Fünftes Kapitel

 

Matt war alt geworden für seine Jahre. Jim, sein ältester Sohn, war zweiundzwanzig und seine Tochter Mary zwanzig. Sein jüngster Sohn, Robert, war knapp über fünfzehn. Die Zivilisation, bei deren Wiedereinrichtung er geholfen hatte, umfaßte jetzt das gesamte Weichbild von New York.

Es war genug. Er konnte an seinem Fenster sitzen und ganz Stuyvesant überblicken, wo die Hausgeneratoren wieder Lichter in die Fenster gebracht hatten. Er nickte. Es war getan. Die Küste des großen Ozeans hinauf und hinunter, wo immer seine Erkundungsschiffe gewesen waren, glänzten auch die Lichter anderer Städte, wie er wußte. In diesen Städten mußte es noch andere Männer wie ihn geben, die zufrieden waren mit dem, was sie geschafft hatten. Diese Städte würden sich nun bald ausbreiten, die einzelnen Punkte der Zivilisation würden sich berühren und zusammenwachsen, und dann würde die Seuche vergessen, Land und Leute würden wieder eine Einheit sein.

Auch im Inland mußten andere Städte wieder zum Leben erwachen, noch isoliert durch die gebrochenen Bänder der Kommunikation und des Verkehrs. Und in dem Ackerland, das dazwischen lag, wo das Leben sich nicht wirklich verändert hatte, würden weitere Menschen warten, um ihnen die Hand zu reichen. Während eines Treffens mit seinen wichtigsten Unterführern sprach er zögernd darüber: Und Ted Berendtsen sah auf.

„Du hast recht, Matt. Das wird geschehen, und zwar bald. Aber hast du dir schon mal Gedanken darüber gemacht, was los sein wird, wenn es geschieht?“

Jim Garvin sah sich scharf um. Nein, sein Vater hatte sich darüber keine Gedanken gemacht. Er auch nicht, wenigstens nicht genau.

Berendtsen führte sein Argument zu Ende. „Von selbst werden wir jedenfalls nicht zusammenfließen. Da wird schon jemand Verbindungsrohre bauen müssen. Und wenn wir dann einmal den großen See haben, dann ist die Frage, wer der größte Frosch darin sein wird. Irgend jemand muß das übernehmen. Wir können dann nicht einfach glücklich und zufrieden bis ans Ende unserer Tage bleiben. Einer muß die Führung übernehmen. Welche Garantie haben wir denn, daß uns das paßt?“

Jim seufzte. Berendtsen hatte recht. Sie waren nicht ein Volk, das einmal getrennt gewesen war und jetzt wieder vereinigt wurde. Sie bestanden aus einem halben Hundert einzelner Zivilisationen, vielleicht noch mehr, von denen jede ihre eigene Gesellschaft und ihr eigenes Leben hatte. Es würde weder ein leichter noch ein glücklicher Vorgang sein.

Matt Garvin sah Jack Holland an und zuckte schwerfällig die Achseln. „Na, Jack, was meinst du zu dem Ganzen?“

Jim Garvin registrierte den Seitenblick, den Jack Holland Ted zuwarf, bevor er etwas sagte, und nickte still. Nicht Holland war wirklich der zweite Mann der Republik, sondern Berendtsen, so jung er auch war.

„Ich weiß nicht“, sagte Holland. „Ich meine, daß es noch mehr Gruppen wie unsere gibt, und es ist schon richtig, daß viele von ihnen anfangen, sich auf das umliegende Gebiet auszubreiten. Es wird aber noch eine ganze Weile dauern, bis wir etwas davon merken, was sich um Boston oder Philadelphia abspielt. Die tun doch genau dasselbe wie wir – sich ausbreiten und Land suchen, wo man Lebensmittel anbauen kann. Wir haben unsere Äcker draußen auf Long Island. Philly hat ebenfalls seine Ecke. Es dauert noch viele Jahre, bis wir so groß sind, daß wir mehr Land benötigen. Ihre Stadt ist sogar noch kleiner, und es dauert noch länger. Bis sie soweit sind, sind wir noch weitergekommen. Wir werden immer stärker sein als sie.“

Berendtsen schüttelte den Kopf, und die Geste reichte, um die Aufmerksamkeit aller auf sich zu ziehen. „Das ist nicht das ganze Problem“, sagte er.

Matt seufzte. „Wahrscheinlich nicht. Wie siehst du die Sache?“

„Nach den Berichten unserer Späher aus Boston sieht es so aus, als hätten sie in Neu-England wieder die gleichen Schwierigkeiten wie früher. Ihr Ackerland ist schlecht. Es gibt einen guten Grund dafür, daß sich dort oben soviel Industrie befand – von dem Boden kann man sich nicht ernähren. Sicher ist die Bevölkerung dort oben lange nicht mehr so dicht wie früher, aber die werden sich trotzdem schneller als alle anderen ausbreiten. Das müssen sie einfach. Sie brauchen viermal soviel Land wie wir, um denselben Ertrag zu erzielen.

