Prolog

 

Der Boden am Fuß des Gebirgsausläufers war steinig und, da er mit Geröll bedeckt war, gefährlich. Der Wagen wuchtete sich mit quälender Langsamkeit über einen scharfen Kamm und prallte auf der anderen Seite mit einem harten Schlag auf die Erde. Die Lenkhebel peitschten vor dem Knie des Fahrers hin und her, und die Motoren heulten.

Der Fahrer meldete an Custis: „Keine Sicht mehr. Beleuchtung?“

„Nein. Bleib hier stehen, Lew.“

Der Fahrer verriegelte die Ketten und legte die Schalter um. Die Dämpfer senkten sich auf den Reaktor, und die Motoren liefen rasselnd aus. Der Kampfwagen lag wie tot da.

Custis glitt aus der Kommandantenkuppel. „Alles klar, macht alles dicht. Wir schlafen heute nacht drinnen.“ Der Fahrer verschloß die Sehschlitze, und der MG-Schütze Hutchinson fing an, Lumpen in die zerschlissene Gasdichtung an seiner Luke zu stopfen. Robb, der Richtschütze, verschloß die Kommandantenluke. Custis befahl ihm: „Napalm laden!“ Robb holte die Splittergeschosse, die sie tagsüber geladen hatten, aus den Kanonen. Er lud nach, verriegelte das Verschlußstück und spannte den Abfeuerungshebel. „Napalm geladen“, meldete er in seiner farblosen Stimme zurück. „Horchgerät ausfahren!“ sagte Custis, und Hutchinson aktivierte die Außenmikrofone des Wagens.

Henley stand genau dort, wo beim Rücklauf der Zwillingsgeschütze der Verschluß seinen Schädel zerschmettern würde. Er fragte: „Was machen wir jetzt, Custis?“

„Essen.“ Joe holte fünf Dosen Verpflegung heraus. Drei gab er seiner Mannschaft und eine Henley. „Da.“ Er kauerte sich auf den Boden und rollte den Deckel der Dose zurück. Er verbog ihn mit der Hand und löffelte sich damit Essen in den Mund. Seine Augenhöhlen wurden durch die Beleuchtung an der Decke in tiefe Schatten gehüllt. Die Schutzbrille hatte um seine Augen ein breites Band von Gummistücken hinterlassen. „Morgen früh sehen wir mehr Banditen, als es Ihnen lieb ist.“

„Sie meinen, Sie haben uns hier mit Absicht als Köder auf dem Präsentierteller abgestellt?“

„Ich meine, wenn ich Bandit wäre, würde ich nur mit einem Köder auf dem Präsentierteller verhandeln, und mein Auftrag lautet, daß ich es Ihnen ermögliche, Sie mit Banditen verhandeln zu lassen.“

„Aber doch nicht aus einer schwachen Position heraus!“

Custis sah nach oben und grinste. „So ist das Leben, Herr Major. Ehrlich, so ist das Leben.“

 

Beim Morgengrauen sagte Custis: „Da draußen ist jemand.“ Er trat von der Optik zurück und ließ Henley einen Blick auf die Soldaten werfen, die draußen auf dem Felsen hockten.

Der Kampfwagen war vollständig von Männern umringt, die ihn unbeweglich beobachteten. Sie hatten alle Sorten von Uniformen an, deren einziges gemeinsames Merkmal schwarz-gelbe Schulterstücke waren. Manche der Uniformen stammten aus der Vierten oder Fünften Republik. Sie waren alle verschlissen, und manche von ihnen sahen völlig unbekannt aus. Vielleicht von der Westküste. Oder vielleicht sogar von der Ostküste.

Die Männer auf den Felsen bewegten sich nicht. Sie saßen still unter den Kanonen des Kampfwagens. Auf den ersten Blick schien ihre Bewaffnung ausschließlich aus Gewehren zu bestehen, die angesichts des Kampfwagens wie Flitzbogen wirkten.

Custis hatte relativ lange Zeit gebraucht, bis er herausgefunden hatte, warum diese Männer, die aussahen, als wüßten sie, was sie taten, sich auf Flinten verließen, wenn es gegen einen Kampfwagen ging. Fünf Gruppen, die je aus zwei Männern bestanden, umgaben den Wagen in einem großen Kreis. Jede der Gruppe hatte ein M-14 mit einem Granatwerfergerät. Die Männer, die damit zielten, hatten der Waffe genau den richtigen Winkel verliehen, um die Kuppel mit dem ersten Schuß zu treffen.

