Zweites Kapitel

 

Drei Jahre vergingen.

Mit den Stiefeln voller Wasser suchte sich Matt Garvin einen Pfad durch den Abfall, der den Abflußkanal zwischen den Gleisen der U-Bahn blockierte. Sein Gewehr war sicher auf dem Rücken festgeschnallt. Hundert Meter vor ihm spendete die Öffnung eines Lichtschachtes ein trübes Licht. Er fuhr mit dem Daumen über den Sicherungshebel der 9-mm-Mauser, die er in der Schublade eines geplünderten Pfandhauses auf der Eighth Avenue gefunden hatte. Er hielt einen Augenblick an, um das Geräusch seines Atems zu beruhigen. Er lauschte.

Von einem Träger des Bahnsteiges vor ihm tropfte Wasser auf den Beton. Hinter ihm im Tunnel, ungefähr in der Höhe des Aufgangs zur Third Avenue, schätzte er, bewegte sich jemand. Das machte nichts. Zwischen ihnen lagen zwei lange Blocks, und bevor der andere in gefährliche Entfernung kam, war er schon längst aus dem Tunnel.

Er lauschte noch einmal. Um das leise Plätschern auf dem Bahnsteig und das ebenso unwichtige Planschen in dem Tunnel kümmerte er sich nicht.

Er hörte nichts. Er versuchte durch den Tunnel zu der Station zu sehen, erkannte aber nichts als das düstere Grau, das von den zusammenlaufenden Linien von Bahnsteig und Dach und von den senkrechten Linien der Träger begrenzt wurde.

Er ging vorsichtig weiter, bis er einen Punkt am Anfang der nördlichen Bahnsteigkante erreicht hatte. Hier hielt er wieder an und lauschte. Nichts bewegte sich.

Er zog sich auf den Bahnsteig hoch und legte sich mit der Mauser in der Hand auf den Boden. Kein verräterisches Scharren war zu hören, weder auf seinem Bahnsteig noch auf dem gegenüberliegenden. Keiner der undeutlichen Schatten veränderte unter seiner Beobachtung seine Gestalt. Als eine letzte, wenn auch unsichere Probe, hörte er sich jedoch die Wassertropfen, die von den Trägern auf den Bahnsteig fielen, genau an. Manchmal wurde jemand unvorsichtig und unterbrach den Rhythmus der Tropfen, weil er zuließ, daß einer der Tropfen auf ihn herabfiel.

Es war aber nichts da. Er richtete sich auf, ging in die Hocke und schlich ohne ein Geräusch zu der gekachelten Wand neben dem Treppenaufgang.

Vor ein paar Monaten hatte er versucht, dort einen Spiegel aufzuhängen, um die Treppen hinaufsehen zu können, ohne sich selbst zu zeigen. Der Spiegel war innerhalb von wenigen Tagen zerschlagen worden. Danach war er eine Zeitlang besonders vorsichtig gewesen, aber niemand hatte oben an der Treppe auf ihn gewartet. Er war schließlich zu der Überzeugung gekommen, daß schon vor ihm jemand das Problem für ihn gelöst hatte. Eine frische Leiche am Ausgang zur Straße schien dies zu bestätigen. Die Möglichkeit, daß sie nur ein Köder gewesen war, hatte er als zu kompliziert verworfen.

Der Gedanke, daß er einen Verbündeten hatte, selbst auf diese vage, umständliche Art, war schön gewesen. Es gab keinen Anlaß für einen Zweifel daran, daß genau dieser Mann vielleicht morgen sein Mörder sein könnte, aber Garvin hatte noch immer genug Idealismus in sich, darüber eine gewisse Befriedigung zu empfinden, daß es hier irgendwo in der Nähe wenigstens einen Mann gab, für den die Grenze zwischen Selbsterhaltung und vorsätzlicher Falle noch vorhanden war. Er hatte aber nie versucht, den Spiegel zu ersetzen.

Er lauschte routinemäßig noch einmal, hörte nichts und wartete. Als nach zehn Minuten noch immer kein Geräusch zu hören war, sprang er mit schußbereitem Gewehr zu der gegenüberliegenden Wand, da er wußte, daß er selbst kein Geräusch von sich gegeben hatte.

Niemand war oben an der Treppe. Er schlich sich vorsichtig nach oben, fand niemanden am Drehkreuz und erreichte das Ende der Treppe am Straßenausgang.

