganz schön schlau von ihnen. Ich nehme an, ein kleines Vögelchen hat ihnen verraten, daß wir kommen?“

„Hören Sie mal zu, Henley, wir sind seit einer ganzen Woche in dieser Richtung unterwegs.“

„Und sie haben ein Nachrichtennetz, das sie rechtzeitig warnt? Ich nehme an, irgendwer überbringt die Nachrichten zu Fuß?“

„Richtig.“

„Unsinn.“

„Gehen Sie in Ihre Kirche, ich gehe in meine.“ Custis spuckte nach Steuerbord über die Seite. „Ich bin schon mein ganzes Leben in der Prärie und verkaufe meine Dienste an diese oder jene Gruppe. Wenn Sie sagen, daß Sie das Land besser kennen, so werden Sie wohl recht haben, denn Sie sind ja schließlich Major.“

„Schon gut, Custis.“

„Die Leute hier draußen müssen dämlich sein oder so was. Warum die immer noch am Leben sind, ist mir schleierhaft.“

„Ich hab’ gesagt, schon gut.“

Custis grinste ohne besondere Boshaftigkeit und trieb die Nadel noch ein bißchen tiefer unter Henleys dünne Städter-Haut. „Verdammt noch mal, Mann, wenn ich der Meinung wäre, Berendtsen lebe noch und sei irgendwo hier draußen, dann würde ich annehmen, daß alles hier sehr schlau organisiert ist. So schlau, daß es besser gewesen wäre, wenn wir nie von Chicago weggefahren wären.“

Henley wurde rot. „Custis, Sie stellen das Fahrzeug, und für das Nachdenken bin ich verantwortlich. Wenn die Regierung annimmt, daß die Wahrscheinlichkeit groß genug ist und eine Nachforschung lohnt, dann reicht das. Wir prüfen es nach.“

Custis sah ihn angewidert an. „Berendtsen ist tot. Er wurde vor dreißig Jahren in New York erschossen. Man hat ihn durchlöchert und seine Leiche hinter einem Jeep hergeschleift, die ganze Hauptstraße entlang mit fünfunddreißig Stundenkilometern. Überall an der Strecke haben Leute mit Pflastersteinen nach ihm geworfen. Das ist alles, was von Berendtsen übrig ist, eine dreißig Jahre alte Blutspur die Broadway Avenue hinunter, oder wie sie auch immer heißt.“

„Das ist nur eine von den Geschichten, die man hört. Es gibt auch noch andere.“

„Henley, erheblich mehr Leute haben meine Geschichte gehört als solche, in der er noch lebt. Und sogar hier, ganz weit draußen. Vielleicht sollten wir uns auch mal nach Julius Caesar umsehen?“

„Schon gut, Custis, jetzt reicht es aber mit Ihrer Sorte von Weisheit!“

Custis sah unverwandt zu ihm herab. Sein Gesichtsausdruck bewegte sich auf der dünnen Trennungslinie zwischen einem Grinsen und etwas völlig anderem. Nach einem kurzen Augenblick blinzelte Henley und wechselte das Thema. „Wie lange dauert es noch, bis wir zu den Bergen kommen?“

„Heute abend sind wir dort. Noch ein paar Stunden, dann bekommen Sie die Chance, ein paar Gesetzlose zu sehen.“ Jetzt lächelte Custis.

„Also, lassen Sie es mich wissen, wenn wir auf irgend etwas stoßen“, sagte Henley und kroch behutsam zu dem Flak-Luk zurück. Er verschwand im Wagen. Einen Moment später fiel ihm das Versäumte ein. Er griff nach oben und zog das Luk zu.

Custis wandte sich wieder seinem Beobachterposten zu. Sein entspanntes Gesicht wirkte gelassen. Seine Hände hielten unbeweglich das dicke Metall der Panzerung fest. Dann und wann aber runzelte er die Stirn, wenn sein Blick beim Absuchen des Horizonts auf die Berge traf. In diesen Augenblicken streckte er seine Finger, als müsse er sich wieder mit der Struktur von Gußeisen vertraut machen.

