Erstes Kapitel

 

1

 

Matthew Garvin war ein junger, grobknochiger Mann, der noch nicht zu seiner ganzen Größe ausgewachsen war. Das automatische Schrotgewehr lag nicht ganz sicher in seiner Hand. Seit zwei Tagen aber hatte er sich seinen Weg durch die Innenstadt von New York gesucht, war dem Abfall und anderen Hindernissen ausgewichen, die die Seuche auf den Straßen zurückgelassen hatte, und das Schrotgewehr gab ihm ein weit sichereres Gefühl. Trotz all dem erwartete er immer noch halb und halb, daß ein New Yorker Polizist hinter einem der verlassenen Autos hervorkommen würde, die kreuz und quer herumstanden, oder aus einem der verbarrikadierten Hauseingänge treten würde, um ihn wegen Verstoßes gegen das Sullivan-Gesetz zu verhaften.

Sein Bild vom Zustand der Welt war äußerst lückenhaft. Das meiste hatte er sich aus Fragmenten von Nachrichtensendungen zusammengereimt, die immer sporadischer vom Fernsehen ausgestrahlt wurden. Er hatte sie im Delirium gehört, als er auf einer Liege neben dem Zimmer lag, in dem sein sterbender Vater für die anderen Familienmitglieder die Totenwache hielt. Erst lange nachdem sein Vater gestorben und der Fernseher, obwohl noch immer angeschaltet, endgültig verstummt war, war er wieder ganz zu sich gekommen.

Das einzige, woran er sich noch erinnerte, war, daß sein Vater ihm während dieser ganzen Tage immer wieder gesagt hatte: „Wenn du überlebst, dann vergiß nicht, nur bewaffnet auf die Straße zu gehen.“ Er war sich jetzt sicher, daß sein Vater, wahrscheinlich selbst im Delirium, das immer wieder wiederholt hatte. Er hatte sich an seinem Arm festgehalten und Worte verschluckt, wie ein Mann, dessen Vernunft eine Botschaft erzwingen will, obwohl er die Kontrolle über sein Bewußtsein fast vollständig verloren hat.

Als er dann endlich erwacht war und gewußt hatte, daß er überleben würde, hatte er die Browning auf dem Boden neben seiner Liege gefunden. Daneben lag eine Schachtel Patronen, die noch stark nach verbranntem Holz roch, und eine Flasche Reinigungsflüssigkeit. Auch der alte Jagdrucksack seines Vaters lag dort. Er war mit Proviant in Büchsen, wasserdichten Streichhölzern, einer Taschenlampe, einem Jagdmesser und einem Kompaß gepackt, fast so, als wollten er und Matthew zusammen auf die Jagd im Nordforst gehen, wie sie es in den letzten vier Jahren in jeder Jagdzeit für Rehe getan hatten. Diesmal aber würde Matthew den Rucksack und die Ausrüstung seines Vaters tragen und die große Browning statt des Kleinkalibergewehrs mitnehmen.

Er hatte das Urteil seines Vaters nicht angezweifelt. Er hatte sich den Rucksack umgeschnallt, das Schrotgewehr an sich genommen und das Apartment hinter sich gelassen. Er hätte sowieso nicht bleiben können, hatte aber sein Bestes getan, seine Familie wenigstens einigermaßen würdig aufgebahrt zurückzulassen.

Er hatte zuerst nicht gewußt, was er tun sollte. Wenn er aus dem Fenster sah, konnte er auf der Straße keine Bewegung entdecken. Ein Schleier von grauem Dunst hing über Manhatten, teils Nebel, teils Rauch, wo etwas brannte und nicht gelöscht worden war. Er hatte das große Fernglas aus dem Schrank seines Vaters geholt und sich die beiden Flüsse genau angesehen. An ihrer Oberfläche trieb so gut wie nichts mehr. Daraus schloß er, daß die große Woge des Todes verebbt war. Wer jetzt noch lebte, würde überleben. Wahrscheinlich war er einer der letzten gewesen, der krank geworden war.

Die Straßen und Hafenanlagen waren ein Chaos aus verlassenen und zerstörten Gerätschaften. Autos, Lastwagen, Boote und Kähne lagen noch so herum, wie er sie das letzte Mal gesehen hatte, als ihm klar geworden war, daß jetzt auch er Fieber bekam und sein Mund trocken wurde. Zu dieser Zeit hatte die Regierung ihre ständigen Bemühungen aufgegeben, die Straßen zu räumen und die Bevölkerung dazu zu bewegen, zu Hause zu bleiben.

Hier und da waren manche von den großen Straßen passierbar gemacht worden. Die Autos und Busse, die abgeschleppt worden waren, lagen noch dort auf den Bürgersteigen, wo man sie abgestellt oder herabfallen lassen hatte. Er konnte einen Kranwagen erkennen. Es war ein Abschleppfahrzeug der städtischen Verkehrsgesellschaft. Ein leuchtend blauer MG-Sportwagen hing noch immer an seinem Abschlepphaken. Nachdem er krank geworden war, hatte offensichtlich niemand mehr Gelegenheit gehabt, die geräumten Straßen neu zu verstopfen.

Er versuchte das Radio anzuschalten. Er hatte zwar viele Katastrophenromane gelesen und wußte, daß es nutzlos war, und eine Zeitlang war er unentschlossen gewesen, aber zum Schluß hatte doch seine menschliche Veranlagung den Sieg davongetragen. Es war nutzlos gewesen. Er hatte nach dem Brummen gelauscht, das er mit dem Begriff „Leitfrequenz“ verband, und auch das war fort. Als er zu den Fußleisten herabsah bemerkte er, daß jemand – wahrscheinlich sein Vater – das Kabel so brutal aus der Wand gerissen hatte, daß die blanken Kabelenden auf dem Boden schleiften und nur noch der leere Stecker in der Dose steckte.

Er hatte es aber nicht repariert. Der stumme Fernsehapparat reichte. Die letzte Regierungsmitteilung war zum Schluß recht deutlich geworden, wie er sich erinnerte. Die näselnde, gemessene Stimme des Präsidenten hatte sich von Satz zu Satz gequält und ruhig erklärt, daß sicherlich einige überleben würden, daß keine Krankheit, wie tödlich sie auch sein mochte, überall das Ende für alle Menschen bedeuten könne, daß aber die Überlebenden nicht damit rechnen könnten, die menschliche Zivilisation würde ebenfalls überleben. Wörtlich hatte der Präsident gesagt: „Mein einziges Versprechen an jene, die überleben werden, um die Welt wieder aufzubauen, lautet: Mit Mut, Erfindungsgeist, Entschlossenheit und vor allem mit den moralischen Prinzipien, die den Menschen vom Tier unterscheiden, können wir hoffnungsvoll in die Zukunft sehen. Die Anstrengung wird groß sein. Aber die Zukunft wird Wirklichkeit werden, und mit Gottes Hilfe wird, nein, muß sie Wirklichkeit werden.“

Das aber war als Ausgangspunkt nicht viel gewesen. Er hatte das Fernglas wieder weggepackt. Wenn ihn jemand gefragt hätte, so hätte er zur Antwort gegeben, daß er mit Sicherheit wieder in das Apartment zurückkehren werde. Er hätte sich das nicht lange überlegt; er hätte die Worte ausgesprochen und wäre sich ihrer Bedeutung erst anschließend bewußt geworden. Dann war er Stockwerk um Stockwerk herabgestiegen und fortgegangen.

An einem bestimmten Punkt seines Weges war ihm klar geworden, daß er zu Larry Ruarks Apartment unterwegs war. Larry wohnte ungefähr fünfzig Blocks in Richtung Stadtrand entfernt, was wirklich kein langer Fußmarsch war. Seit sie die ersten beiden Jahre zusammen auf dem College gewesen waren, bevor Larry Medizin studiert hatte, waren sie eng befreundet. Er hatte keine Ahnung, ob Larry noch lebte oder nicht. Die Chancen schienen ihm aber gut zu stehen. Teilweise, weil er mit dem Begriff „Arzt“ Immunität verband, und weil er einen Freund brauchte, der noch lebte. Er verlieh einem Medizinstudenten einen Titel, der ihm nicht zukam, weil er dadurch die Wahrscheinlichkeit vergrößerte, daß sein Freund überlebt hatte. Er wußte aber, daß seine Überlegungen zum Teil durchaus vernünftig waren. Larry war jung und bei bester Gesundheit. Das hatte seine Chancen ganz sicher verbessert.

Matthew Garvin hatte angenommen, daß er sicher auf seinem Weg zu Larry mehr über den Zustand der Welt herausfinden würde. Er hatte erwartet, daß er noch mehr Überlebende finden und mit ihnen sprechen würde.

Er hatte erwartet, daß er zusammen mit den anderen jungen Leuten, die allgemein in guter Verfassung waren, eine genauere Vorstellung vom allgemeinen Zustand der Welt bekommen könnte. Von dem Kontakt miteinander war schließlich nichts zu befürchten. Entweder waren sie infiziert und würden sterben, oder sie hatten die Seuche mit Erfolg überstanden und würden überleben. Vorbei war die Zeit der Ansteckungspanik, die geherrscht hatte, bevor bewiesen worden war, daß der Erreger, was er auch sein mochte, nicht auf direkten Kontakt angewiesen war. Es war eine schreckliche Zeit gewesen.

Er hatte jedoch langsam damit begonnen, sich zu überlegen, ob das die anderen ebenfalls wußten. Er hörte zwar manchmal eilige Schritte, vom Echo verzerrt und nicht lokalisierbar, aber gesehen hatte er noch niemanden. Wenn er stehenblieb und rief, erhielt er keine Antwort. Er wußte, daß ihn die unentrinnbare Krankheit spät erwischt hatte. Er fragte sich, was die erfahreneren Überlebenden wohl hinter sich hatten, daß sie sich derart benahmen.