Daß dort oben im hellen Tageslicht jemand wartete, war sehr unwahrscheinlich. Außerdem hätte er wahrscheinlich keine Probleme, wenn er den kurzen Weg in das Haus schnell genug schaffte. In der letzten Zeit hatte es kaum noch Heckenschützen von den Fenstern gegeben. Die Munition wurde langsam knapp, und in der Regel lohnte es sich kaum noch, nachts Leichen auszuplündern.

Er schnallte sich die Riemen seines Rucksacks enger und ging vorsichtig die Treppe hinauf. Noch einmal sah er die ausgestorbene Vierzehnte Straße hinunter und rannte dann im Zickzack über den Bürgersteig. Der Klang seiner Schritte unterbrach plötzlich die Stille, die wieder einkehrte, als er den Hauseingang erreicht hatte und hineingeschlüpft war.

In der dunklen Eingangshalle quietschten Garvins Schuhe auf der abgetretenen Gummimatte, die dort lag, weil es am letzten Tag, an dem das Gebäudepersonal noch im Hause gewesen war, geregnet hatte. Die Feuertür des Treppenhauses ging langsam auf und zu. Als er die Treppe hinaufging, waren die Ledersohlen seiner Schuhe als regelmäßiges Geräusch zu hören. Er war immer noch nicht völlig entspannt. Er versuchte, neben dem Geräusch seiner Schritte Laute zu identifizieren, die von einer weiteren Person im Treppenhaus stammen könnten. Bisher hatte allerdings in dem Haus selbst kein Angriff stattgefunden, obwohl in den über fünfzig Apartments des Hauses noch andere Leute wohnten. Es mußte wohl zwischen den Familien eine Art gegenseitiger Respekt vorhanden sein. Die Vorstellung, in den verwinkelten Korridoren kämpfen zu müssen, in dem jede geschlossene Tür eine tödliche Falle sein konnte, war nicht gerade anziehend. Besonders das Treppenhaus war die einzige Verbindung mit der Außenwelt. Nur ein Psychopath hätte es riskiert, diesen Weg zu blockieren. Er erreichte sein Stockwerk und betrat den Flur nur noch mit einem Mindestmaß an Vorsicht. Er überquerte den Flur zu seiner Wohnung, schloß die Tür auf, steckte seine Pistole in das Halfter und ging hinein.

Der Schuß krachte aus dem Gang bei den Schlafzimmern und peitschte gegen den Türrahmen aus Metall neben ihm.

Garvin sprang zur Seite und landete mit einem dumpfen Aufprall auf dem Küchenboden. Seine Finger schlugen gegen den Griff seiner Pistole, schlossen sich darum, und die Waffe lag in seiner Hand. Er zog seine Beine blitzschnell zur Seite, und er rollte und zog sich hinter den Herd. Sein Atem pfiff in unregelmäßigen Zügen durch Nase und Mund.

In der Wohnung war kein Laut zu hören. Er drehte seinen Kopf von einer Seite zur anderen, um ein Geräusch aufzufangen, eine Hand auf einem Türgriff, einen Schritt auf dem Linoleum, irgend etwas, das ihm verraten würde, wo sein Angreifer war.

Er hörte nichts.

Die Küche lag neben der Eingangstür zu der Wohnung. Dahinter lagen die Eßnische und das Wohnzimmer und dahinter zwei Schlafzimmer, deren Türen sich zu dem Gang öffneten, der durch das ganze restliche Apartment verlief. Das Bad befand sich am Ende dieses Ganges. Seine Tür lag der Wohnungstür direkt gegenüber. Der Mann konnte aus beiden Schlafzimmern oder dem Bad selbst geschossen haben.

Wo war der Mann, und wo war Margaret? Garvins Hand umfaßte den Pistolengriff so fest, daß seine Knöchel knackten. Sein Gesicht wirkte in seiner völligen Ausdruckslosigkeit beinahe intelligenzlos.

Garvin bewegte sich mit schußbereiter Pistole vorwärts, bis er von der Küchentür kaum noch gedeckt war. Er dachte angestrengt nach, um seine Eindrücke von dem Angriff zu rekonstruieren.