„Schwarz-gelb“, sagte Henley ärgerlich.

Custis zuckte die Achseln. „Stimmt, nicht blau-silber“, erwiderte Custis, um Henley wieder zu ärgern. „Aber das ist dreißig Jahre her. Es könnte trotzdem Berendtsen sein.“

Custis ging zu der Optik zurück, um sich die Männer mit den Granatwerfern noch einmal anzusehen. Neben jedem stand ein offener Kasten mit Bleiverkleidung, in dem noch weitere Granaten lagen.

Custis knurrte. Napalm spritzte zwar recht gut auseinander, aber der Turm würde trotzdem eine ganze Drehung benötigen, um mit allen fünf Gruppen fertig zu werden. Der Turm brauchte für eine volle Drehung fünfzehn Sekunden. Ein Mann am Granatwerfer brauchte pro Granate grob gerechnet eine Sekunde. Nach wenigen Sekunden hätte man den Kampfwagen von außen mit einer Schicht radioaktiven Staubs bedeckt, der sowohl das Ausharren als auch das Verlassen des Wagens tödlich werden ließ. Auch ausweichen könnte der Wagen der Granate nicht rechtzeitig. Die Grundlage einer vorbeugenden Bewaffnung wie dieser hier bestand darin, daß sie bei der leisesten Bewegung zum Einsatz kommen konnte, aber, das zumindest durfte man annehmen, nicht vorher.

„Unentschieden“, knurrte Custis. „Aber nicht schlechter. Großzügig von ihnen.“ Er schnallte sein Webkoppel ab und nahm den 45er Colt herunter. Dann ging er zu der Kommandantenkuppel und entriegelte sie.

„Was machen Sie da?“ wollte Henley wissen.

„Es geht los.“ Er warf das Luk zurück, zog sich hoch, stellte sich auf seinen Hocker und kletterte oben aus dem Turm. Er schlug das Luk hinter sich wieder zu und richtete sich auf.

„Ich heiße Custis“, sagte er vorsichtig zu den Männern, die ihre Gewehre hoben. „Ich handle im Auftrag der Siebten Republik. Ich habe hier einen Mann bei mir, der mit eurem Boß sprechen will.“

Zunächst gab es keine Antwort. Er stand da und wartete. Neben sich hörte er das Kratzen der Lukenverriegelung. Er stellte einen Fuß auf die Luke, bevor Henley sie anheben konnte.

„Worüber, Custis?“ fragte eine Stimme von der Seite, die außerhalb seines Gesichtsfeldes lag. Die Stimme klang alt und heiser, stand aber fest unter Kontrolle. Er fragte sich, ob die Stimme nicht zittern würde, wenn der alte Mann dies zuließe.

Er überlegte sich seine Antwort. Es war sinnlos herumzuspielen. Vielleicht würde er gleich jetzt umgebracht werden, vielleicht auch nicht, aber wenn er jetzt Spielchen spielen würde, bekäme er möglicherweise nie wieder eine direkte Antwort auf eine Frage.

„Über Theodor Berendtsen“, sagte er.

Der Name fiel zwischen die Männer wie ein Stein. Er sah, wie sich ihre Gesichter verhärteten, und er sah, wie Köpfe unwillkürlich zuckten. Na ja, die Briten hatten Napoleons Grab neunzehn Jahre lang bewacht.

„Dreh dich zu mir um, Custis!“ sagte die gleiche verbrauchte Stimme. Custis riskierte es, seine Augen von den Granatwerfern abzuwenden. Er wandte sich der Stimme zu.

Ein hagerer Mann mit einem wettergegerbten Gesicht stand etwas abseits von den Soldaten. Seine durchdringenden Augen lagen im Schatten von buschigen Augenbrauen. Er war sehr unrasiert, und sein marmorweißes Haar war dünn. Tiefe Falten durchzogen sein Gesicht, er hatte Säcke unter den Augen und einen ausgetrockneten Hautlappen unter dem Kinn.