Einmal allerdings bog er um eine Ecke und traf jemanden, der die Seuche überlebt hatte. Ein junger Mann stand schief an ein U-Bahn-Geländer angelehnt. Er war tot. Die Stichwunden in seiner Brust waren mit frischgeronnenem Blut verkrustet. Zu seinen Füßen lag, zertrampelt und zerrissen, eine leere Einkaufstüte.

 

Die Straßen waren an manchen Stellen nur sehr schwer passierbar. Die gleiche Vorsicht, die ihn dazu gebracht hatte, sich abends in einer LKW-Fahrerkabine einzuschließen, ließ seine Bewegungen immer langsamer werden. So kam es, daß er die Schilder erst am nächsten Tag sah.

Er war nur noch ein paar Straßen von Larrys Wohnung entfernt. Die Plakate stammten vom Zivilen Katastrophenschutz. Jemand hatte sie herumgedreht, auf die unbedruckte Rückseite mit der Hand „Lebendiger Arzt“ geschrieben und einen Pfeil in Richtung Innenstadt dazugemalt.

Danach beeilte sich Matthew Garvin. Er war sich jetzt sicher, daß Larry Ruark überlebt hatte. Außerdem waren die Plakate die ersten Anzeichen für eine Art Organisation. Er hatte schon angefangen, sich wie in einem leeren Museum zu fühlen, das nachts abgeschlossen wird – wenn nicht in der Ferne immer wieder Geräusche zu hören gewesen wären, die sich nur zu genau wie vereinzelte Gewehrschüsse anhörten. Während der Ansteckungspanik hatte er das Knattern von Maschinengewehren der Polizei gehört und, ganz zu Anfang, die dumpfen Explosionen der Sprengkommandos, als die Isolierungsbrigaden die befallenen Gebiete abriegeln wollten. Aber dies war anders. Es hörte sich eher so an, als sei er im Wald von Indianern umringt, unter deren Füßen Zweige zerbrachen.

Die Reihe von Schildern führte zu dem Haus, in dem sich Larrys Apartment befand. Die Barrikade am Eingang war weggeräumt, und die Haustür stand offen.

Obwohl er manchmal hinter den Fenstern verbarrikadierter Häuser Spuren von Bewegungen gesehen hatte, war das die erste offene Barrikade, die er seit Beginn seines Ausflugs gesehen hatte. Er fragte sich, ob die Leute in dem Haus sich zum erstenmal herausgewagt hatten oder schon häufiger draußen gewesen waren. Sie hatten vielleicht die Barrikaden weggeräumt und nach einem Tag oder so wieder aufgestellt. Sie waren natürlich eine Verteidigungsmaßnahme. In den letzten Tagen der Seuche hatten Banden von Kranken, Betrunkenen und Hysterikern die Straßen unsicher gemacht, wann immer die dahinsiechende Polizei nichts mehr gegen sie unternehmen konnte. Matthew Garvin selbst war ebenfalls hysterisch geworden. Er hatte immer wieder gelacht und gerufen: „Jetzt gibt es keinen Krieg mehr!“ Er war von einem Zwang besessen gewesen, auf die Straße zu gehen, sich zu betrinken, etwas zu zerschlagen, auszubrechen und all das zu zerstören, was die Gesellschaft in der Erwartung eines Kriegs aufgebaut hatte: die Hinweisschilder für Luftschutzbunker, die Zeitungsstände, die Fernsehläden, die Kinos, all die Dinge, die jetzt wie Symbole der Verzweiflung wirkten. Auch er wollte jetzt zeigen, daß er die Angst unter der scheinbaren Ruhe erkannt hatte. All das hatte in ihm gebrodelt; wäre er nur ein klein wenig anders gewesen, hätte er ebenfalls die brennende Stadt durchstreift, und man hätte sich auch gegen ihn verbarrikadieren müssen.

Er ging zögernd die Stufen hinauf, die zur Halle des Apartmenthauses führten, in dem Larry Ruark wohnte. Die Halle und die Treppe waren sauber. Jemand hatte gefegt, gewischt und abgestaubt. Sogar der Messinggriff der Haustür war poliert. In der Halle hing noch ein weiteres Plakat: „Lebendiger Arzt im ersten Stock.“

Sonst gab es nichts zu sehen und zu hören.

Er ging leise die Treppe hoch und benutzte nur die Zehenspitzen, um die Stufen zu berühren. Gestern hätte er das nicht getan. Er verstand nicht so recht, warum er es jetzt tat, aber es war der Umgebung angemessen. Er war jung genug, um ein feines Gefühl für seine Umwelt zu entwickeln.

Larrys Apartment lag direkt oben an der Treppe. Auf einem Schild an der Tür stand: „Arzt – Klopfen und eintreten.“

Es war tatsächlich Larry. Matthew klopfte an den Türrahmen und stieß die Tür mit derselben Bewegung auf. „Lar…“

Der dünne, sehnige Arm schlang sich von hinten um seine Kehle. Es war ihm klar, daß es noch einen Augenblick dauern würde, bis ihn sein Feind nach hinten ziehen würde. Dann wäre er hilflos, weil er seine Balance verloren hätte. Er sprang nach oben und durchbrach den Würgegriff zumindest soweit, daß er sich umdrehen konnte, wenn er auch noch von dem Arm umschlungen war. Larry Ruark und er starrten einander an.

„Ach, du großer Gott!“ flüsterte Larry. Er ließ die Hand mit dem Schlachtermesser sinken.

Matthew Garvin keuchte. Der Arm hielt ihn noch immer umklammert. Als dann Larry seinen anderen Arm auch noch herabließ, trat Matthew schnell einen Schritt zurück.

„Matt … du lieber Gott … Mensch, Matt!“ Larry stützte sich gegen die Tür ab und sank dagegen. Er sagte mit runden Augen: „Ich habe jemanden kommen sehen, und da habe ich gedacht – und dann warst du es!“

Er war völlig ausgemergelt. Sein Haar, schon früher graumeliert, war wirr und struppig. Seine Augenhöhlen sahen aus wie schmutziger blauer Samt, und seine Kleider baumelten verdreckt an seinem knochigen Körper. In Matts Nase wirkte noch immer ihr alter, schimmliger Geruch nach.

„Larry, was, zum Teufel, ist hier eigentlich los?“

Larry rieb sich das Gesicht. Das Schlachtermesser hing schief zwischen seinen Fingern.

„Hör mal, Matt, tut mir leid. Ich habe nicht gewußt, daß du es bist.“

„… nicht gewußt, daß ich es bin.“

„Ach, verdammte Scheiße, ich kann nicht reden. Setz dich doch bitte irgendwo hin, Matt. Ich habe … ich brauche nur eine Minute.“

„In Ordnung“, sagte Matt, aber er setzte sich nicht hin. Das Zimmer war mit einem alten Ledersofa, zwei abgestoßenen Sesseln und einem Kaffeetischchen möbliert, auf dem schmierige Magazine in peinlicher Ordnung ausgelegt waren. Die Spalte zwischen den Vorhängen ließen nur sehr wenig Licht in das Zimmer.

„Sag mal, Matt, hast du was zu essen in deinem Rucksack?“

„Ein bißchen. Hast du Hunger?“

„Ja. Nein. – Egal, das kann warten. Ich hätte dich beinahe umgebracht – ist das vielleicht der Augenblick, von Essen zu reden? Wir müssen uns das überlegen … du mußt … sieh mal, wußtest du, daß ich die Washington-Brücke von meinem Fenster aus sehen kann?“

Matt neigte den Kopf und runzelte die Stirn.

„Ich meine, ich habe den Leuten zugesehen, wie sie über die Brücke die Stadt verlassen haben. Das ging tagelang so, nachdem die Seuche zu Ende ging. Sie sind über die alten Straßensperren geklettert, die von der Isolierbrigade, und überall die Autos und Leichen. Ich habe die Zeit gestoppt. So um zwanzig bis dreißig in der Stunde. Sie sind aber nicht in Gruppen gegangen. Zwanzig oder dreißig Leute in der Stunde haben in Manhattan den Entschluß gefaßt, aufs Land abzuhauen.

Sie hatten Hunger, Matt. Viele habe ich auch zurückkommen sehen – manche sind gekrochen. Die hatten sicher Schrotschüsse abgekriegt. Irgendwas da drüben schickt sie zurück. Weißt du, was das sein muß? Das können nur die Überlebenden auf der Jersey-Seite sein. Die haben auch kein Essen übrig. Und das heißt, daß die überlebenden Bauern auf sie schießen, wenn sie sich Essen holen wollen.“

„Larry …“

„Hör mal zu – seit sieben Wochen sind keine Lebensmittellieferungen nach Manhattan reingekommen!“

„Lagerhäuser“, sagte Matt wie ein Mann, der im tiefsten Alptraum eine wichtige Nachricht zu überbringen hat. Er beobachtete das Messer, das zwischen Larrys Fingern hin und her schwang.

„Da sind Leute drin, die sich während der Seuche verschanzt haben. Um die Zeit bin ich gerade wieder rausgekommen. Die Treppen konnte ich noch nicht wieder herunter, aber da gab es noch ein bißchen was im Radio, auf der Polizeifunk-Frequenz – und die Lagerhäuser waren voll von ihnen. Tote, Sterbende, Lebendige. Die lassen niemanden rein. Überleg doch mal. Manhattan ist voll von Waffen und Munition. Du kannst sie dir überall holen, brauchst sie nur Toten abzunehmen. Jetzt ist natürlich alles weg, die Leute haben sie sich geholt! Jeder, der was zu essen hat, ist bewaffnet. Muß er sein. Wenn nicht, dann hat ihn in der Zwischenzeit ein Bewaffneter umgebracht.“

„Da muß doch noch Nahrung vorhanden sein. Auf der Insel hier haben zwei Millionen Leute gewohnt! An jeder Ecke hat es einen Lebensmittelladen gegeben. Die müssen doch so was wie direkten Nachschub gehabt haben. Das kannst du mir einfach nicht erzählen, daß nicht genügend Lebensmittel vorhanden sind, um die Leute wenigstens eine Zeitlang zu ernähren. Wie viele sind denn noch übrig?“

Larry schüttelte den Kopf. „Vielleicht zweihunderttausend. Wenn der nationale Durchschnittswert in der Stadt ebenfalls gilt. Glaube ich aber nicht. Ich glaube, in Wirklichkeit sind hier vielleicht noch hundertfünfzigtausend.“ Larry schüttelte erschöpft seinen Kopf und ging in unbeholfenem steifem Gang von der Tür weg. Er sank in einen der Sessel und ließ das Messer auf den abgetretenen Teppich neben sich fallen.