Custis glaubte nicht an die Hoffnungen Henleys. Berendtsens Name wurde dazu benutzt, um Kindern Angst zu machen – wirklichen Kindern und Politikern. Es war dasselbe in der ganzen Republik, und in allen vorausgegangenen Republiken war es dasselbe gewesen. Ständig wurde die silberblaue Fahne geschwenkt oder mit ihr gedroht. Eine Handvoll falscher Berendtsen waren aufgetaucht, die hier und da im gesamten Chicagoer Herrschaftsbereich in den vergangenen dreißig Jahren aus der Legende eines Toten Kapital geschlagen hatten. Manche von ihnen hatte man lächerlich gemacht oder war sonstwie mit ihnen fertig geworden, bevor sie überhaupt richtig angefangen hatten. Mit manchen nicht. Die Vierte Republik nahm ihren Anfang, während die Dritte alle Hände voll damit zu tun hatte, gegen einen Mann zu kämpfen, der sich zum Schluß nur als ein besserer Lügner denn die meisten entpuppt hatte. Im Laufe der Jahre war aus der ganzen Angelegenheit ein bitterer Dauerwitz geworden.

Tatsache war, die Politiker oben in Chicago konnten es sich nicht leisten, daß ein Geist ihre Grenzen oder das, was sie für ihre Grenzen hielten, abschritt, obwohl niemand genau sagen konnte, wessen Wort südlich von Gary Gesetz war. Tatsache war, daß irgendwie, auf irgendeine Art und Weise, die Sage von Berendtsen über die Berge im Osten gewandert war und die Menschen mit Ungeduld verseucht hatte. Tatsache war, daß Berendtsen ein Mann gewesen war, dem es gelungen war, sich festzusetzen, nachdem die Seuche innerhalb von sechs chaotischen Monaten neunzig Prozent der Erdbevölkerung ausgelöscht hatte. So zumindest hieß es in der Legende. Custis glaubte auch daran nicht so recht.

Die Tatsache jedenfalls, mit der man leben mußte, war, daß Berendtsen etwas zusammengeschweißt hatte, das sich die Zweite Freie Amerikanische Republik nannte. Damit waren wahrscheinlich der alte amerikanische Osten und die östliche Hälfte des alten Kanada gemeint. Er hatte sie zehn Jahre zusammengehalten, bevor es ihn erwischte. Und niemand hatte es geschafft, genauso erfolgreich zu sein, zumindest hier nicht, wo die großen Seen und die Appalachen Berendtsen davon abhielten, mehr als ein Name oder manchmal eine Fahne zu sein. Es gab Zeiten, als sein Name ihnen Angst machte – und das mit ihm verbundene Versprechen, eines Tages würden bewaffnete Männer über die Berge kommen und ihnen die Befehle eines Fremden aufzwingen. Dazwischen aber lagen Zeiten, in denen die Menschen noch immer an jene vollen zehn Jahre dachten, in denen in den Städten nicht gekämpft worden war. Diese Gedanken ließen sie jedesmal dann vor Zorn grollen, wenn die Lokalpolitiker etwas anstellten, das den Leuten mißfiel. Sie wurden unruhig; und in den Gedanken der Politiker konnte sich keine Ruhe einstellen, wenn sie sich gegenseitig davon zu überzeugen versuchten, daß die Zustände in den Städten beinahe wieder normal seien, die Städte und die Bevölkerung der Ebenen jetzt schon bald wieder Teil einer blühenden Zivilisation sein würden und die Narben der Seuche verheilt seien.

Es war kein angenehmes Gefühl, von dem Geist eines Mannes heimgesucht zu werden, den niemand kannte. Man konnte mit Sicherheit davon ausgehen, daß Berendtsen hinter jedem Mob stand, der sich auf das Regierungsgebäude zuwälzte und die Männer darin an den dunklen Laternen aufhängte.

Es hieß, Berendtsen sei seit dreißig Jahren tot. Wer für die Schießerei damals verantwortlich gewesen war, das Volk oder die Politiker, das wußte keiner so recht. Fest stand nur, daß das Volk seinen Leichnam verstümmelt hatte. Und sechs Monate später hatten die Massen jene Männer umgebracht, die nach ihrer Ansicht Berendtsen umgebracht hatten. So sah die Sache also aus – man konnte nur versuchen, dem Ganzen einen Sinn abzugewinnen in einer Welt, in der Kleinstädte ohne Maschinen und Großstädte mit kaum mehr als dem allernotwendigsten Lebensmittelnachschub auskommen mußten. In einer Welt, in der es den Städter sein Leben kostete, wenn er sich allein in das Farmgebiet vorwagte.