„Ich habe hier Befehlsgewalt“, sagte er mit seiner stockenden Stimme. „Bring deinen Mann heraus.“

Custis trat von der Luke herunter und ließ Henley herauskommen. Der politische Offizier warf ihm einen wütenden Blick zu, als er sich aus der Luke wand und sich aufstellte. Custis kümmerte sich nicht darum. „Da drüben – der Weißhaarige“, sagte er, ohne seine Lippen zu bewegen. „Er ist hier in der Gegend der Boß.“ Er trat ein wenig zur Seite und machte Platz, damit Henley auf dem schrägen Dach des Turms stehen konnte, aber er beobachtete weiter den alten Anführer, der einen verwaschenen Overall mit dem schwarz-gelben Schulterstück trug.

Henley sah mit zusammengekniffenen Augen zu der hageren Gestalt hinüber. Trotz der morgendlichen Kühle schwitzte er am Hals, und sein unsicherer Halt machte ihn nervös.

„Ich bin Major Thomas Henley“, sagte er schließlich. „Ich bin der direkte Vertreter der Siebten Republik von Nordamerika.“ Danach sprach er zunächst nicht weiter, weil er offensichtlich nicht wußte, was er sagen sollte. Mit einem dünnen Grinsen machte sich Custis klar, daß er dem Major nicht viel Verhandlungsspielraum gelassen hatte, als er so direkt mit dem Namen Berendtsen herausgeplatzt war.

„Sie sind außerhalb der Rechtsprechung Ihres Landes, Major“, sagte der Anführer.

„Darüber kann man streiten.“

„Das ist eine Tatsache“, sagte der Anführer unverblümt. „Sie und Custis können herunterkommen. Ich werde mit Ihnen verhandeln. Ihre Leute können hierbleiben.“

Henley drehte hastig seinen Kopf herum. „Sollen wir mit ihm gehen?“ murmelte er Custis zu.

„Du lieber Gott, Major, mich dürfen Sie da nicht fragen. Aber wenn Sie etwas erreichen wollen, müssen Sie schon mit jemandem reden. Oder erwarten Sie vielleicht, daß Berendtsen Ihnen in den Schoß fällt?“

Henley sah zu der dünnen Gestalt auf dem Hügel. „Vielleicht ist dies bereits geschehen.“

Custis sah ihn unverwandt an. „Sie haben Berendtsen vor dreißig Jahren in New York erschossen. Was von seiner Leiche noch übrig war, wurde von ihnen auf den Müllhaufen geworfen. Ein Jahr später befand sich an der Stelle, wo man diese Reste hingeworfen hatte, ein Grabmal.“

„Vielleicht, Hauptmann, vielleicht. Waren Sie dabei?“

„Und Sie?“

Custis ärgerte sich, daß ihm die Sache so nahe ging. Er schaute den Major wütend an. Dann aber stellte sich seine Vernunft wieder ein. Er drehte sich um, um Lew den Befehl zu geben, den Wagen verschlossen und die Kanonen schußbereit zu halten, bis sie wieder zurück waren.

Berendtsen war seit dreißig Jahren tot. Wegen Hochverrats angeklagt, verurteilt, hingerichtet, und trotzdem stritten sich die Menschen noch immer bei der Erwähnung seines Namens. Custis schüttelte noch einmal seinen Kopf und sah sich den alten, ausgetrockneten Mann wieder an, der da mit seinem geflickten, verwaschenen Overall mit den schwarz-gelben Schulterstücken auf dem Hügel stand.

 

Die meisten seiner Soldaten blieben zurück und verteilten sich zwischen den Felsen und dem Kampfwagen. Zehn von ihnen bildeten eine lockere Eskorte um den Anführer und Henley. Die Männer gingen in Richtung der Berge los, und Custis folgte ihnen mit ein paar Metern Abstand.

Der Tag wurde sonnig, blieb aber kühl. Custis konnte erkennen, wie die Höhenwinde, die den Schnee auf den Gipfeln verwehten, diese mit einem Kranz umgaben. Die Felsen an dem Weg, auf dem sie gingen, waren mehr als mannshoch, was Custis ein leicht unangenehmes Gefühl verlieh. Er war an die rollenden Ebenen gewohnt, in denen sein Vater ihn aufgezogen hatte. Dort gab es außer ein paar dünnen Bäumen, die an den Bächen standen, nichts, was größer als ein Mann war.