Der Schuß war im Gang abgefeuert worden. Hatte der Mann sich danach bewegt? Es war unmöglich zu entscheiden, wie weit zurück er gestanden hatte. Er versuchte, sich zu erinnern, ob da noch ein Geräusch gewesen war. Nein, entschied er sich. Von wo aus der Mann auch geschossen hatte – er war auch jetzt noch dort.

Was war mit Margaret passiert? Sein Kiefer verkrampfte sich, als er sich die Möglichkeiten vorstellte.

Sie hatte vielleicht versucht, ihn zu erschießen, als er hereinkam, falls sie die Pistole in Reichweite gehabt hatte. Wenn nicht, dann war sie vielleicht noch irgendwo in der Wohnung versteckt und wartete darauf, daß Garvin heimkam. Wenn der Mann aber in die Wohnung eingedrungen war, ohne daß sie es gemerkt hatte …

Die Möglichkeiten waren nicht abzusehen, sagte er sich wild. Ganz gleich, was geschehen war, jetzt konnte er auf jeden Fall nichts mehr daran ändern. Wenn sie sich noch versteckt hielt, mußte sie selbst entscheiden, wie sie sich verhalten sollte.

In der Wohnung war noch immer kein Laut zu hören.

Wie lange war der Mann schon hier? Wenn Margaret noch am Leben war und der Mann sie nicht gefunden hatte, würde er dann auf sie stoßen, wenn er aus seinem Versteck in ein anderes Zimmer wechseln mußte? Ihre Pistole war wahrscheinlich in dem größeren Schlafzimmer. War sie vielleicht dort und wartete darauf, daß sie die Chance für einen Schuß bekam?

Er konnte sich auf nichts verlassen, das ihm helfen könnte. Er hatte mit Margaret zusammen all die Tricks gelernt, die man zum Leben in New York brauchte. Er mußte sich so verhalten, als könne er sich darauf verlassen, daß sie wußte, was sie zu tun hatte. Aber er war sich nicht sicher.

Immer noch herrschte Ruhe. Er mußte den Mann dazu bringen, sich zu bewegen, damit er eine Ahnung bekam, wo er war. Außerdem brauchte er seine Bewegungsfreiheit. Er nahm die Magnum von der Schulter und stellte sie sorgfältig weg.

Garvin ging lautlos zurück und griff hinter sich, um das Küchenfenster zu öffnen. Er drückte langsam gegen den Rahmen. Der Riegel glitt mit einem gedämpften Geräusch aus seiner Führung.

„Bitte.“

Das Echo im Flur verzerrte die Stimme. Sie war verängstigt und eindringlich. Hastig zog Garvin seine Hand von dem Fenster weg.

Er war wieder ruhig. Der Mann sagte nichts mehr, aber der zitternde Klang seiner Stimme klang noch in Garvins Gedanken nach.

Plötzlich verstand er, wie er sich fühlen würde, wenn er unerwartet in einer fremden Wohnung gefangen wäre. Hinter jeder Ecke könnte der versteckte Tod lauern, jeder Schritt mochte seine drastischen Konsequenzen haben. War die erbärmliche Hoffnung auf mögliche Beute, die man wegschleppen könnte, das Grauen vor unbekannten tödlichen Gefahren wirklich wert?

Er öffnete das Fenster ein wenig weiter.

„Bitte! Nicht! Ich …“ Die Worte sprudelten hastig aus dem halbdunklen Gang. „Ich … es tut mir leid! Ich hatte Angst …“

Garvins Mund verzog sich zu einem reflexartigen Grinsen. Wenn der Mann tatsächlich annahm, daß Garvin irgendwie außen aus dem Haus an der glatten Mauer von Fenstersims zu Fenstersims klettern wollte, dann mußte er in einem Zimmer sein, in dem er für einen solchen Angriff verletzlich war.

Im Bad konnte er demnach nicht sein. Das große Schlafzimmer lag an der Ecke der Wohnung. In der Zeit, die jemand brauchte, um an der Außenmauer des Hauses entlangzuklettern, könnte man leicht zahlreiche Gegenmaßnahmen treffen, um mit der Situation fertig zu werden. Der Mann mußte in dem kleinen Schlafzimmer neben dem Wohnzimmer sein. Und er mußte sich außerdem in der Nähe der Tür aufhalten.