„Sieh doch mal, dir geht es gut.“ Er deutete auf Matts Gewehr. „Du bist doch hier auf die Füße gefallen. Aber was ist mit mir? Denk mal darüber nach. Sicher muß es hier noch irgendwo Nahrung geben. Aber wo? Die Leute, die es wissen, behalten ihr Wissen für sich. Die Stellen, an die man zuerst denkt, werden längst geplündert sein. Und wenn du etwas gefunden hast, mußt du es noch nach Hause schaffen. Und wenn du es nach Hause geschafft hast – wie lange dauert es dann, bis du wieder los mußt. Es gibt ja noch nicht einmal Wasser, wenn du es dir nicht holst!“

„Na gut, dann holt man es sich eben.“ Matt tippte an seine Feldflasche. Er hatte sie aus einem Eiswasserbehälter in einem verlassenen Büro am Morgen gefüllt und das Wasser mit einer Halazontablette aus seinem Rucksack keimfrei gemacht. „Man muß sich seine Nahrung suchen, weil es keine Botenjungen mehr gibt. Na und? Man hat doch jeden Tag genug Zeit. Weißt du, wie man das nennt, was du zur Schau stellst? Das heißt Panik.“

„Dann ist es eben Panik. Wenn ein gefangenes Tier das Bein, mit dem es in der Falle hängt, abbeißt, dann ist das auch Panik. Willst du mir jetzt erzählen, das sei nicht nötig gewesen?“

„Larry, wir sind keine Tiere!“

Larry Ruark lachte.

Matt sah ihn genau an. Langsam beruhigte er sich, obwohl es in seinem Ohr noch immer rauschte, als hörte er eine Brandung. Er wußte, daß er sich später an diese Unterhaltung erinnern würde, und zwar genauer, als sie jetzt in sein Bewußtsein eindrang. Er wußte, daß er sich für sein jetziges Verhalten später bessere Alternativen überlegen würde. Im Augenblick aber mußte er Larry und sein Messer ständig beobachten. Er mußte die ganze Sache jetzt klarstellen, bevor sie ganz und gar unerträglich wurde.

„Du kannst mir einfach nicht erzählen, daß irgend jemand, der sich noch frei bewegen kann, in absehbarer Zeit in Manhattan Gefahr läuft zu verhungern. Das dauert noch Jahre, bis die letzten Nahrungsmittel aufgebraucht sind.“

„Das ist mir völlig gleich, wenn ich nicht rankomme. Ich muß nach meinen eigenen Vorstellungen planen.“ Larrys Blick wanderte zu dem Messer, das in der Nähe seines herunterbaumelnden Arms auf dem Boden neben der Sessellehne lag. „Du … du kannst danach jagen. Hör mal zu, weißt du, was die mit mir machen würden, wenn ich rausginge? Wenn die rauskriegen würden, daß ich Medizinstudent war? Weißt du, warum ich hier in der ganzen Nachbarschaft die Schilder aufgestellt habe? Für die Leute mit Schußverletzungen oder Blinddarmentzündungen oder vereiterten Zähnen bestimmt nicht. Sicher, kann sein, daß manche von denen verzweifelt genug sind und sich hier Hilfe holen wollen. Aber weißt du, wie ich den größten Teil meines Proteinbedarfs decke? Ich kriege es von den Leuten, die hier heraufkommen, weil sie mich umbringen wollen. Weißt du, warum? Weil wir sie angelogen haben. Die ganze Medizinerschaft hat sie angelogen. Sie hat ihnen erzählt, daß sie mit der Seuche fertig werden würde. Sie hat ihnen erzählt, daß all die Scharen von Medizinwissenschaftlern einfach irgendwie die Lösung finden müßten.

Und was ist passiert? Kannst du dich noch an die letzten Tage der Seuche erinnern? Die Isolierungsbrigaden, die Straßensperren, die Maschinengewehre und Flammenwerfer um die Krankenhäuser herum? Natürlich haben wir ihnen erzählt, wir wollten nur die Labors vor dem Pöbel schützen, als wir die Krankenhäuser befestigten. Aber die wissen es besser. Die wissen genau, daß ihre Mütter und Frauen und Kinder gestorben sind, weil wir sie nicht reingelassen haben. Was kümmert sie eine Seuche, die die ganze Welt von einem Ende zum anderen in drei Tagen überschwemmt? Eine Seuche, der keiner entgeht. Eine Seuche, von der man Fieber und Delirium bekommt. Man kann in kein Mikroskop hineinsehen und kein Reagenzglas ruhig halten. Alles, was die sahen, war, daß die größten Leichenhaufen um die Erste-Hilfe-Stationen und die Forschungslaboratorien herumlagen. Ich war ja selbst dabei. Mit meiner Ausbildung konnte ich nicht viel helfen, und da haben sie mir eben eine Thompson-Maschinenpistole gegeben. Das war mein Beitrag, bis die Waffe unbrauchbar geworden war. Zu der Zeit hat sich niemand mehr groß darum gekümmert, daß ich nach Hause ging. War ja kaum noch jemand da, den es hätte kümmern können.

Ich weiß, was die wollen, wenn sie hierherkommen. Sie wollen den verrückten Mediziner, der blöde genug ist, auch noch herumzuposaunen, daß er da ist. Sie kriegen ihn aber nicht. So komme ich zu meinem Protein. Weißt du, das alles ist Protein. Ich meine, du würdest doch keine Maus fressen oder einen Regenwurm, Matt, oder? Das ist aber alles Protein. Deinem Körper ist es egal, wo es herkommt. Der würde es nehmen und zum Überleben benutzen und dankbar dafür sein. Worauf es deinem Körper ankommt, ist doch nur, noch einen Tag zu leben.

Aber in der letzten Zeit läuft es nicht mehr gut. Sie sind mir auf die Schliche gekommen in der Nachbarschaft. Da kommen nur noch Durchreisende. Ich muß mir bald was Neues überlegen.“

Larrys Augen blitzten Matt an. „Du und ich, wir könnten es schaffen. Du kannst weggehen und Essen holen, und ich bleibe hier und passe auf, daß es sich niemand holt. Wie wäre das?“

Matt Garvin ging einen Schritt auf die Tür zu.

Larrys Hand bewegte sich wie zufällig auf das Messer zu. Er tat so, als bemerkte er selbst nicht, was seine Hand machte.

„Bitte, Larry“, sagte Matt. „Ich will nur gehen.“

„Hör mal, du kannst jetzt nicht gehen. Wir müssen Pläne machen. Du bist der einzige, dem ich vertrauen kann!“

„Larry, ich will nur aus der Tür dort rausgehen. Ich und mein Schrotgewehr.“

„Auf der Treppe werfe ich dir mein Messer in den Rücken. Ehrlich.“

„Ich gehe rückwärts herunter.“

„Das ist nicht so leicht. Wenn du ausrutschst, bist du verloren.“

„Kann schon sein.“

Matt Garvin öffnete die Tür und ging langsam rückwärts hinaus. Er ging, ohne zu stolpern, die ganze Treppe rückwärts hinunter und beobachtete die stille, regungslose Tür, die zu Larry Ruarks Apartment führte. Unten auf der Straße rannte er los, dabei jedes Geräusch vermeidend. Die Plakate auf seinem Weg riß er ab.

 

2

 

Die Vierzehnte Straße lag still in der Morgendämmerung. Ohne ein Geräusch lag sie blaugrau zwischen East River und Hudson. Nur ein Schwarm magerer, ruheloser Tauben erhob sich kurz über den Union Square und senkte sich wieder zu Boden. Sonst lag sie wie ein ausgedorrtes Flußbett, bewegungslos und tot. Der Herbstwind blies Abfall die gelähmte Straße hinunter.

Am Rand von Stuyvesant Town, östlich der First Avenue, verrosteten die Reihen der geparkten Autos. Dort bewegte sich endlich etwas. Die Sonne ging langsam auf und warf ihr Licht auf Matt Garvins Augen, der auf dem Rücksitz eines Taxis schlief.

Garvin war sofort hellwach. Zunächst verriet nur ein Zucken seiner Augenlider, daß er nicht mehr schlief. Dann schloß sich seine Hand über dem Kolben seines Schrotgewehrs, und er erhob sich langsam. Er suchte die Straßen und Gebäude um sich herum ab. Befriedigt lächelte er dünn. Im Augenblick war er das einzige lebende Wesen auf der Vierzehnten Straße.

Er glitt mit seinen Beinen von den zurückgelegten Rücksitzen herab und richtete sich auf. Mit geschlossenen Fenstern und verriegelten Türen war das Taxi sicher. Niemand hätte die Türen lautlos aufbrechen können, aber draußen hätten Leute darauf warten können, bis er herauskommen mußte.

Er beugte sich nach vorn, schnallte seinen Rucksack ab und holte seine Feldflasche und eine Büchse Rindfleisch heraus. Er öffnete die Rindfleischbüchse und fing an zu essen. Er hob dabei von Zeit zu Zeit seinen Kopf, um sicherzugehen, daß sich niemand an den geparkten Autos entlang anschlich. Er aß mit sparsamen Bewegungen und trank dazu dann und wann einen Schluck von dem zwar abgestandenen, aber sicheren Sodawasser aus seiner Feldflasche. Das Halazon war ihm schon lange ausgegangen. Nachdem er sein Rindfleisch aufgegessen hatte, packte er wieder seinen Rucksack, schnallte ihn um und warf noch einen letzten Blick in die Runde. Dann hob er den Riegel der Taxitür und glitt lautlos auf eine der gepflasterten Verkehrsinseln, die in einer Reihe die Vierzehnte Straße von der Umgehungsstraße um Stuyvesant Town trennten.