Das Hauptquartier des Kommandanten bestand aus einer Gruppe von niedrigen Hütten mit nur einem Raum, die entlang einer Bodenwelle standen. Vor jeder befand sich eine Feuerstelle zum Kochen. Ihre Silhouetten wurden von einzelnen Felsen und von Geröll unterbrochen, die sie umgaben. Um das Gelände verliefen Schützengräben, der Zugang wurde durch ein MG-Nest gesichert, und an den gegenüberliegenden Hängen lagen einige Stellungen mit Mörser-Batterien. Aus der Größe der Anlage und der Qualität der Organisation schloß Custis, daß der Kommandant etwa vierhundert Leute zu seiner Verfügung hatte.

Custis fragte sich, woher er den Nachschub für sie alle bekam. Nach dem zu schätzen, was er um sich erkennen konnte, gelang es ihm nicht besonders gut. Die Hütten hatten Lehmböden und waren dunkel und heruntergekommen. Ein paar abgehärmte Frauen trugen in abgeschnittenen Ölkanistern, die zu Eimern umgearbeitet worden waren, und die sie auf dem Kopf balancierten, Wasser aus einer Quelle nach oben. Ihre Kleider waren zerrissen. Die Kinder, die auf dünnen Beinchen neben ihnen herliefen, hatten tiefliegende Augen. Zwischen den Felsen lagen hier und da kärglich kleine Gärten. Oben an einem Ende des Tals graste eine kleine Herde magerer Kühe auf dem spärlichen Gras.

Custis nickte. Das bestätigte, was er sich schon seit Jahren gedacht hatte. Die Banditen überquerten zwar noch die Ebenen, um in republikanischem Gebiet zu plündern, aber sie würden es nie wagen, selbst Städte in der Prärie zu bauen, denn diese wären nicht zu halten. Es war eben unmöglich, sich jedermann zum Feind zu machen und zur gleichen Zeit den Übergang zu einem seßhaften Leben zu schaffen.

Da sie aber Frauen und Kinder hatten, benötigten die Banditen irgendwo ein festes Lager. So hatten sie sich bis hierher in die Berge zurückgezogen. Aber langsam wurden ihre Waffen unmodern. Sie waren ein Überbleibsel und starben langsam ab. Wenn die Städte einmal anfangen würden, ihren Besitz auszudehnen, würde kaum noch etwas da sein, um sie aufzuhalten. Falls es den Städten je gelingen würde, sich zu organisieren. Vielleicht starb alles. Der legendäre Osten und Süden waren zu weit weg, um eine Rolle zu spielen. Vielleicht war alles, was eine Rolle spielte, im Sterben begriffen.

„Hier hinein“, sagte der Kommandeur und deutete auf eine Hütte. Gefolgt von zwei Männern und schließlich dem Kommandanten gingen Henley und Custis hinein. Außer einer Liege und einem Tisch nebst Stuhl war die Hütte fast kahl. Die Möbel waren aus Abfallholz und Munitionskisten gefertigt. Der Kommandant setzte sich mit dem Gesicht zu ihnen hin. Seine braungefleckten, von Adern überzogenen Hände ruhten auf dem fleckigen Holz des Tischs.

Custis spreizte die Beine und stand entspannt da. Henley spielte mit seinen Fingern an seinen Hosennähten.

„Was ist mit Berendtsen, Major?“ fragte der Kommandant.

„Wir haben gehört, daß er noch lebt.“

Der Kommandant schnaufte: „Märchen!“

„Möglich. Wenn er aber tatsächlich noch lebt, dann sind die Berge hier logischerweise der beste Platz für ihn.“ Henley sah den Kommandanten bedeutungsvoll an.

Die Lippen des Kommandanten zuckten. „Ich heiße nicht Berendtsen. Ich trage nicht seine Farben. Und meine Männer nennen sich nicht Vereinigungsarmee.“

„Die Dinge ändern sich“, antwortete Henley. „Ich habe ja nicht gesagt, daß Sie Berendtsen sind. Wenn aber Berendtsen damals aus New York entkommen konnte, dann wäre es dumm von ihm gewesen, in der Nähe zu bleiben und seinen eigenen Namen zu gebrauchen. Falls er sich tatsächlich in den Bergen aufhält, dann hat er vielleicht kein Interesse daran, daß diese Tatsache bekannt wird.“

Der Kommandant verzog sein Gesicht. „Das bringt uns alles nicht weiter. Was wollen Sie von mir?“

„Informationen eben – wenn Sie welche haben. Wir zahlen dafür, in bar oder mit Nachschub, je nachdem, was Ihnen lieber ist, innerhalb von vernünftigen Grenzen natürlich.“