Einen Sinn gab es nicht. Der Name dieses Mannes war einfach ein Zauberwort, und das war alles.

Custis schüttelte in seiner Kuppel den Kopf. Wenn es ihm nicht gelingen würde, diesen Geist für Henley zu finden, würde er aller Wahrscheinlichkeit nach nie sein Geld bekommen, ganz gleich, ob er einen Vertrag hatte oder nicht. Seinen Kampfwagen wenigstens hatte er für den Auftrag überholt bekommen. Custis überlegte sich mürrisch, ob er dem politischen Offizier gleich hier die Kehle durchschneiden und dieses Vorkommnis als Folge eines Angriffs von Gesetzlosen melden sollte. Oder vielleicht sollte er ihm die Kehle durchschneiden und sich überhaupt nicht zurückmelden.

Der Kampfwagen befand sich jetzt an einem Ort, der von Chicago weit entfernt war. Das einzige Trinkwasser an Bord war eine Schlammbrühe, die sie aus einem Bach geschöpft hatten, der im Verlauf des Sommers zu einem Rinnsal geworden war. Der Proviant bestand aus Dosen aus Armeebeständen, von denen manche, mit neuer Beschriftung, aus der Zeit vor der Seuche stammten. In dem Wagen stank es nach ihren Kleidern. Sie hatten sie seit drei Wochen nicht mehr ausgezogen. Die Sommersonne brannte den ganzen langen Tag erbarmungslos auf sie herab, und die Hitze, die der komplizierte Antriebsprozeß von dem Atomreaktor über die Dampfturbinen bis zu den Elektromotoren abstrahlte, die Treibräder und Zahnkränze drehten, war nahezu unerträglich.

Henley konnte sich gerade noch auf den Beinen halten. Für Custis und seine Besatzung lag ein anderes Leben zu weit in der Vergangenheit, um es überhaupt in Betracht zu ziehen. Eine lange Fahrt war es trotzdem gewesen. Sie hatten sich schon anstrengen müssen, um es von den erbeuteten Gebieten am Stadtrand von Chicago, die spärlich und ungeübt bebaut wurden, bis hierher zu schaffen, und der schlimmste Teil des Auftrags lag noch vor ihnen. Vielleicht wäre es leichter, selbst Bandit zu werden.

Aber das würde heißen, daß er von der Stadt abgeschnitten wäre, oder zumindest so lange, bis die nächste Republik den Kampfwagen brauchte. Das wäre Custis gleichgültig gewesen, wenn nur Öl, Munition, Ersatzrohre für seine Geschütze, Brennstäbe für den Reaktor und Verpflegung für seine Mannschaft auf der Ebene so dicht wie das Gras wachsen würden.

„Kurs 340, Lew“, wies er seinen Fahrer durch das Kommandantenmikrophon an. Der Wagen schlug einen leichten Haken auf seinen Ketten und nahm einen direkteren Kurs auf die nächsten der dunklen Gebirgsausläufer.

Da kann man eben nichts machen, dachte Joe Custis. Was auch immer man lieber machen würde – man mußte hinter einem Geist herjagen.

Er sah über das Gras zurück, das sich in Schwaden zerdrückter, verfilzter Halme endlos hinter dem Wagen erstreckte. Er wußte, daß es hier und da Klümpchen aus Öl und getrocknetem Schlamm gab, die von der Unterseite des Kampfwagens abgefallen waren. Da und dort lagen leere Konservendosen, die sie weggeworfen hatten. Ihre groben Papieretiketten lösten sich schon von dem fleckigen Zinkblech oder der Emaillierung ab. Auf dem Weg zurück lagen die Halteplätze entlang der Spur, jeder mit seinen Gräben für die aus dem Wagen ausgebauten Maschinengewehre, mit denen der Umkreis abgesichert wurde. Die Asche der Feuer war kalt. Der Regen verwandelte sie langsam in dunklere Flecken auf der schwarzen Erde. Die MG-Nester verfielen. Wer würde kommen, um diese Stellen zu untersuchen? Welche geduldigen Männer würden aus ihren Verstecken kommen, um nachzusehen, ob irgend etwas Nützliches zurückgelassen worden war, oder um vielleicht einen Hinweis auf das Ziel des Wagens zu finden?