Und Philly … die sind übel dran. Denen sitzen dort an der Küste Baltimore, Washington und Wilmington direkt auf der Pelle, von Camden ganz zu schweigen. Die treten auf keinen Fall gegen uns an, bevor sie ganz sicher sind, daß sie nicht von unten angegriffen werden. Mit der Situation können sie auf drei Arten fertig werden: Entweder können sie die Leute besiegen oder sich mit ihnen zu einem lockeren Bündnis gegen uns zusammenschließen, oder, und das befürchte ich, sie können sich auf einen schnellen Eroberungszug hierher vorbereiten, bevor die anderen Städte soweit sind. Wenn sie uns erst einmal im Griff haben, dann können sie sich darauf konzentrieren, sich die anderen vom Hals zu halten.“

Er lehnte sich nach vorn. „Also: Wir sind uns schon mal darin einig geworden, daß wir auf jeden Fall – egal, was passiert – unsere Seite oben sehen wollen.“

In Jim Garvins Zwerchfell zog sich etwas zusammen. Das war doch richtig, oder etwa nicht? Die Frage lautete inzwischen schon: Wie bringen wir die anderen dazu, sich nach unseren Vorstellungen zu verhalten? Aber was gab es denn für andere Vorstellungen? Ein Mann arbeitete für sich selbst, für das, was ihm gehörte. Eine Gesellschaft – eine Organisation von Menschen – machte dasselbe. Man kämpfte für das, was einem gehörte.

„Na schön“, sagte Berendtsen. „Wenn Philly hier heraufziehen würde, um den Laden zu übernehmen, dann würde ich mich ihnen anschließen. Das würden alle tun. Es wäre dann nicht mehr unsere Gesellschaft, aber es wäre wenigstens eine Gesellschaft. Wenn wir müßten, würden wir uns mit der Zeit schon daran gewöhnen.

Das gilt aber auch zu unseren Gunsten. Wenn wir einen anderen Verein übernehmen, dann würden sich die Bürger uns anschließen. Gern würden sie es vielleicht nicht tun. Einzelne werden bis zum bitteren Ende Widerstand leisten. Aber insgesamt wird die Gruppe zu uns gehören. Denkt darüber nach!“

Berendtsens Stimme und sein Gesichtsausdruck waren völlig unbeteiligt geblieben. Er sprach, als würde er eine Zahlenreihe vorlesen, und als er fertig war, lehnte er sich mit dem gleichen Verhalten in seinem Stuhl zurück.

Matt nickte langsam. „Ich denke, du hast recht. Im allgemeinen und auch, was Boston und Philadelphia betrifft. Aber die Leute sind in Bedrängnis. Sie werden schneller am Ball sein als wir.“

Jim sah sich wieder um. Holland nickte knapp, und auch er mußte zustimmen.

Er sah Berendtsen an und versuchte zum wiederholten Male, seinen Schwager und dessen Motive zu verstehen. Obwohl sie zusammen aufgewachsen waren, schien es keine leichte Antwort zu geben. Er konnte wohl vermuten, was Ted in einer bestimmten Situation tun würde, aber die tiefe, zugrundeliegende Motivation entzog sich seinem Zugriff. Er bezweifelte irgendwie, daß Mary dies besser gelingen würde. Sie konnten beide die Schale seiner ruhigen Zurückgezogenheit an manchen Stellen durchdringen, aber der ganze Theodor Berendtsen – der Mann mit dem Drahtseil-Körper und dem Rechenmaschinengehirn – entkam ihnen in unbewußter Ungreifbarkeit.

Was ist dafür verantwortlich, dachte er. Was war es, das sich hinter diesen grübelnden Augen verbarg, jedes Problem zerlegte und es ihm gestattete, so eiskalt zu sagen: „Hier zuschlagen, hier und dort. Nehmt das, dann wird dieser Teil zusammenbrechen, und ihr könnt euch den Rest holen“ – als sei das Ganze eine Maschine, die man auseinandernehmen und wieder zusammensetzen mußte, bis sie sauber und mühelos lief?

Und jetzt lag wieder etwas in der Luft. Jim sah noch einmal schnell zu seinem Vater hinüber. Gequält von Arthritis saß Matt halbverdreht in seinem Stuhl. Seine rechte Hand war fast vollständig nutzlos geworden. Aber selbst wenn sein Gehirn noch klar, seine Augen müde, aber noch wachsam waren, so dachte Ted doch ebenso gradlinig, und er war jeden Tag in der Stadt und gab Ryder Anleitungen für die Eingliederung der benachbarten Städte in New Jersey, während er selbst die Bronx und das untere Westchester säuberte.

Jim sah auf und bemerkte Jack Hollands Blick. Die beiden grinsten sich schief an und wandten ihre Aufmerksamkeit wieder Ted zu.