„Auch mit Waffen?“

Henley überlegte einen Augenblick. Dann nickte er. „Wenn Sie wollen …“

„Was dann mit den Leuten in den unabhängigen Städten passiert, das ist Ihnen egal – das glaube ich Ihnen gern. Wie steht es aber mit euren eigenen Leuten in den Randgebieten, wenn wir erst einmal wieder bewaffnet sind?“

„Es ist wichtig, daß wir diese Information bekommen.“

Der Kommandant lächelte dünn. „Keine Beteuerung, daß ihr für jedermanns Wohl, nur nicht für das eure regiert?“

„Meine Loyalität gehört der Siebten Republik. Ich gehorche meinen Befehlen.“

„Ohne Zweifel. Na gut, was wollen Sie wissen?“

„Kennen Sie hier in der Gegend irgendeine Gruppe, deren Anführer Berendtsen sein könnte?“

„Nein, hier gibt es keine anderen Gruppen. Ich habe sie alle vereinigt. Diese Information können Sie umsonst haben.“

„Aha.“ Henley lächelte zum erstenmal, seit Custis ihn kannte. Seine Lippen verzogen sich wie bei einer alten Jungfer. Seine Augenwinkel zogen sich nach oben, was ihn wie eine listige Katze aussehen ließ. „Sie hätten Geld von mir verlangen können, damit ich das herausbekomme.“

„Ich will mir lieber nicht die Finger schmutzig machen. Die paar rostigen Gewehre aus den alten Arsenalen sind mir so viel auch wieder nicht wert.“

Henley zuckte mit dem Mund. Er sah den herben Stolz im Gesicht des Kommandanten, der wie eine Maske von Jugend und Kraft auf den Wangen mit ihren grauen Bartstoppeln lag. Dann sagte er: „Also, wenn ich ihn jemals finde, dann bin ich dazu ermächtigt, ihm die Präsidentschaft der Achten Republik anzubieten.“ Seine Augen glitzerten und sanken wie Krallen in den Gesichtsausdruck des Kommandanten.

Custis knurrte in sich hinein. Eigentlich überrascht hatte ihn Henley nicht, wie er sich sagte.

Der alte Mann aber sah auf den Tisch herab. Seine Hände waren plötzlich zu Fäusten geballt. Nach einer langen Zeit hob er langsam den Kopf.

„Sie arbeiten also nicht wirklich für die Siebte Republik. Man hat Sie hierhergeschickt, um für eine neue Machtkombination eine nützliche Führerfigur zu finden.“

Henley lächelte wieder – leicht und selbstsicher. Er sah dabei wie ein Jäger aus, der auf seine Beute geschossen hat und nur darauf wartet, daß sie stirbt. „So würde ich es nicht sagen. Wir würden natürlich nie die Diktatur eines Mannes dulden.“

„Natürlich nicht.“ Der Kommandant hob einen Mundwinkel in die Höhe, und plötzlich erkannte Custis, daß Henley keineswegs so sicher war. Custis sah, wie er sich anspannte, als hätte ein sterbender Tiger plötzlich mit seiner Pranke ausgeschlagen. Der Kommandant hatte seine Augen zusammengezogen. „Im Augenblick habe ich mit Ihnen genug gesprochen“, sagte er. Custis fragte sich, wieviel von seiner Schwäche sorgfältig vorgetäuscht gewesen war. „Sie warten draußen. Ich möchte mit Custis reden.“ Er machte in Richtung der beiden wartenden Schützen eine Handbewegung. „Führt ihn hinaus. Bringt ihn in eine andere Hütte und paßt auf ihn auf.“

Custis aber blieb mit dem alten Kommandanten allein in der Hütte.

Der Kommandant sah zu ihm hoch. „Ist das Ihr eigener Wagen da draußen?“

Custis nickte.

„Sie handeln also nur im Auftrag der Siebten Republik. Aber eine besondere Loyalität der Regierung gegenüber empfinden Sie nicht?“

Custis zuckte mit den Achseln. „Zur Zeit weiß man nicht so genau, wer mein Auftraggeber ist.“ Er war bereit, den Kommandanten erst einmal reden zu lassen, um zu sehen, worauf er hinauswollte.