Die Tür zu dem kleinen Schlafzimmer saß glatt in der Wand und ging nach links auf. Wenn das Zimmer verteidigt werden sollte oder wenn man in den Flur schießen wollte, mußte die Tür ganz geöffnet sein. Darum waren Hand und Arm, wahrscheinlich auch das Gesicht des Mannes, ungedeckt.

Der Mann mußte seine Stellung halten, in der er den Gang kontrollieren konnte. Wenn es Garvin schaffen könnte, im Flur freies Schußfeld zu bekommen, dann war der andere Mann in einem Raum ohne Ausgang gefangen.

Aber der Flur war dunkel, während das Wohnzimmer ein großes Fenster hatte. Es wäre für Garvin Selbstmord gewesen, in sein Licht hinauszutreten.

Er dachte noch einmal an Margaret. Er unterdrückte den dringlichen Wunsch, nach ihr zu rufen. Wenn der andere Mann nicht wußte, daß sie da war, dann war das ein Vorteil für Garvin.

Mit grimmigem Gesicht ließ Garvin so laut wie möglich den Verschluß der Mauser schnappen. Das Geräusch sollte wie das Gleitgeräusch des Fensterriegels seinen unbekannten Gegner noch weiter in Panik bringen. Er hatte schon eine Patrone in der Kammer gehabt. Er warf sie sorgfältig in seine Hand aus und steckte sie in seine Tasche. Er stieß das Fenster ganz auf und knallte den Riegel gegen den Anschlag.

„Bitte! Hör mir zu!“ Die panikerfüllte Stimme begann wieder. „Ich will dein Freund werden.“

Garvin hörte auf.

„Hörst du zu?“ fragte der Mann zögernd.

Aus dem Schlafzimmer war kein Geräusch einer Bewegung zu hören. Der Mann hielt seine Stellung an der Tür. Garvin fluchte lautlos und gab keine Antwort.

„Ich habe seit Jahren mit niemandem mehr gesprochen. Noch nicht einmal jemanden angebrüllt oder auf jemanden geflucht. Seit sechs Jahren mache ich nichts anderes, als gegen Leute zu kämpfen. Schießen, laufen. Ich habe mich nicht bei Tag auf die Straße getraut.

Das ist es einfach nicht wert. Es ist es einfach nicht wert, am Leben zu bleiben. Nachts Läden durchwühlen. Wie ein Tier Mülleimer durchwühlt.“ Die zitternde Stimme war voll verzweifelter Abscheu.

„Hörst du zu?“

Garvins Gesicht in seinem Versteck verdüsterte sich, und er nickte. Er dachte an die seltsame Nähe, in der er sich zu jenem Mann gefühlt hatte, der den Heckenschützen in der U-Bahn getötet hatte. Der Spiegel an der Ecke der Treppe war ein Versuch gewesen, wenigstens einen kleinen Teil seiner Umgebung ein bißchen weniger gefährlich zu machen. Als der Heckenschütze ihn zerschlagen hatte, bedeutete das, daß es immer noch Leute gab, die bereit waren, wegen eines Rucksacks, in dem vielleicht etwas zu essen war, jemanden umzubringen.

„Bitte“, sagte der Mann im Schlafzimmer. „Du mußt das verstehen, warum ich … warum ich hergekommen bin. Ich mußte jemanden finden, mit dem ich reden kann. Ich habe mir aus der Verwaltung der Stuyvesant-Siedlung einen Nachschlüssel geholt. Ich wollte mir eine Wohnung für mich selber suchen. Ich wollte mich mit meinen Nachbarn anfreunden.“

Garvin zuckte mit den Mundwinkeln. Er konnte sich einen Versuch vorstellen, mit der tödlichen Stille und bewaffneten Isolation vor den Wänden dieser Wohnung Kontakt anzuknüpfen.

„Kannst du nicht irgend etwas sagen?“ fragte der Mann in Panik.

Garvin schabte mit dem Lauf seiner Mauser am Fensterrahmen, als würde ein bewaffneter Mann anfangen, auf eines der nichtexistenten Fensterbretter hinauszuklettern.