Auf beiden Seiten der schmalen Verkehrsinsel waren Autos praktisch Stoßstange an Stoßstange geparkt. Auf seiner linken Seite ragten die roten Gebäude der Neubausiedlung empor, an deren Grenze er sich nach Osten in Bewegung setzte, aber die Autos dieser Seite schützten ihn vor dem gezielten Gewehrfeuer aus den unteren Geschossen. Wenn jemand aus den oberen Stockwerken auf ihn schießen wollte, hätte er sich weit aus dem Fenster lehnen müssen und sich so dem Feuer von der anderen Straßenseite ausgesetzt. Garvin selbst war von der Vierzehnten Straße durch die Autoreihe rechts gedeckt. Außerdem war inzwischen ein einzelner Mann mit einem Rucksack im allgemeinen kein lohnendes Ziel mehr.

Dennoch, lohnendes Ziel oder nicht, suchte er sich seine Route sorgfältig aus und bewegte sich niedergebückt vorwärts. Sein Schrotgewehr hielt er im Anschlag. Er bewegte sich schnell zwischen den beiden Autoreihen in östlicher Richtung. Seine Augen waren nie ruhig, seine Füße in den Tennisschuhen lautloser als der Wind, und er drehte ständig seinen Kopf hin und her, um das zu hören, was seinen Augen entgehen mochte.

 

Seine Ohren warnten ihn tatsächlich an der Ecke zur Avenue A. Er hörte das leise Geräusch eines Schnappschlosses an einer Ladentür, das, wie vorsichtig es auch zugezogen wird, immer zu hören ist, und dann das Schaben von Ledersohlen auf dem Trottoir.

Er hielt im Schutz einer geschwungenen Autokarosserie an. Der Lauf seines Schrotgewehrs schwang fast automatisch in Richtung der Geräuschquelle. Er richtete sich vorsichtig auf und sah durch die Seitenfenster des Autos über die Straße. Bei ihrem Anblick zog er scharf die Luft ein.

Es war ein schlankes Mädchen; sie rannte in nervösen, abgehackten Schritten aus der Drogerie über das Trottoir. Ihr Gesicht war blaß, und ihre Augen waren vor Angst geweitet. Sie rannte blindlings zu dem Platz, an dem Garvin kauerte, offensichtlich in Panik, weil sie bei Tageslicht auf der Straße war. Sie versuchte die vergleichsweise sicher erscheinende Verkehrsinsel zu erreichen, bevor sie gesehen wurde.

Schon bevor es ihm klargeworden war, daß er sich nirgends verstecken konnte, hatte er zwei schnelle Schritte rückwärts gemacht, und bevor er sich etwas anderes überlegen konnte, war das Mädchen schon über die Straße geeilt. Dann hatte sie die Verkehrsinsel erreicht, und zum Nachdenken war keine Zeit mehr.

Sie hatte ihn noch nicht gesehen. Sie war zu sehr auf ihre Sicherheit bedacht, um die Gefahr zu erkennen, bis er sich aus seinem instinktiven Kauern aufrichtete und sein Schrotgewehr gesenkt hatte. Ihr Mund öffnete sich, ihre Augen wurden verzweifelt, und er sah die unerwartete Pistole in ihrer andren Hand.

„He!“

Er brüllte vor Überraschung los, als er mit ausgestrecktem Arm nach vorn sprang. Er spürte den Schlag auf seinen Unterarm, als er ihr Handgelenk nach oben wegschlug, und dann hüpfte die Pistole aus ihrer Hand. Das Echo des Schusses klapperte wie die Schuhe eines Steptänzers die leere Straße hinunter. Sein Sprung warf die beiden Körper gegeneinander. Sein Arm krümmte sich wie eine Peitschenschnur und schob den bewaffneten Arm aus dem Weg. Gerade noch rechtzeitig, um ihren Kniestoß aufzufangen, riß er seine Knie zusammen. Zum Schutz gegen die Hand, die Ohr und Hals zerkratzten, konnte er nur sein Gesicht an die Seite ihres Kopfes drücken und sein Kinn an ihre Schulter pressen. Dann brachte seine Bewegung sie aus dem Gleichgewicht, und sie fielen auf die Pflastersteine der Verkehrsinsel. Sie waren in Sicherheit.

„Unten bleiben!“ stieß er hastig hervor. Er schwang herum und schlug ihr die Pistole aus der Hand. Er fing sie auf, bevor sie auf dem Steinboden beschädigt werden konnte. Sie schluchzte eine zusammenhanglose Antwort, und noch einmal zogen ihre Fingernägel eine blutige Spur durch sein Gesicht. Er fiel nach hinten, konnte aber gerade noch rechtzeitig seine Schulter in ihre Magengrube stoßen, bevor sie sich wieder aufgerichtet hatte.

„Bist du noch bei Trost?“ fluchte er heiser, als sie versuchte wegzurennen. Er warf seinen Arm nach oben, um ihre suchenden Finger von seinen Augen abzuwehren. „Jede Kanone in der Nachbarschaft wartet nur darauf, daß wir aufstehen und sie uns endlich kriegen kann.“

„Oh!“ Sie hörte sofort auf, sich zu wehren. Diese unerwartete Bereitschaft, ihm zu glauben, überraschte ihn noch mehr als ihr erster Anblick. Als sie ihre Arme sinken ließ, rollte er weg und wischte sich das Blut aus seinem brennenden Gesicht.

„Himmeldonnerwetter noch mal!“ keuchte er. „Was hast du denn von mir erwartet?“

Sie wurde rot. „Ich …“

„Sei nicht albern!“ unterbrach er sie barsch. „Hast du vielleicht eine Ahnung, wie viele Frauen dieser verdammte Virus, oder was es auch war, noch übriggelassen hat?“ Sie überraschte ihn erneut und zuckte vom Klang seiner Stimme zurück. Wie konnte sie nur so naiv und sensibel sein und trotzdem überleben? „Wenn man eine Frau vergewaltigt, verpatzt man sich irgendwie die Chancen für eine dauerhafte Bekanntschaft“, redete er in sanfterer Stimme weiter und war seltsam erfreut, ein leises Lächeln auf ihrem Gesicht zu sehen.

„Da.“ Er warf ihr die Pistole in den Schoß. „Nachladen.“

„Was?“ Sie starrte darauf herunter.

„Nachladen, verdammt noch mal“, wiederholte er mit rauher Beharrlichkeit. „Da fehlt jetzt eine Patrone.“ Sie nahm die Waffe zögernd auf, klappte die Trommel aber heraus, als würde sie sich auskennen, und für den Augenblick war er zufrieden.

Er zog seine Beine unter sich hoch und kauerte sich hin, drehte seinen Oberkörper hin und her und versuchte, den Heckenschützen ausfindig zu machen, den der Knall ihres Schusses ganz sicher herbeigelockt hatte. Eine Person war ein unsicheres Ziel, aber zwei Personen waren sicherlich für irgend jemanden der Aufmerksamkeit wert, und für die Sicherheit des Mädchens hatte er nicht genug Vertrauen in die Sehkraft dieses Unbekannten.

Die Fenster der Vierzehnten Straße sahen leer herab. Aus einem unbekannten Grund schüttelte er sich leicht.

„Siehst du jemanden?“ fragte das Mädchen leise. Sie überraschte ihn erneut, denn als Person hatte er sie vergessen, während er sie als weiteren Faktor zu dem Sicherheitsproblem zählte.

Er schüttelte seinen Kopf. „Nein. Gerade das macht mir Sorgen. Jemand hätte aus Neugier aus dem Fenster sehen müssen. Wahrscheinlich hat das auch jemand getan – und jetzt hat er sich sein Gewehr geholt.“

Besorgnis überschattete ihr Gesicht. „Was machen wir denn jetzt? Ich muß nach Hause.“ Sie suchte in den Taschen ihrer Jacke herum, bis sie die Tube Schwefelsalbe gefunden hatte. „Mein Vater ist verletzt.“

Er nickte kurz. Das erklärte wenigstens, warum sie draußen gewesen war. Dann verzog er sein Gesicht. „Schußwunde?“

„Ja.“

„Dachte ich mir. Das Zeug taugt nichts. Jetzt nicht mehr.“

„In der Apotheke waren so viele Sachen“, sagte sie unsicher. „Das hier war das einzige, bei dem ich mir sicher war. Ist es zu alt?“

Er zuckte die Achseln. „Das Verfallsdatum ist auf jeden Fall schon lange überschritten. Und ich habe so das Gefühl, daß wir es mit einem ganzen Haufen Bakterien zu tun haben, die über das Zeug nur lachen. Jedes Scheiß-Antibiotikum in der ganzen Welt haben sie ausprobiert, und jetzt müssen wir uns mit den Dingern herumschlagen, die das alles überstanden haben. Ich setze inzwischen auf Seife und Karbol.“

„Schlimm?“ fragte er plötzlich.

„Was?“

„Ist er schlimm verletzt?“

Ihre Lippen zitterten. „Sie haben ihn vor drei Tagen durch die Brust geschossen.“

Er grunzte und sah wieder nach den leeren Fenstern. „Sag mal, bleibst du hier, bis ich wieder zurück bin? Ich will dich noch heimbringen. – Du hast es nötig“, fügte er unverblümt hinzu.

„Wo gehst du hin?“

„Zur Apotheke.“

Ihr Mund öffnete sich verwundert. Ihre Unschuld gehörte nicht auf diese tödliche Straße. Sie nahm einfach alles an, was er sagte. Das – und sogar die Tatsache, daß sie ihn nicht erschossen hatte, als er ihr die Pistole zurückgab – erfüllte ihn mit einem zwar grundlosen, aber heftigen plötzlichen Ärger.