„Sie haben die Sache gut im Griff gehabt, heute morgen. Wie alt sind Sie – so um neunundzwanzig, dreißig?“

„Sechsundzwanzig.“

„Sie sind also vier Jahre nachdem sie Berendtsen umgebracht haben auf die Welt gekommen. Was wissen Sie über ihn? Was haben Sie gehört?“

„Das übliche Zeug. Nach der Seuche war alles zusammengebrochen. Berendtsen hat eine Armee zusammengestellt, das Gebiet übernommen, die Überlebenden einem Gesetz unterstellt und auf diese Art wieder Ordnung in das Ganze gebracht.“

Der Kommandant nickte. Es war das Nicken eines alten Mannes, der sein Urteil über die Vergangenheit fällte. „Zwischen der Seuche und Berendtsen haben Sie eine Menge Leute ausgelassen. Außerdem können Sie sich nicht vorstellen, wie schlimm es war. Aber das reicht. Wissen Sie, warum Berendtsen es getan hat?“

„Warum übernimmt jemand die Regierung? Er wollte oben sitzen, nehme ich an. Dann hat jemand anders gemeint, daß er zu groß geworden sei, und hat ihn umgelegt. Dann haben die Leute diesen Jemand umgelegt. Daß Berendtsen tot ist, dessen bin ich mir eigentlich ganz sicher.“

„So?“ Die Augen des Kommandanten ruhten unverwandt auf Custis.

Custis biß seine Kiefer zusammen. „Allerdings.“

„Sehe ich aus wie Berendtsen?“ fragte der Kommandant leise.

„Nein.“

„Aber ein handgemaltes Bild, das dreißig Jahre alt ist, sagt doch wohl nicht viel, oder, Custis?“

„Eigentlich nicht.“ Custis merkte, wie er nervös wurde.

„Aber Sie sind nicht Berendtsen“, knurrte er aggressiv. „Ich bin sicher, daß Berendtsen tot ist.“

Der alte Kommandant seufzte. „Gewiß. Erzähl mir von Chicago“, sagte er mit neuer Richtung. „Hat sich viel verändert? Haben sie saubergemacht und aufgeräumt? Oder verlassen sie einfach die Häuser, die wirklich zusammenzufallen drohen?“

„Manchmal. Aber manchmal versuchen sie auch, sie zu reparieren.“

„Nur manchmal.“ Bedauernd schüttelte der Kommandant den Kopf. „Ich hatte eigentlich gehofft, daß sie in der Zwischenzeit, ganz gleich, was für Männer jetzt oben sind …“

„Wann waren Sie das letzte Mal da?“

„Ich war noch nie da. Aber eine Stadt oder zwei habe ich schon gesehen.“ Der Kommandant lächelte Custis zu. „Erzählen Sie mir von Ihrem Kampfwagen. Früher gab es mal eine Zeit, da hatte ich eine Schwäche für mechanisches Gerät.“ Jetzt war er wieder zum alten Mann geworden, der sich in die Vergangenheit zurückträumte. Custis nahm er nur halb wahr. „Wir haben einmal eine ganze Stadt eingenommen, fast ganz ohne Infanterieunterstützung. Das ist sogar mit Panzern schwer, und ich hatte nur gepanzerte Fahrzeuge zur Verfügung. Nur zwanzig, und die schwerste Waffe, die sie hatten, waren die halbautomatischen Kanonen in den Halbkuppeln. Keine Ketten. Ich erinnere mich noch genau. Die Reifen haben sie uns fast sofort zerschossen, und wir sind durch die Straßen geholpert. Eigentlich nur gepanzerte Spähfahrzeuge, aber wir haben sie wie Panzer eingesetzt und die Stadt praktisch sofort eingenommen. Keine sehr große Stadt.“ Er sah auf seine Hände hinab. „Nein, nicht sehr groß. Trotzdem, ich glaube, das hat vorher noch keiner geschafft.“

„Kampf in den Straßen habe ich noch nie gemacht“, sagte Custis. „Ich habe auch keine Ahnung davon.“

„Wovon haben Sie denn Ahnung?“

„Arbeit im offenen Gelände. Das einzige, wofür ein Kampfwagen gut ist.“

„Ein Kampfwagen, richtig.“

„Mein lieber Herr, in der ganzen Republik gibt es keine fünf Kampfwagen, und eine große Reichweite haben auch die nicht. Der einzige Grund, warum meiner noch läuft, ist, daß er keinen Sprit braucht. Ich habe ihn in einem alten Depot der Vereinigten Staaten bei Miles City gefunden. Das war mal ein Testgelände. Mein Vater hat mir beigebracht, wie man so ein Ding führt, und ich hatte noch einen Freund dabei, Lew Gaines, und zusammen haben wir ihn zum Laufen gebracht.“