„Nein! Denk doch mal nach! Wie viele Nahrungsmittel, an die man herankommt, sind denn noch da? In den Lagerhäusern sind doch ganze Banden, die niemanden heranlassen. Gewehrmunition wird schon knapp. Wie lange können wir denn noch so weitermachen? Wir kämpfen um eine Büchse Erbsen, und für ein neues Hemd bringen wir uns um. Wir müssen uns organisieren, System in die Sache bringen, versuchen, eine Art Regierung aufzurichten. Seit der Seuche sind jetzt sechs Jahre vergangen, und seitdem ist nichts getan worden.“

Der Mann hörte einen Augenblick auf zu sprechen. Garvin lauschte nach dem Geräusch einer Bewegung, aber es kam keines.

„Es … es tut mir leid, daß ich auf dich geschossen habe. Ich hatte Angst. Jeder hat Angst. Keinem vertraut man. Wie denn auch?“

Reden, reden, reden! Was hast du mit Margaret angestellt, verdammt noch mal?

„Aber bitte … bitte vertrau mir.“ Die unsichere Stimme war nahe daran zu brechen. „Ich will dein Freund sein.“

Der Mann hatte trotz seiner Angst offensichtlich nicht vor, sich von seinem Standort fortzubewegen, bis er völlig sicher war, daß Garvin auf den Fenstersims hinausgeklettert war. Und selbst dann … Garvin stellte sich den Mann vor, wie er sich zitternd an die Tür lehnte, unsicher, ob er fliehen oder bleiben sollte, wie er den Flur beobachtete, ständig auf dem Sprung, bei dem Geräusch von zerbrechendem Glas herumzufahren.

Jetzt hatte er Angst. War das vorher aber auch schon so? Hatte das Grauen erst dann seine Stimme zum Zittern gebracht, nachdem der eine Schuß daneben gegangen war und die Falle, die er sich selbst gestellt hatte, zugeschnappt war? Was war mit Margaret geschehen?

Garvin ging zurück zur Küchentür.

„Komm raus!“ sagte er.

Von der Schlafzimmertür kam ein Seufzer, ein rauhes Ausatmen, das vielleicht Erleichterung bedeutete. Die Schuhe des Mannes schlurften auf dem Linoleum des Schlafzimmerbodens, und sein Absatz stieß gegen die Türschwelle. Er kam in die Halle hinaus. Er war sehr dünn, und seine eingesunkenen Augen hoben sich gegen sein blasses Gesicht dunkel ab.

Garvin zielte mit der Mauser auf seine Brust und schoß zweimal. Der Mann drückte seine Hände gegen den Körper und fiel in das Wohnzimmer.

Garvin sprang vor und sah auf ihn herab. Er war tot.

„Matt!“ Die Tür des Flurschranks schlug gegen die Wand, und Margaret schlug ihre Arme um Garvin. Einen Augenblick lang biß sie ihm in die Schulter. „Ich habe gehört, wie er mit dem Schlüssel herumgefummelt hat. Ich wußte gleich, daß du es nicht bist, und zum Schlafzimmer war es zu weit.“

Garvin steckte seine Pistole in das Halfter zurück und drückte sie an sich. Sie weinte, und er spürte das verkrampfte Zucken ihres Körpers. Der Flurschrank stand fast direkt gegenüber der kleinen Schlafzimmertür. Sie hatte sich nicht einmal getraut, ihn zu warnen, als er hereinkam.

Über Margarets Schulter sah er noch einmal auf den Mann herab. Er hielt in einer Hand einen Colt umklammert, den er sich von der Leiche eines Polizisten geholt haben mußte.

„Du armer Teufel!“ sagte Garvin zu der Leiche. „Du hast mir zu sehr vertraut.“

Margaret sah auf. Ihr Gesicht war ebenso blaß wie das des Mannes, als er in Garvins Schüsse hineingelaufen war. „Matt! Sei ruhig! Du konntest nichts anderes tun.“

„Er war ein Mensch – ein Mensch wie ich. Er hatte Angst und bettelte um sein Leben“, sagte Garvin. „Er hat sich gewünscht, daß ich ihm vertraue, aber ich hatte zuviel Angst, um ihm zu glauben.“ Er schüttelte sich heftig. „Ich kann ihm immer noch nicht glauben.“

„Du konntest nichts anderes tun, Matt“, wiederholte Margaret eindringlich. „Du konntest schließlich nicht wissen, was 1; i mir los war. Du hast es selbst gesagt. Wir leben so, wie wir müssen, nach Regeln, die wir selbst herausfinden mußten. Er war im Haus eines anderen Mannes. Er hat die Regeln verletzt.“