„Zum Telefonieren“, fügte er mit brutalem Sarkasmus hinzu. Dann bekam er seine Stimme wieder unter Kontrolle. „Wenn etwas passiert, dann unternimm nichts, sondern dreh dich um und geh heim“, sagte er mit sanfterer Stimme.

Sein Ärger ließ nach, war aber noch immer heftig. Er sprang auf und lief los, ohne auf eine Antwort zu warten.

Dumme Göre, dachte er, als er im Zickzack über die Straße rannte. Die sollte einfach nicht frei herumlaufen. Er überquerte den weißen Mittelstreifen, und immer noch hatte niemand geschossen.

Wenn die Heckenschützen ein bißchen nachdenken würden, dann würden sie warten, bis er wieder hervorkam. Dann konnten sie beurteilen, ob seine Beute überhaupt der Mühe wert war.

Wie hatte sie so lange überleben können? Seine Schuhsohle knallte gegen den Bordstein, und er warf sich über den Bürgersteig.

Ich mit meinem Glück muß ausgerechnet von irgendeinem Idioten erschossen werden.

Er riß die Tür auf und stürzte in die Apotheke. Am Tresen hielt er abrupt inne und griff nach einem der Hocker, um sein Gleichgewicht wiederzufinden. Er stützte sich einen Moment darauf ab und wartete, bis er wieder ruhig atmete.

Sie rechneten sich wahrscheinlich gerade aus, wie am meisten herauszuholen war. Bei einem Mann mit einem Rucksack war die Versuchung wahrscheinlich nicht groß genug. Wenn er mit dem Mädchen wieder zusammen war, sah die Sache ganz anders aus. Ein Überraschungsangriff im Schutz der Dunkelheit hätte gute Chancen. Das Mädchen allein allerdings war sicher vor jedem, der einigermaßen gut sehen konnte. Solange er von ihr getrennt war, war auch er relativ sicher. Wenn er allerdings mit ein paar Paketen aus der Apotheke herauskam, würde sich das ändern. Es sei denn, der Fremde überlegte sich, daß es für ihn die beste Politik war, wenn er wartete, bis er wieder bei dem Mädchen war. Wenn dann der mögliche Heckenschütze schon eine Frau hatte …

Er hatte die komplizierten Überlegungen satt, schlug seine Hand gegen die Kunststoffbeschichtung des Tresens und schob sich davon weg.

Er fand eine Flasche Desinfektionsmittel, Verbandswatte und elastische Binden in den umgeworfenen Gestellen. Er verstaute sie sorgfältig in seinem Rucksack und ärgerte sich über sich selbst, daß er nicht gefragt hatte, ob das Geschoß noch in der Wunde steckte. Er zuckte die Achseln und sagte sich, daß er hier sowieso keine chirurgische Pinzette gefunden hätte, Apotheke hin, Apotheke her. Dann wendete er sich wieder der Eingangstür zu, die sich hell gegen den dunklen Laden abzeichnete. Er hielt inne.

Der Laden war sicher, überlegte er sich. Das hatte ihm das Mädchen dadurch bewiesen, daß sie lebendig wieder herausgekommen war. Er hatte es geschafft hineinzukommen. Jetzt, wo er einmal drinnen war, war das eine leicht zu verteidigende Stelle.

Draußen lag die Vierzehnte Straße, das graue Band des Trottoirs, das der Wind fast sauber gefegt hatte, und das staubige Blaugrau des Asphalts. Dahinter drohten die kahlen Backsteingebäude mit ihren leeren Fenstern. Darüber erhob sich der eisblaue Himmel. Wartende Gewehre gab es nicht – zumindest nicht, wo er sie sehen konnte.

Er sah sich um. Da war doch sicher noch etwas, was er gebrauchen konnte. Wenn er sich umsah, würde er bestimmt noch etwas finden. Wenn er sich lange genug umsah. Wenn er noch wartete.

Er lachte einmal kurz über sich selbst und trat auf die Straße. Er rannte ebenso hektisch los wie das Mädchen. Sein Brustkasten hob und senkte sich rasend, sein Schritt wurde von dem Rucksack aus dem Gleichgewicht gebracht, und auf seinem Gesicht brach der Schweiß aus und verdunstete eisig.

Es wurde ihm klar, daß er Angst hatte, aber da war er schon über die Straße gerannt, lag flach auf dem Bauch auf der Verkehrsinsel zwischen den Autos. Er sah zu dem Mädchen hoch und verstand mit einmal, daß er Angst davor gehabt hatte, die Zukunft zu verlieren.

Er wartete eine kurze Zeit, bis sich sein Atem beruhigt hatte. Das Mädchen sah ihn an. Ein unerklärlicher Ausdruck glänzte auf seinem Gesicht.

Endlich sagte er: „Jetzt wollen wir dich mal nach Hause bringen. Geh du vor, ich gebe dir Deckung von hinten.“

Das Mädchen verschluckte, was auch immer es hatte sagen wollen, und nickte wortlos. Es drehte sich auf der Verkehrsinsel in die Richtung herum, aus der er gekommen war, und er folgte ihm. Sie arbeiteten sich zurück in die Richtung First Avenue. Bis auf ein kurzes Knurren, das immer dann von ihm kam, wenn sie sich nicht tief genug bückte, sagte keiner von ihnen ein Wort.

Sie erreichten auf ihrem lautlosen Marsch einen Punkt gegenüber dem Stuyvesant-Gebäude an der Ecke der First Avenue. Das Mädchen hielt an, und Garvin schloß die Lücke von zehn Metern, die zwischen ihnen lag. Er kauerte sich neben ihr nieder.

Er fühlte, wie die Finger seiner linken Hand zuckten. Die unentschiedene Rastlosigkeit seiner Muskeln verschaffte sich ein Ventil. Das Mädchen könnte ihn jetzt einfach stehenlassen. Es könnte Jahre dauern, bis er wieder eine Frau sah, besonders eine ohne Anhang. Er nahm jedenfalls an, daß sie frei war. Was wäre das denn für ein Mann, der seine Frau allein weggehen lassen würde? Wenn sie einen hätte, dann würde er es nicht verdienen, sie zu behalten.

Garvin lachte wieder über sich selbst. Ihr Erstaunen über das kurze, scharfe Bellen beachtete er nicht.

„Als ich zu der Apotheke aufgebrochen bin, war es noch dunkel“, sagte sie. Ihre Stimme verriet ihre Hilflosigkeit. „Ich habe aber so furchtbar lange gebraucht, bis ich etwas fand. Wie kommen wir denn jetzt wieder über die Straße zurück zu dem Haus?“

Garvins auf Mißtrauen trainierte Sinne lehnten sich erneut gegen ihre Torheit auf. Jetzt hatte sie sogar die Tatsache verraten, daß ihre Wohnung praktisch nicht verteidigt wurde. Sie hatte fraglos angenommen, daß er mit ihr nach Hause gehen würde.

Er schüttelte seinen Kopf und verachtete sich zu gleicher Zeit dafür, daß er empört über das Mädchen war, weil es genau das tat, von dem er gefürchtet hatte, es würde es nicht tun.

Das Mädchen sah ihn fragend an. Wieder schwang in ihrem Blick noch etwas mit, das er nicht vollständig verstand. Ein kurzer Anfall von Ärger darüber huschte über sein Gesicht.

Noch einmal schüttelte er den Kopf. „Wir müssen rennen. Ist aber leichter bei zwei Leuten“, sagte er. „Geh du zuerst. Ich gebe dir Deckung, und dann paßt du auf, wenn ich es versuche. Wenn du irgendwas siehst, dann schieß darauf.“ Er hob sein Schrotgewehr mit einer Grimasse. Es war eine gute Verteidigungswaffe, in einem Raum oder für den Straßenkampf hervorragend geeignet, aber die Reichweite war erbärmlich kurz. Jetzt wünschte er sich ein Gewehr mit größerem Aktionsradius.

Er zuckte die Achseln und überprüfte, ob der Sicherungshebel des Schrotgewehrs umgelegt war. Er zeigte mit einem Kopfnicken auf das Gebäude. „Los.“

„In Ordnung“, antwortete sie mit belegter Stimme. Sie drehte sich herum, glitt zwischen zwei Autos, senkte den Kopf und rannte blindlings über Fahrbahn und Bürgersteig in die Eingangstür des Hauses. Dort hielt sie an und wartete auf Garvin.

Er sah sich schnell um. Er konnte nichts entdecken und folgte ihr. Mit verkrampften Rückenmuskeln, im vollen Bewußtsein seiner Ungeschütztheit, rannte er los, die Schritte lang und in hektischem Zick-Zack-Kurs.

Als er die Stufen erreichte, trug ihn seine Geschwindigkeit auf die Seite, und er mußte sich am Geländer festhalten. Plötzlich schlug ein Kugelhagel, der von der gegenüberliegenden Straßenseite kam, in die Betonstufen ein. Die Geschosse gaben zu dem flachen, hölzernen Klang des Gewehrfeuers ein Echo wie Hammerschläge. Bleispuren erschienen auf dem Beton, und Staubwölkchen zogen langsam ab.

Dann lag er unter dem Geländer im Schutz der niedrigen Terrasse. Die Hecke hatte ihn zerkratzt, und sein Gesicht und die Hände bluteten. Er keuchte, den Mund voller Dreck. Sein Herz schlug laut und schnell.

Das Mädchen begann zurückzuschießen.

Er riß sich von den Tausenden von Zähnen los, die die Hecke in seine Kleider versenkt hatte, und drehte sich heftig um. Er starrte gebannt zu dem Mädchen in der Eingangstür hinüber. Sie kniete auf einem Bein, das zweite hielt sie angewinkelt vor sich ausgestreckt. Mit der linken Hand hatte sie ihr Knie ergriffen und den Revolverlauf auf dem linken Ellbogen abgestützt, als würde sie auf eine Zielscheibe auf dem gegenüberliegenden Dach schießen. Sie gab zwei Schüsse ab und wartete.