„Wie lange ist das her?“

„Sieben Jahre.“

„Und bis jetzt hat noch niemand versucht, Ihnen das Ding wegzunehmen?“

„Hören Sie, der Wagen hat drei Kaliber 50 MGs und zwei 75er!“

Der Kommandant sah ihn von Kopf bis Fuß an. „Verstehe.“ Er schürzte nachdenklich seine Lippen. „Und jetzt haben Sie ihn mir praktisch ausgeliefert.“

„Noch lange nicht. Meine Mannschaft ist noch drin, und ob Sie dazu bereit sind, sich Ihre Soldaten rösten zu lassen, nur um uns umzubringen und den Wagen völlig unbenutzbar zu machen, das ist doch wohl noch sehr die Frage!“

Der Kommandant hob eine Augenbraue. „So sehr ist das gar nicht die Frage.“

„Ich finde doch. Wir können uns einigen, daß wir uns gegenseitig voneinander zurückziehen, wenn dies das beste für uns beide ist.“

„Sie sind hier. Und Ihre Mannschaft ist unten am Berg.“

„Meine Mannschaft ist ohne mich genauso gut.“

Der Kommandant ließ die Sache auf sich beruhen, um ein anderes Thema anzuschneiden. „Sie müssen zugeben, daß Sie einen komischen Platz aufgesucht haben, wenn Sie ein Mann sind, der sich nur mit der Arbeit im offenen Gelände auskennt.“

Custis zuckte die Achseln. „Der Wagen mußte überholt werden. Chicago ist der einzige Ort, wo die Ausrüstung dafür zu finden ist. Und wenn ich die Werkstatt dort benutze, dann mache ich auch deren Arbeit. So einfach ist das. Das ist außerdem noch ein Grund, warum es sich für Sie und Ihre Leute nicht lohnt, den Wagen zu übernehmen. Wenn Sie irgend etwas daran kaputt machen, dann bleibt es für immer kaputt. Sie würden das auch – Sie haben doch mechanisches Gerät so gern. Wo ist denn Ihr Wagen? Abgenutzt, nicht? Jetzt gehen Sie zu Fuß.“

„Nein, wir haben Pferde.“

„Pferde!“

Der Kommandant lachte schief. „Sie haben recht. Um Sie von der Stelle zu bewegen, ist wohl einiges nötig, nicht wahr, Custis?“

„Kommt auf die Stelle an, auf der ich bin. Mein Vater hat mir beigebracht, mir diese Stellen sehr sorgfältig auszusuchen.“

Der Kommandant nickte wieder. „Würde ich auch sagen. In Ordnung, Custis, später will ich noch mal mit Ihnen reden. Einer von meinen Leuten wird in Ihrer Nähe bleiben. Sonst können Sie sich soviel umsehen, wie Sie wollen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie noch mal eine Expedition hier heraufführen werden. Wenn Henleys Pläne Erfolg haben, dann ganz bestimmt nicht. Aber auch nicht, wenn sie keinen haben.“

Er drehte sich um und griff unter die Liege nach einer Flasche. Custis versuchte vergeblich, sich zusammenzureimen, was der alte Kommandant gemeint hatte.

Draußen kochten sie ihr Mittagessen. Die Frauen des Lagers kauerten um die Feuerstellen, formlose, nach vorn gebeugte Gestalten. Sie rührten mit angekohlten, langen Holzlöffeln in den Töpfen. Der Essensgeruch lag in einer unsichtbaren Wolke über dem Platz und strich um die Hütten, weitete Custis’ Nasenflügel und zog seinen leeren Magen zusammen. Was diese Leute auch zubereiten mochten, es war heiß und roch anders als das breiige Fleisch aus den Verpflegungsdosen im Wagen.

Doch dann zuckte er die Achseln und dachte nicht mehr daran. Er ging gegen den Wind zu einem kleinen Felsbrocken hinüber und setzte sich darauf. Einer der Schützen des Kommandanten kam mit ihm und lehnte sich gegen einen fünf Meter entfernten Felsen. Er legte sein Gewehr in die Beuge seines dünnen Arms und sah Custis stetig mit kalten, schläfrigen Augen an.