Solche Männer gab es sogar außerhalb der unabhängigen Kleinstädte und der Grenzen der Großstädte. Verlorene, einsame Jäger, Einzelgänger in irgendeiner Art und Weise, Männer wie Joe Custis, aber ohne seine Hilfsmittel, zur Hälfte Banditen, doch ohne Organisation und auch kaum fähig, sich zu organisieren. Sie suchten allein ihre Beute, isolierter als jedes andere Wesen, das die Ebene durchstreifte, denn die Banditen hatten wenigstens ihre Organisation und die kleinen Städte die Sicherheit ihrer Inzucht.

Und die Großstädte … Woanders sah es nicht so aus. Die Berendtsen-Legende zum Beispiel erzählte von dem dicht besiedelten Osten. Hier konnte eine Armee von einer Großstadt zur anderen marschieren und alle unter ein gemeinsames Gesetz stellen. Außerdem gab es noch ein beharrliches Gerücht von dem hohen Lebensstandard der südlichen Agrargebiete.

Im Osten jedoch konnten die Großstädte ihren Arm ausstrecken und die Farmgebiete beherrschen. Sie konnten ihre Bürger ausschicken und sie Nahrungspflanzen anbauen lassen, oder sie konnten Werkzeug und Maschinen mit den Bauern tauschen. Sie konnten so allmählich wieder eine Gesellschaft zusammenschweißen.

Hier draußen war das nicht möglich. Zumindest hatte es keiner geschafft, weder nach Berendtsens Art noch nach der des mittleren Südens, welche das auch immer sein mochte. Die erste Flüchtlingswelle, die nach der Seuche aus Chicago kam, hatte eine Form eingeführt, an der sich seitdem nichts geändert hatte. Die überlebenden Bauern hatten es schnell gelernt, erst zu schießen und dann zu fragen, weil Treibstoff schwer zu bekommen war und es keine Ersatzteile für ihre Maschinen und keine Arbeiter für Aussaat und Ernte gab. Die Alternative dazu war es, ausgeraubt zu werden und dann zu verhungern. Die Landwirtschaft war wieder an einem Punkt angelangt, wo ein Mann und seine Familie gerade soviel anbauen konnten, um einen Mann und seine Familie zu ernähren.

Manche von den Flüchtlingen aus den Großstädten hatten sich in Banden organisiert, die sich so eben noch durchschlugen. Sie töteten und plünderten, und sie raubten Frauen; kein Mann will ohne Söhne sterben.

Die meisten der überlebenden Stadtflüchtlinge gingen in die Städte zurück. Es gab dort zehnmal soviel Platz, wie sie brauchten. Aber selbst in allen Lagerhäusern der Stadt zusammen gab es nicht zehnmal soviel Nahrung.

Die Städte schlugen sich mühsam durch. Kurzlebige Regierungen unterwarfen hier und dort ein Stück Ackerland. Mit den verschiedensten Maßnahmen wurden unterschiedliche Arten von Lebensmittelrationierungen eingeführt und der Proteinnachschub auf immer wieder andere Art geregelt. In Chicago wurden unter anderem Ratten gezüchtet.

Auf die eine oder andere Art schlug sich Chicago durch. Aber man träumte von Legenden.

Custis starrte zu den Bergen hinüber. Er fragte sich, ob er jemals wieder hierherkommen würde. Er überlegte, wie viele Männer vor ihm sich auf den Weg zu Berendtsen gemacht hatten.

Sieben Republiken in Chicago. In den Bergen Banditen, die die Ebenen plünderten und die überlebenden Bauern in einen ständigen Belagerungszustand zwangen.

Es wurde Nacht. In manchen Teilen der Welt stand die Sonne hoch am Himmel, oder die ersten Vorboten des Morgens griffen nach dem Sternenteppich. Aber hier wurde es Nacht, und Joe Custis musterte die Grenzen seiner Welt.