„Aus der Tür raus!“ brüllte er. „In das Gebäude hinein!“

Das Mädchen sah zum Dach hoch und schüttelte leicht den Kopf. Sie biß mit ausdrucklosem Gesicht auf ihre Unterlippe.

„Ich sehe ihn nicht mehr“, rief sie. „Er muß hinter den Kamin gesprungen sein.“

Garvin brachte seine Beine in Startposition. Er war naßgeschwitzt. „Sieh zu, daß du ihn unten hältst“, rief er über den Balkon. Er sprang auf und rannte in gerader Linie auf den Eingang zu, weil er die Entfernung so schnell wie möglich hinter sich bringen wollte. Er warf einen Blick über die Straße, sah keine Bewegung auf dem Dach und hob das Mädchen mit einer Armbewegung auf die Füße. Er stieß die Eingangstür auf, und die beiden stolperten zusammen in die Sicherheit.

 

Er sank gegen die Tür der Eingangshalle. Der Schweiß lief ihm in Strömen von seinem Oberkörper herab. Im Schutz der dunklen Halle sah er das Mädchen an, während sich sein keuchender Atem langsam normalisierte. Wieder unterließ sie es, ihre Waffe nachzuladen. Trotzdem hatte sie sich an der Tür hingekauert und genau das Richtige getan, um sie beide vor dem Tod zu retten. Sie hatte es natürlich in ihrer eigenen, charakteristischen Art getan. Sie hatte sich dabei nicht nur dem Angreifer als unbewegliches Ziel ausgesetzt, sondern jedem anderen ebenso. Irgendwie hatte sie den Feuerschutz theoretisch verstanden und den Mut gehabt, dieses Wissen trotz ihres kläglichen Mangels an Praxis anzuwenden.

Er hatte bisher einfach gedacht, sie sei auf der Straße völlig fehl am Platz. Nun ertappte er sich bei dem Gedanken, daß sie mit ein wenig Training doch nicht ganz so hilflos sein würde.

Sie sah plötzlich auf und bemerkte seinen Blick. Statt weiter wortlos dazustehen, mußte er nun etwas sagen.

„Danke. Das war riskant, aber trotzdem – danke.“

„Ich konnte ihn doch nicht einfach …“ Sie sprach den Satz nicht zu Ende, fing aber auch keinen neuen an.

„Ganz schön dummer Bursche, wer auch immer das war“, sagte Garvin.

„Ja.“ Sie starrte ins Leere. Sie wollte offensichtlich nur die Zeit überbrücken, und Garvin kam plötzlich auf die Idee, daß sie auf etwas wartete.

„Ich verstehe ihn einfach nicht“, sagte sie abrupt.

„Ich auch nicht“, erwiderte Garvin lahm. Vielleicht wollte sie ihn gar nicht in das Apartment hineinlassen. Es war eigentlich normal und auch logisch, daß sie ihn bat, ihr dabei zu helfen, in das Haus hineinzukommen, ihn nun aber verlassen würde. Wartete sie vielleicht darauf, daß er ihr die Sachen gab, und wollte sie dann verschwinden? Oder wußte sie vielleicht nicht, was sie jetzt machen sollte, wo der Heckenschütze draußen wartete? Er verfluchte sich selbst, weil er nicht die Initiative ergriff, so oder so. Hastig redete er weiter. „Sich auf dem Dach derart hervorzuwagen. Irgend jemand knallt ihn bestimmt bald ab.“

„Das habe ich nicht gemeint … Aber du hast recht. Das war tatsächlich dumm.“

Nein, natürlich hatte sie nicht dasselbe wie er gemeint. Garvin war erneut wütend über sich selbst. Für das Mädchen war es unbegreiflich, daß jemand einen anderen töten wollte. Er hatte sie völlig mißverstanden. Für ihn war es nur dumm, mögliches Gewehrfeuer auf sich zu ziehen. Er war ein Raubtier, das jede Bewegung daraufhin überprüfte, ob sie ihn zur Beute machen konnte. Sie hingegen war ein Küken, das aus seinem Nest in eine hungrige Welt gefallen war.

Er zwang sich, seine Überlegungen abzubrechen. Aber sentimental oder nicht – allein und ohne Schutz wollte er sie doch nicht verlassen.

„Du kannst da nicht wieder hinausgehen“, sagte sie schließlich mit deutlichem Zögern.

„Nein. Stimmt, das kann ich nicht.“ Er versuchte, seiner Stimme einen unbeteiligten Klang zu geben.

„Also, ich … Du kannst einfach nicht rausgehen. Du mußt hierbleiben.“

„Ja.“

Das war es also. Seine Finger verkrampften sich in seine feuchte Handfläche zu einer nervösen Faust. „Na los. Gehen wir. Wir müssen uns um deinen Vater kümmern.“

Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich, als sei eine geheime Furcht von ihr gewichen. Es war, als hätte sie ihrerseits befürchtet, er würde nicht tun, was sie von ihm erhoffte. Auch ihre Stimme war jetzt fester, und ein sanftes Lächeln spielte auf ihren Lippen.

„Ich muß dich vorstellen. Wie heißt du?“

Zu seiner eigenen Überraschung wurde er rot. Eine sanfte Stimme aus der Vergangenheit schalt ihn: „Matthew, du warst unhöflich.“

„Matt … Matt Garvin“, stieß er hervor.

Sie lächelte wieder. „Ich heiße Margaret Cottrell. Freut mich.“

Er ergriff ihre ausgestreckte Hand linkisch und drückte sie mit abruptem Ungeschick.

Er fragte sich, ob er recht gehabt hatte, daß sie sein Fortgehen nicht gewollt hatte und nicht gewußt hätte, was sie dann hätte tun sollen. Der Gedanke machte ihn unruhig, weil er sich hier keine Klarheit verschaffen oder eine Entscheidung treffen konnte. Als sie zu der Treppe hinter dem leblosen Fahrstuhl ging, folgte er ihr vorsichtig. Kurz bevor sie sich in einen dunklen Schatten in der Dämmerung des Treppenhauses verwandelte, konnte er noch einmal das Lächeln auf ihren Lippen erkennen.

Das Apartment befand sich im dritten Stock. Sie ging zur nächsten Tür, als sie aus dem Treppenhaus kamen, klopfte und schloß sie auf.

Garvin war einen Meter hinter ihr stehengeblieben. Sie drehte sich nach ihm um.

„Komm doch bitte herein“, sagte sie.

Er ging unruhig auf sie zu. Er vertraute dem Mädchen zwar weitgehend, sicherlich mehr, als er sonst irgend jemandem vertraute, aber er hatte seit zweieinhalb Jahren keine Tür mehr geöffnet, ohne daß er ganz sicher war, daß dahinter nichts Gefährliches wartete.

Er konnte es sich auf der anderen Seite nicht leisten, daß das Mädchen sein Mißtrauen bemerkte. In ihren Augen würde das wahrscheinlich dumm aussehen, und er wollte in ihren Augen nicht wie ein Dummkopf dastehen.

Er versuchte, sein Schrotgewehr unauffällig zu halten, als er durch die Tür trat.

„Margaret?“ kam es mit dünner und angestrengter Stimme aus der Wohnung. Das Gesicht des Mädchens füllte sich mit Besorgnis.

„Ich komme sofort, Vater. Ich habe noch jemanden mitgebracht.“ Sie berührte leicht Garvins Arm. „Bitte.“

Die zweite Einladung entschied seine Unsicherheit, und er trat ein.

„Er ist im hinteren Schlafzimmer“, flüsterte sie. Er nickte.

Er bemerkte zu seiner Überraschung, daß die Wohnung geheizt war. Der Gasofen in der Küche war durch einen Benzinbrenner neben der Wohnungstür ersetzt worden, und im Wohnzimmer stand ein Heizkörper. Beide Ofenrohre waren sorgfältig in den Entlüftungsschacht des Apartments geführt worden. Das Heizungsgitter auf dem Flur hatten sie abgedichtet, um einen Zug zu vermeiden. Garvin spitzte seine Lippen. Die Wohnung war in besserem Zustand, als er angenommen hatte.

Sie kamen zu der Schlafzimmertür. Matt sah einen dürren Mann, der halb aufgerichtet im Bett saß. Das gleiche Fieber, das seine Lippen erblassen ließ, hatte seinen Augen einen durchdringenden Blick verliehen. Seine Brust war bandagiert. Neben dem Bett stand ein Korb voll roter Papiertücher. Garvin merkte, wie sich sein Mund verzog. Der Mann hatte innere Blutungen.

„Vater“, sagte Margaret, „das ist Matt Garvin. Matt – mein Vater, John Cottrell.“

„Freut mich, Sie kennenzulernen“, sagte Garvin.

„Ich habe den starken Verdacht, daß auch ich erfreut bin, Sie kennenzulernen“, sagte Cottrell und lächelte wehmütig. Er wandte seine wäßrigen Augen, die tief in die dunklen Augenhöhlen gesunken waren, Margaret zu. „Wart ihr der Anlaß für die Schießerei dort draußen?“

„Auf einem Dach auf der anderen Straßenseite ist ein Mann. Er hat versucht, Matt umzubringen, als er mich heimbrachte.“

„Sie hat mir aus einer echten Klemme geholfen“, unterbrach Matt.

„Aber nachdem ich ihn getroffen und ihm erzählt hatte, daß du verletzt bist, ist Matt nochmals in die Apotheke zurückgegangen“, sagte Margaret.