Garvins Mund wurde zu einem dünnen Schlitz. Er konnte seinen Blick nicht von dem Toten losreißen. „Mit Regeln kennen wir uns aus“, sagte er. „Das arme Schwein hat jemanden gehört, deshalb hat er auf mich geschossen. Was sollte ich schon machen? Jemand hat in meinem eigenen Heim versucht, mich umzubringen. Danach war es eigentlich egal, was er gesagt oder getan hat oder was ich davon gedacht habe. Ich mußte ihn umbringen. Egal wie.“

Er löste sich von Margaret und stand einen Augenblick neben ihr. Er überlegte, was er jetzt tun sollte, und er bewegte seine Arme voller Ungeduld. Dann ging er los, als wollte er aus einer unsichtbaren Schale ausbrechen. Das Echo seiner Schritte klang laut durch den Flur. Er kam aus dem Schlafzimmer zurück. In seiner geballten Faust hielt er ein Bettuch.

„Matt, was machst du denn?“ fragte Margaret. Sie flüsterte es fast. Mit fragenden Augen versuchte sie, seine Absicht aus seinem Gesichtsausdruck abzulesen.

Er bückte sich und faßte den Toten unter die Arme. „Ich stelle nur das Schild ‚Zutritt verboten’ auf.“ Er schleifte die Leiche zum Wohnzimmerfenster, verknotete das Bettuch an dem Metallfensterrahmen und wickelte den Rest des Bettuches um die Brust der Leiche. Er ließ gerade noch soviel frei, daß man den baumelnden Kopf nicht sehen konnte. Dann hängte er die Leiche aus dem offenen Fenster.

Garvin drehte sich um. Plötzlich schienen sich alle seine Muskeln zu verkrampfen. „Hoffentlich lassen sie sich davon abschrecken. Ich hoffe, so etwas muß ich nie wieder tun.“ Selbst aus der Entfernung konnte Margaret erkennen, daß er zitterte.

„Wenn ich muß, werde ich es wieder tun“, sprach er weiter. „Wenn noch mehr kommen, bringe ich sie um. Mit der Zeit werde ich mich daran gewöhnen. Ich schieße sie nieder, wenn sie Kinder im Arm halten. Ich nehme ihre eigenen weißen Fahnen und hänge sie neben dem da auf. Ich kümmere mich nicht darum, was sie sagen. Weil man ihnen nicht vertrauen kann. Ich weiß genau, daß man ihnen nicht vertrauen kann – weil ich weiß, daß sie mir auch nicht vertrauen können.“

Er hörte auf zu reden, drehte sich um und sah Margaret an. „Ist dir klar, was das arme Schwein wollte? Weißt du, an wen er mich erinnerte? An mich, an Matt Garvin, den Mann, der ein Plätzchen haben wollte, an dem er in Frieden leben kann.“

„Matt, ich weiß, was er gesagt hat, er …“

„Hallo, hallo, ihr da drinnen!“ Verschwommen drang die Stimme in die Wohnung. Ihr folgten laute Klopfzeichen von der Wand, die das Apartment vom nächsten trennte.

Margaret verstummte und stand still, aber Garvin schlich auf leisen Sohlen zu der Wand.

Das Klopfen fing wieder an. „Ihr da! Nebenan. Was ist das für ein Krach?“

Garvin hörte, daß Margaret etwas sagen wollte. Er erhob seine Hand zu einer beruhigenden Geste und legte sein Ohr an die Wand. Seine rechte Hand senkte sich und berührte das Halfter der Mauser.

„Ich warne euch.“ Er konnte die Stimme jetzt deutlicher hören. „Sagt etwas, oder ihr kommt da nicht lebend raus. Mit meinen Nachbarn bin ich verdammt wählerisch. Wenn ihr meine alten Nachbarn umgelegt habt, dann könnt ihr sicher sein, daß ihr von der Wohnung nicht lange was habt.“

Garvin öffnete seinen Mund. Er hatte natürlich gewußt, daß dort jemand wohnte, aber bis jetzt war noch kein Wort gefallen.

„Na?“ Die Stimme wurde ungeduldig. „Ich habe euch in der Hand. Meine Frau steht zur Zeit draußen im Flur und deckt eure Haustür mit einer Pistole. Und ich kann verdammt schnell Dynamit besorgen.“

Garvin zögerte. Damit würde der andere Mann einen Vorteil haben.