Ein Haufen Kinder versammelte sich um die Feuer. Sie füllten Ölbüchsen, die grobe Griffe aus isoliertem Draht besaßen. Nachdem sie sie gefüllt hatten, verließen sie in Begleitung einiger Schützen, die als Eskorte fungierten, das kleine Tal und brachten den Soldaten, die um den Kampfwagen in Stellung lagen, ihr Essen. Custis sah ihnen eine Zeitlang zu und ignorierte sie dann, so gut er konnte.

Henley arbeitete also für eine Gruppe, die die nächste Regierung stellen wollte. Besonders überraschend war es nicht, daß die Siebte Republik ihren eigenen Tod finanzierte. Jede Regierung bestand mindestens zur Hälfte aus Leuten, die schon in der vorherigen gewesen waren. Sie spielten „Die Reise nach Jerusalem“ mit Titeln, und der Finanzminister einer Regierung war der Polizeichef der nächsten. Wer mit seinen Bestechungsgeldern nicht zufrieden war, überlegte sich sicher eine Methode, wie er in seiner nächsten Position mehr bekommen konnte.

Es sah verdammt danach aus, als würde Custis nicht bezahlt werden, wie immer der Kuchen auch angeschnitten wurde. Die Siebte Republik würde ihn nicht bezahlen, wenn er ohne Berendtsen zurückkäme, und falls er ihn fand, würde die Achte Republik sich nicht an die Verträge der vorherigen Regierung gebunden fühlen.

Custis verzog seinen Mund. Immerhin lief der Wagen den Umständen entsprechend gut. Wenn er hier jemals herauskommen würde, dann hätte Kansas City vielleicht einen Job für ihn. Er hatte Gerüchte gehört, daß dort unten etwas los sei. Er kannte die Gegend nicht, und es gab immer Gerüchte, daß es woanders besser sei, aber versuchen könnte er es. Oder er könnte sogar nach Osten gehen, wenn die Straßen über die Berge noch etwas taugten. Das könnte allerdings ein wirklich riskantes Unternehmen werden. Niemand wußte, was hinter den Appalachen vor sich ging. Vielleicht gab es dort eine Organisation, die selbst eine Menge Kampfwagen besaß und für Halbbanditen aus der Ebene keine Verwendung hatte. Sehr klug wäre es nicht, sich dorthin zu wenden. Tatsächlich wußte er tief in seinem Innern, daß er von den Ebenen im Norden nie weggehen würde, ganz gleich, welche Argumente er dafür oder dagegen hatte. Es war zu riskant, in eine Stadt zu fahren, wo schon lange keine Kampfwagen mehr gebraucht wurden.

Er fragte sich, wie es seinen Leuten in dem Wagen wohl gehen könnte. Er hatte bisher von dort drüben keine Schüsse gehört, und er erwartete auch keine. Aber es war eine verteufelte Situation, hier oben festzusitzen, nichts zu wissen und sich die Männer auf den Felsen anzuschauen, um die Zeit zu vertreiben.

Wenn man es sich so richtig überlegte, war es ein lausiges Leben. Man wartete auf den Tag, an dem man in eine Fallgrube unter dem Gras fiel, und das letzte, was man tun würde, wäre zu versuchen herauszuklettern, während oben die Leute, die die Grube gegraben hatten, mit ihren Messern warteten. Oder jedesmal die Unsicherheit, wenn man in eine der verlassenen Präriestädte hineinfuhr, wo angeblich niemand mehr lebte, ob nicht vielleicht jemand in einer versiegelten Tonne doch noch Benzin gefunden hatte und auf dich wartete, um dich anzustecken.

Aber was, zum Teufel, konnte man denn sonst tun? In den verdammten Städten wohnen, wo man sich das Kreuz in der Dreckfabrik eines anderen brach, wo es nur das zu essen gab, was man selbst gezogen oder gestohlen hatte, und auch davon nicht viel, wo man in irgendeinem Loch wohnte, das man erst erreichte, wenn man vorher zwölf Stockwerke die Treppen hochgestiegen war? Wo man im Winter erfror und in einer Seitenstraße wegen eines Mantels den Hals abgeschnitten bekam?

Custis schüttelte sich plötzlich. Zur Hölle damit. Er dachte im Kreis. Wenn man damit erst einmal anfing, dann hatte man schon verloren, bevor man irgend etwas unternahm.

Custis glitt von seinem Felsen herab, streckte sich auf dem Boden aus und dachte beim Einschlafen an Berendtsen.