Cottrells Blick ging zwischen den beiden hin und her, und sein Lächeln wurde breiter. „So, so, nachdem er dich getroffen hat.“ Er hustete einen Augenblick und wischte seinen Mund ab. „Davon möchte ich gern noch mehr hören, während Matt sich mal das hier anschaut.“ Er machte eine Geste zu seiner Brust und zuckte von der Muskelanspannung zusammen. „Margaret, ich glaube, in der Zwischenzeit bin ich hungrig geworden. Könntest du vielleicht Frühstück machen?“

Das Mädchen nickte und ging hinaus in die Küche. Garvin schnallte seinen Rucksack ab und holte die Sachen aus der Apotheke heraus. Er fing Cottrells Blick auf, als er auf das Bett zuging. Der Mann war zu krank, um hungrig zu sein, und Matt hatte schon gegessen, aber keiner der beiden wollte das Mädchen dabeihaben, während sie sich gegenseitig einzuschätzen versuchten.

 

„Ein typischer Tag in unserer schönen Stadt“, sagte Cottrell, nachdem Matt ihm von den Ereignissen des Morgens berichtet hatte.

Matt grummelte nur. Er hatte das verkrustete Blut von Cottrells Brust abgewaschen und die Wunde abgetupft. Sie wies Anzeichen einer leichten Entzündung auf, die an sich aber unbedeutend war.

Das Geschoß saß tief in Cottrells Brust, zu tief, um danach suchen zu können. Außerdem war im Mund des alten Mannes ein ständiger dünner Blutfilm. Matt verband ihn neu und warf die schmutzigen Bandagen und Tupfer weg. Neben das Bett stellte er die Flasche mit dem Desinfektionsmittel und das übrige Material. Er schnallte seinen Rucksack wieder zu und prüfte mit der Hand, ob er richtig gepackt war. Dann nahm er sein Schrotgewehr und holte die Patronen heraus.

„Beschäftigungstherapie nützt nicht viel, Matt“, sagte Cottrell ruhig.

Matt sah von dem Gewehr auf. Er ließ seinen Atem mit einem müden Seufzer aus seinen Lungen. Das Blut in Cottrells Kehle und Bronchien brachte ihn zum Husten. Wenn er hustete, riß die Wunde in seinen Lungen ein wenig weiter auf. In seine Lungen lief noch mehr Blut und verstärkte den Husten.

„Von Medizin habe ich nicht viel Ahnung“, sagte Garvin. „Ich habe nur mal einen Erste-Hilfe-Führer gelesen. Aber ich glaube nicht, daß Ihnen noch viel Zeit bleibt.“

Cottrell nickte. Er hustete noch einmal und lächelte wehmütig. „Ich fürchte, da haben Sie recht.“ Er warf das Papiertuch, das voll frischem Blut war, in den Papierkorb. „Also, was haben Sie für Pläne?“

Die beiden Männer sahen sich an. Es hatte keinen Sinn, um den heißen Brei herumzureden. Cottrell würde bald sterben, und wenn er tot war, würde Margaret schutzlos zurück bleiben. Garvin war in der Wohnung. Er hätte sie ohne Margaret nie erreicht, und Margaret könnte jetzt ohne ihn nicht überleben. Auf der Ebene reiner Logik waren sowohl das Problem als auch die Antwort einfach.

„Ich weiß nicht genau“, gab Garvin langsam zur Antwort. „Bevor ich Margaret getroffen hatte, hatte ich vorgehabt, mir einen Platz zu suchen, an dem ich mich mit Vorräten für zwei Jahre niederlassen kann. In der Stadt hier gibt es mehr, als die meisten Leute annehmen.“

„Vorausgesetzt, man ist geübt genug, den anderen Leuten aus dem Weg zu gehen?“

Garvin sah Cottrell mit unpersönlicher Traurigkeit an. „Vielleicht. Ich habe mir meine eigene Lebensphilosophie zurechtgelegt.

Wie auch immer, ich meine jedenfalls, ich kann es lange genug aushalten. Wenn sie erst einmal verzweifelt werden und in Wohnungen einbrechen, dann hoffe ich, daß ich auch dies überstehe. Früher oder später wird irgend jemand kommen und damit anfangen, das Leben wieder zu organisieren. Dem schließe ich mich dann an. Die Leute, die dies überstehen, sind schlau genug, um zu merken, daß es nicht den Hunger löscht, wenn man zum Raubtier wird.

Na ja, jetzt, da ich hier bin, kann ich ja durchführen, was ich vorgehabt habe. Hereintragen, was ich kann, und das Beste hoffen. Viel ist es nicht“, schloß er, „aber etwas Besseres weiß ich nicht.“ Das Hindernis, das ihm am meisten Gedanken machte, erwähnte er nicht, aber auf seine Bewältigung hatte er keinen Einfluß. Nur Margaret selbst konnte sagen, wie sie reagieren würde.

Cottrell nickte nachdenklich. „Nein, viel ist es nicht.“ Er sah auf. „Ich glaube, theoretisch haben Sie recht, aber ich glaube nicht, daß Sie es auch in die Praxis umsetzen können.“

Garvin zuckte die Schultern. „Ehrlich gesagt, warum sollte es mir nicht gelingen? Sie haben doch praktisch das gleiche gemacht.“

„Richtig. Aber Sie sind nicht ich.“ Cottrell verstummte kurz, um sich wieder die Lippen abzuwischen, und redete dann weiter. „Matt, ich gehöre zu einer toten Zivilisation. Ich glaube, in den letzten Voraussagen hieß es, daß ungefähr zehn Prozent der Bevölkerung überleben könnten. Ich schätze, daß hier in Manhattan, unter unseren Bedingungen, nur grob die Hälfte davon am Leben sind. Das sind unter gar keinen Umständen genug Leute, um die Abhängigkeitsverhältnisse aufrechtzuerhalten, auf denen das alte System basierte. Obwohl wir von Produkten umringt sind, die mehr oder weniger unbeschädigt sind und die die Ergebnisse der Technologie des zwanzigsten Jahrhunderts sind, haben wir weder Energie noch laufendes Wasser noch Wärme. Wir sind verkrüppelt.“

Garvin nickte. Das war alles nichts Neues. Aber er ließ den alten Mann weiter reden. Er mußte zu seiner Zeit ein harter Brocken gewesen sein, und das mußte man respektieren.

„Wir haben kein Verteilernetz und keine Kommunikation“, sprach Cottrell weiter. „Ich habe diesen Platz hier für mich und Margaret ausfindig gemacht, sobald ich konnte, habe ihn eingerichtet und mich bewaffnet. Ich wußte nämlich eines – wenn ich keine Ahnung hatte, wie ich für mich Nahrung und Kleidung herstellen sollte, dann wußten das die anderen Überlebenden auch nicht. Und die Leute, die damit vertraut waren, die Bauern auf dem Land nämlich, mußten lernen, nur für sich selbst zu sorgen, oder sie würden sterben.

Da habe ich mich eben in meine Höhlenfestung zurückgezogen. Wenn man nicht weiß, wie man das Lebensnotwendigste herstellen soll, dann muß man es sich besorgen. Wenn es knapp wird, muß man es sich mit Gewalt holen. Wenn du keinen Laib Brot hast und dein Nachbar hat zwei, dann nimm sie dir beide. Morgen wirst du nämlich wieder Hunger haben.

Richtig, ich bin ein Sammler“, sagte er. „Ich habe hier soviel Nahrung hereingeschleppt, wie ich konnte. Ich habe ständig neue Sachen herangeschafft, und den Platz hier hätte ich mit meinem Leben verteidigt. Ich habe die Benzinöfen hereingeschleppt und den alten Gasherd und den Kühlschrank in den Fahrstuhlschacht geworfen, damit niemand wußte, aus welchem Apartment sie stammten. Ich habe das alles getan, weil mir klargeworden war, daß ich und alle anderen plötzlich wieder zu Höhlenmenschen geworden sind. Wir waren dazu verurteilt, in unseren kleinen Höhlen zu hocken und Angst vor dem Säbelzahntiger zu haben, der draußen umherstreift. Wenn unser Essen knapp wurde, nahmen wir unsere Waffen und streiften selbst draußen herum. Wir wurden zeitweise selbst zu Säbelzahn tigern.“

„Ganz richtig“, sagte Matt höflich. Er konnte nicht einsehen, was diese alten Geschichten mit ihm und seinen Plänen zu tun hatten.

Cottrell lächelte und nickte. „Ich weiß, ich weiß, Matt … Worum es mir geht, wie ich schon sagte, ist, daß Sie nicht ich sind. Meine Zivilisation ist zu Ende. Ihre nicht.“

„Wie meinen Sie das?“

„Als die Seuche ausbrach, waren Sie noch jung genug, sich dieser Welt voll und ganz anzupassen. Sie sind nicht wie ich ein durchschnittlicher Amerikaner, der zum Höhlenmenschen geworden ist. Sie sind ein durchschnittlicher Höhlenmensch, aus dem bis jetzt noch nichts geworden ist. Aber aus Ihnen wird etwas werden. Sie können dem nicht ausweichen. Menschen bleiben nicht ihr ganzes Leben gleich, wenn auch manche sich fast umbringen, um es zu versuchen. Sie schaffen es nicht. Es gibt noch andere Menschen auf der Welt, und wenn auch jeder einzelne noch so sehr versucht, zu einer Insel zu werden, so funktioniert dies dennoch nicht. Er sieht, wie sein Nachbar etwas versucht, um sein Leben erträglicher zu machen, sagen wir mal, nagelt sich Fliegengitter an das Fenster. Dann muß er sich entweder ebenfalls Fliegengitter an das Fenster nageln, oder er läuft voller Mückenstiche herum, und sein Nachbar lacht ihn aus. Oder …“ Cottrell lächelte seltsam, „seine Frau nörgelt so lange herum, bis er es macht.“

Cottrell hustete heftig, wischte sich ungeduldig den Mund ab und sprach weiter. „In ganz kurzer Zeit wird jeder Fliegengitter haben wollen. Irgendein tüchtiger junger Mann, der geschickt darin ist, solche Gitter anzufertigen, ist auf einmal keine Insel mehr, sondern ein Zimmermann. Schon sehr bald erhält der Zimmermann mehr Aufträge, als er allein erledigen kann, und jemand anders wird ein Zimmermannslehrling. Verstehen Sie?“

Matt nickte langsam. „Ich denke schon.“

„Gut, Matt. Meine Zivilisation ist erledigt. Sie haben eine ganz neue. Sie fängt gerade erst an, aber eine Zivilisation ist sie trotzdem. In der ganzen Welt gibt es Tausende von jungen Leuten wie Sie. Manche von ihnen bleiben in ihren Höhlen sitzen, und vielleicht malen sie ein paar Bilder an die Wände, bis ihre Nachbarn sie überfallen und töten. Aber der Rest wird aktiv werden, Matt. Ich weiß nicht, was genau Sie tun werden. Aber effektiv wird es sein.“

Cottrell unterbrach sich, weil ein Hustenanfall ihn schüttelte. Matt biß sich auf die Lippen, als der alte Mann in seine Kissen zurücksank. Cottrell aber nahm den Faden seiner Erklärung wieder auf, und jetzt verstand Matt, daß er etwas hinterlassen wollte, bevor er zu schwach war, es zu sagen. Cottrell hatte länger gelebt und mehr gesehen als der Mann, dem er seine Tochter zur Frau geben wollte. Dieser Versuch, die Früchte seiner Erfahrung weiterzugeben, war die letzte Verpflichtung, die er für Margaret erfüllte.