„Beeilt euch!“

Ihm blieb keine Wahl. „Alles klar!“ sagte er endlich. Er sprach laut genug, damit der andere ihn hören konnte. „Hier war jemand drin. Aber wir sind mit ihm fertig geworden.“

„So ist es schon besser“, sagte der andere Mann, aber seine Stimme klang noch immer mißtrauisch. „Jetzt will ich etwas von deiner Frau hören.“

Margaret ging zu der Wand hinüber. Sie sah fragend zu Garvin, der widerwillig nickte. „Na los!“ sagte er.

„Hier spricht Margaret Garvin. Wir … uns geht es gut.“ Sie hielt kurz inne und schien dann eine Entscheidung zu treffen. Hastig sprach sie weiter. „Mein Mann heißt Matt. Wie heißt ihr?“

Das war nicht recht. Garvin runzelte die Stirn. Das kam zu sehr einer Verletzung der stillen Abgeschlossenheit nahe, die jetzt schon so lange Bestand hatte. Die Menschen waren keine Brüder mehr. Sie waren entfernte Bekannte geworden.

Überraschenderweise zögerte der Mann nicht merklich, bevor er Antwort gab. „Ich heiße Gustav Berendtsen. Meine Frau heißt Carol.“ Der Klang der Stimme hatte sich geändert. Garvin glaubte jetzt deutlich, die leisen Spuren eines erfreuten Lachens in Berendtsens Stimme ausmachen zu können. „Mit ihm fertig geworden, was? Gut. Hervorragend! Man freut sich, wenn man Nachbarn hat, auf die man sich verlassen kann.“ Die Stimme verlor etwas von ihrer Klarheit, als Berendtsen offensichtlich seinen Kopf von dieser Wandseite wegdrehte. „Du kannst die Kanone jetzt wegpacken, Mops. Die Leute sind selbst mit der Sache fertig geworden.“

Im Gang draußen klickte ein Sicherungshebel, und Schritte, die jetzt nicht mehr vorsichtig waren, entfernten sich von Garvins Haustür. Dann ging die Haustür der Berendtsens auf und zu, und neben Berendtsen meldete sich eine schüchterne Stimme von der anderen Seite der Wand.

„Tag. Ich heiße Carol Berendtsen. Ist …“ Sie hörte auf zu sprechen, als sei sie sich ebenso wie Margaret und Garvin ihrer Sache nicht sicher in dieser seltsamen Situation, die sich hier jenseits der Regeln plötzlich entwickelt hatte. Sie war aber nur einen Augenblick still. „Ist wirklich alles in Ordnung?“

„Klar ist alles in Ordnung, Mops!“ unterbrach sie die Stimme Berendtsens hinter der Wand. „Hab’ ich dir doch gesagt, daß das verdammt vernünftige Leute sind, die da wohnen. Die mischen sich nicht in die Angelegenheiten von anderen Leuten ein. Leute, die das wissen, kümmern sich darum, daß dies auch sonst niemand tut.“

„Schon gut, schon gut, Gus.“ Garvin und Margaret konnten sie noch deutlich hören. Ihre leise Stimme war klar genug, daß sie auch noch durch das Mauerwerk zu hören war. Dann fügte sie mit noch leiserer Stimme hinzu: „Es ist lange her, daß ich Leute nur reden gehört habe.“ Garvin drückte Margarets Hand, als sie sie hörten.

„Sicher, Mops, sicher. Aber ich habe dir schon immer gesagt, daß das nicht immer so bleiben wird. Ich …“ Er hob seine Stimme ein wenig. „Hallo, ihr Garvins! Ich habe eine Idee – und außerdem habe ich noch eine Flasche Haig hier in der Wohnung. Wie wäre es mit einem Schluck davon? Wir kommen rüber“, fügte er hastig hinzu.

Garvin sah Margarets besorgtes Gesicht und ihre zitternden Lippen an. Er fühlte, wie sich die Muskeln seines eigenen Gesichts verkrampften.

„Bitte, Matt?“ fragte Margaret.

Sie hatte recht. Die Chance war zu groß, um sie einfach auszulassen.

„In Ordnung, Schatz“, sagte er. „Aber hol mein Gewehr und sichere die Haustür vom Gang aus“, fügte er leise hinzu.

„In Ordnung!“ sagte er mit lauterer Stimme. „Kommt rüber.“

„Wir kommen“, gab Berendtsen zur Antwort. „Noch einen Augenblick.“

Die Worte hörten sich ziemlich freundlich an, dachte Garvin.

Er hörte, wie Margaret zurück in den Gang ging. Sein Gehör registrierte automatisch das leichte Knarren, das das Leder des Trageriemens machte, als sie das Gewehr aufnahm, um die Haustür zu sichern.

Und dann hörte er leise Carol Berendtsens Stimme durch die Wand.

„Ich … ich weiß nicht“, sagte sie zu Gus mit unsicherer Stimme. „Meinst du, das geht in Ordnung? Ich meine, ich habe mit keiner Frau mehr gesprochen seit … Was wird sie denken? Ich habe keine guten Kleider mehr. Da ist auch noch ein fremder Mann drin … Gus, ich sehe so … ich schäme mich!“

Und dann Berendtsens Stimme, unbeholfen aber sanft, deren Kraft in Zärtlichkeit umgeschlagen war. „Ach was, Mops, sieh doch mal. Das sind Leute wie wir. Meinst du vielleicht, die hätten Zeit für Spitzen? Du bist genau richtig angezogen, da könnte ich wetten. Und warum sollst du dich schämen, daß du eine Frau bist?“ Dann folgte einen Augenblick Stille. „Ich möchte wetten, daß du hübscher bist als sie.“

„Das will auch ich stark hoffen, daß du dieser Ansicht bist!“

Etwas in Garvin löste sich. „Ich glaube, das Gewehr kannst du weglegen, Schatz“, sagte er zu Margaret. Er sah ihren unsicheren Ausdruck und nickte, um seine Worte zu bekräftigen. „Ich bin mir ziemlich sicher.“

Garvin schenkte sich noch einen Fingerbreit Scotch ein. Er hob sein Glas wortlos zu Berendtsen, der grinste und ebenfalls sein Glas erhob. Gus lachte. Der sanfte, kontrollierte Klang erhob sich weich aus seinem massiven Brustkorb. Das Glas war in seiner Hand, die so groß wie eine Schaufel war und sogar im Vergleich zum Rest seines Körpers groß erschien, fast völlig verschwunden. Er saß locker in dem Stuhl, der eigentlich zu klein für ihn war. Seine entspannte Haltung reflektierte die kontrollierte Kraft seiner Persönlichkeit.

„Eigentlich müßten wir ganz gute Nachbarn abgeben“, sagte er. „Jemand von uns bleibt zu Hause und hält die Stellung, und der andere macht die Besorgungen. Wir können uns ja abwechseln. Wir könnten vielleicht auch versuchen, die Wand hier zu durchbrechen. Würde die Sache erleichtern.“ Er schlug mit der flachen Hand an den Gips.

Garvin nickte. „Gute Idee.“ Sie lächelten beide, als sie den Klang der Frauenstimmen hörten, der aus einem der Schlafzimmer kam. „Das erleichtert auch dem Babysitter die Arbeit.“

„Mein Mädchen hat sich schon ein bißchen Sorgen gemacht“, stimmte Berendtsen zu. Er grinste wieder. „Weißt du was, das müssen wir uns mal genau überlegen.“ Er hob sein Glas wieder. Garvin verstand seinen Gedanken und machte es ebenso. „Auf die Zweite Republik!“ sagte Berendtsen.

„Auf ihre ganzen sechseinhalb Zimmer“, bestätigte Garvin. Dann fiel sein Blick auf das Wohnzimmerfenster, und er wurde daran erinnert, daß es noch etwas zu tun gab. Er stand auf, um die Knoten des Bettuches zu lösen und die Leiche zu den anderen fallen zu lassen, die dort zwischen den dunklen Gebäuden lagen.

Aber im letzten Moment, bevor er das Tuch berührte, überlegte er es sich anders und blieb stehen. Jetzt würde niemand mehr erfahren, ob und wieviel Ehrlichkeit in der Angst des Eindringlings gewesen war. Aber die Zeit war gekommen, daß im Zweifel für jemanden entschieden wurde. Sie würden ihn hinuntertragen und ihn wie einen Menschen begraben.