„Matt, ich bin überzeugt davon“, fuhr Cottrell fort, „daß das, was Sie und die anderen jungen Menschen tun werden – was auch immer es sein mag –, eine neue Zivilisation hervorbringen wird, und zwar eine ausgereiftere Zivilisation. Und daß jede Generation junger Menschen nach Ihnen das aufnehmen wird, was Sie ihnen hinterlassen haben. Und sie werden darauf aufbauen, wenn sie auch viel lieber ruhig sitzen bleiben würden, um das zu genießen, was sie haben – und zwar deshalb, weil immer irgend jemand Fliegengitter haben will. Das wurde uns in die Wiege gelegt. Aber noch etwas wurde uns in die Wiege gelegt: daß nämlich manche Leute sich nicht die Mühe machen wollen, selbst Fliegengitter zu bauen, wenn sie sehen, daß der Nachbar welche hat. Manche werden versuchen, den Nachbarn auf die alte Stufe herunterzuziehen, indem sie ihn töten und seine Verbesserungen zerstören.

Aber das geht nicht. Bringt einer einen Menschen um, kann er auch noch weitere Menschen umbringen. Deshalb werden sich die anderen Leute in seiner Nähe aus Angst zusammenschließen und den Mörder töten. Und irgendwann, wenn es klar bewiesen worden ist, daß es auf Dauer leichter ist aufzubauen, statt zu zerstören, wenn jeder Fliegengitter hat, dann wird irgendein tüchtiger junger Mann DDT erfinden, und ein ganz neuer Kreislauf beginnt.“

Cottrell lachte kurz auf. „Das wird ein harter Tag für die Hersteller von Fliegengittern werden! Aber jene Leute, die wissen, wie man eine Sprühpistole baut, die werden sehr beschäftigt sein.“

Plötzlich wechselte er das Thema. „Die Seuche war eine Katastrophe, Matt. Aber Katastrophen sind für die menschliche Rasse nichts Neues. Der Mensch weiß eine Antwort auf jedes Naturereignis. Er holt sie sich aus den Antworten, die er auf Naturereignisse in der Vergangenheit gefunden hat. Es liegt in seiner Natur, Dämme gegen die Flut zu bauen, nach dem Erdbeben wieder aufzuräumen, Fliegengitter aufzustellen. Er scheint mit dem, was der Planet ihm gibt, unzufrieden zu sein. Er will es verbessern, es sich noch ein wenig gemütlicher machen. Vielleicht auch nur, weil er genervt ist und hofft, die Frau würde endlich mal ruhig sein und ihn ein paar Minuten in Frieden lassen.

Was wissen wir davon? Der Mensch hat sich einst seinen Weg nach oben mit der Keule erjagt. Sie fangen mit einem Gewehr an. Vielleicht wird die Welt, schon bevor Ihre Söhne sterben, wieder eine Zivilisation tragen, in der ein junger Mann in seiner Höhle sitzen und Bilder malen kann, weil er sich darauf verlassen darf, daß andere ihn bekleiden und schützen.“

„Aber noch ist es nicht soweit“, sagte Cottrell. „Hier und jetzt, würde ich meine Tochter nur einem Jäger anvertrauen. Und aus dir mache ich einen Jäger, Matt. Ich hinterlasse dir diese Mitgift: Verantwortung dafür, daß meine Tochter bekommt, was sie benötigt, um glücklich zu sein. Zusätzlich dazu hinterlasse ich dir die Wohnung mit dem Ofen, dem Wasserdestilliergerät, dem Heizöl als Operationsbasis. Die U-Bahn-Eingänge der Canarsis-Linie sind an der Ecke der First Avenue. Der Tunnel dort ist mit allen anderen Tunnels unter der Stadt verbunden. Die werden in dem Dschungel, zu dem unsere Stadt geworden ist, relativ sichere Wege sein. Außerdem gibt es dort Sickerwasser. Destilliertem Wasser kann man leicht seinen natürlichen Geschmack dadurch zurückgeben, indem man mit einem Schaumschläger für Sauerstoffanreicherung sorgt.

Ganz zum Schluß, Matt – du findest mein Gewehr neben der Tür. Es ist eine Großwildbüchse. In dem Schrank in der Eingangshalle ist Munition.

Das ist deine Umwelt, Matt. Verändere sie.“

Er hörte auf zu sprechen und seufzte. „Das ist alles.“

Garvin saß still da und sah dem Alten beim Atmen zu.

Was hätte Cottrell getan, wenn seine Tochter nicht einen Mann mit nach Hause gebracht hätte? Er hätte wahrscheinlich Trost in dem Gedanken gefunden, daß es auf der Welt Tausende junger Männer und Frauen gab. Seine eigene Tragödie wäre in diesem Maßstab unbedeutend gewesen.

Ja, ohne Zweifel. Aber hätte das sein persönliches Scheitern weniger schmerzhaft gemacht? Cottrells Logik war schon in sich schlüssig, aber Logik allein war im Angesicht der nackten Realität nicht genug. Genauso wie jetzt, wo nach Entwicklung der ganzen Philosophie immer noch das Problem von Margarets Reaktion blieb.

Kalter Schweiß lief an Garvins Brust herab.

„Übrigens, Matt“, sagte Cottrell trocken „für einen jungen Mann, der sich ohne Zweifel nicht für einen Höhlenbewohner hält, hast du offensichtlich große Schwierigkeiten, die Symptome junger Liebe – im Stil eines jungen amerikanischen Mädchens – zu erkennen.“

Garvin starrte den alten Mann an, der weitersprach, als würde er nicht merken, wie Matt rot wurde. Er grinste breit und genoß offensichtlich den versteckten Witz, den er in den ersten Blicken bemerkt hatte, die Margaret und Matt tauschten.

„Und wenn du jetzt bitte Margaret hereinrufen würdest? Ich glaube, es ist Zeit, sie mit den Neuigkeiten vertraut zu machen.“ Er hustete wieder heftig und verzog sein Gesicht zu dieser Ermahnung, aber als er das blutige Tuch in den Papierkorb warf, war es eine Geste des Siegers.

Fünf Monate später schlich Garvin lautlos mit der Magnum-Flinte im Anschlag durch das dunkle Macy. Er bewegte sich mit Leichtigkeit, denn sein Rucksack war nicht schwer, wenn er auch mit Kleidern vollgestopft war, die er für Margaret geholt hatte.

Obwohl er kein Geräusch von sich gab, lachte er in sich hinein. Zuerst hatte Margaret dieses gebraucht, dann jenes, bis seine Ausflüge schließlich immer weiter von ihrer Operationsbasis fort führte. Na ja, so lagen die Dinge eben, und niemand konnte etwas daran ändern.

Ein Schatten huschte durch ein besser erleuchtetes Stück bei der Tür. Er hielt abrupt an und wünschte sich, daß sein Atem nicht so laut wäre. Verdammt noch mal, er mußte einfach eine Art Atemtechnik entwickeln! Dann durchquerte der Mann wieder den hellen Fleck, und Garvin bewegte sich nach vorn. Er hatte natürlich eine Patrone in der Kammer der Magnum, und er konnte sofort schießen. Er wollte aber nicht schießen, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ, weil mit einiger Sicherheit noch jemand dort unten die Gestelle absuchte.

Wenn er andererseits noch viel länger wartete, könnte er den Mann vor sich verfehlen.

Mit einem innerlichen Achselzucken hob er das Gewehr an die Schulter, schoß den Mann nieder und ließ sich sofort zu Boden fallen. Das Echo hallte durch die Dunkelheit.

Ein zweiter Mann, der hinter einem Schaukasten gestanden hatte, schoß auf ihn und sprang ihn mit einem Grunzen an. Matt sprang auf, schwang die Magnum und brach ihm mit dem Kolben das Genick. Er blieb regungslos stehen und lauschte, nach allen Seiten feuerbereit, aber nichts war zu hören. Er lächelte kalt.

Bevor er in der Dunkelheit verschwand, hielt er sich noch lange genug auf, um beiden Leichen die Rucksäcke abzunehmen. Nicht zum erstenmal sagte er sich selbst, daß das Gewehr für den direkten Kampf Mann gegen Mann zu schwerfällig war. Wenn der zweite Mann in der Lage gewesen wäre, den Schlag mit der Magnum abzublocken, hätte die Sache leicht ganz anders ausgehen können. In einer solchen Situation brauchte man einfach eine Pistole.

Er sah sich jedoch noch immer ungern in der Rolle eines Mannes, der oft in einer solchen Verlegenheit war.