„Es gibt überhaupt keine Alternative“, sagte Berendtsen, immer noch, ohne seine Stimme zu erheben. „Ganz gleich, wie schnell sie sich da unten in Philadelphia vorbereiten – es dauert doch noch mindestens zwei Jahre, bis sie hierherkommen. Es gibt keinen Anhaltspunkt, daß Trenton bis jetzt etwas anderes ist als nur eine unabhängige Organisation.

Wir benötigen Nachschub. Wir brauchen schwerere Waffen, mehr Werkzeuge, mehr Maschinen. Wir brauchen Männer, die damit umgehen können. Und Boston müssen wir im Keim ersticken. Wir können es uns nicht leisten, an zwei Fronten zu kämpfen.“

Holland erstarrte in seinem Stuhl. „Du willst jetzt schon gegen Neu-England ziehen?“

Ted nickte. „Wir haben die Männer dazu. Sie sind daran gewöhnt, aggressiv zu kämpfen, statt nur ihr persönliches Eigentum zu verteidigen. Sie haben kapiert, daß die größte Sicherheit darin besteht, wenn zwischen der Grenze und ihren Familien die Entfernung so groß wie möglich ist. Sie haben es gelernt, daß eine gemeinsame Anstrengung ihnen mehr Essen und Nachschub einbringt als individuelle Plünderungsaktionen.

Unterwegs werden wir noch mehr Leute an uns binden. Wie der Verein heißt, dem sie vorher angehört haben, ist mir egal, unserer ist jedenfalls größer. Bei uns bekommen sie besser zu essen, und ihre Familien werden besser versorgt als bei irgend jemandem sonst.“

„Da müssen wir aber verdammt viel kämpfen“, sagte Matt.

„Nicht notwendigerweise“, gab Ted zur Antwort. „Wir machen den üblichen Versuch, sie dazu zu bringen, sich uns friedlich anzuschließen.“

Matt blickte Gus Berendtsens Sohn lange an und sagte nichts. Ted aber nickte mit einem schiefen Lächeln auf den Lippen langsam zurück. „Versuchen werden wir es, Matt.“

Jim sah Holland an, und der schaute nachdenklich zurück. Mit den ersten lokalen Organisationen würden sie ein Exempel statuieren müssen, da hatte er wiederum recht, aber danach würden sie bis Boston zügig vorankommen. Bis dahin würden ihre Streitmächte groß genug sein, um den Plan durchzuführen. Wenn sie erst einmal Neu-England als Rückendeckung hätten, wäre Philadelphia keine Bedrohung mehr.

Sie sahen beide auf und bemerkten, daß Matt ihren Gesichtsausdruck prüfte. Jim sah, daß Holland langsam nickte, und er tat dasselbe, weil Ted recht hatte.

Ja, dachte Jim, er hat recht. Wieder einmal. Er wußte einfach immer die richtigen Antworten, das konnte man nicht abstreiten.

„Das wird viele Tote geben“, sagte Jim, aber gewissermaßen nur für die Geschichtsaufzeichnungen. Ob es sie geben und wie sie aussehen würden, wußte er nicht.

Berendtsens Gesicht entspannte sich. Jim glaubte einen Augenblick lang, daß er es irgendwie geschafft habe, Gedanken zu lesen. „Ich weiß“, sagte er sanft. Jim brauchte ein paar Sekunden, bis sein Anflug von Aberglaube verflogen war und er sich klarmachte, daß Ted seine ausgesprochene Bemerkung beantwortet hatte.

 

„Na, was hat denn der große weiße Vater diesmal ausgebrütet?“ Bob stellte die Frage in sarkastischem Ton.

Jim sah seinen jüngeren Bruder müde an. „Nur ein paar Ideen, was demnächst in Angriff zu nehmen ist.“

Die ausweichende Antwort entmutigte Bob wenig, und Jim wurde klar, daß er ihm nur einen Köder hingeworfen hatte.

„So? Wann übernimmt er den Laden denn?“

„Verdammt noch mal, hör endlich auf mit deiner fixen Idee und laß mich in Ruhe!“ explodierte Jim.

„Nein, ich lasse dich nicht in Ruhe!“ gab Bob zurück. Er hatte einen roten Nacken, aber seine Augen glitzerten in einer Art perverser Freude darüber, daß es ihm gelungen war, Jim auf die Palme zu bringen. „Dir macht das Denken vielleicht keinen Spaß, aber deshalb werde ich dir doch deine tägliche Ration verabreichen. Berendtsen rückt in Richtung auf Vaters Stellung vor, so schnell er nur kann, und das weißt du auch. Er hat den Geruch von Macht in die Nase bekommen, als er wie ein Schlächter in die West Side eingefallen ist. Jetzt ist er gierig auf eine Chance, die Sache in größerem Maßstab zu wiederholen. Und du und Jack, ihr sitzt nur herum und laßt es zu, daß er Vater soviel herumstößt, wie es ihm gerade paßt!“

Jim holte tief Luft und sah Bob eine volle Minute fest an, bevor er es sich zutraute, ihm zu antworten. In seinem Innersten hatte er Angst vor diesen Wortschlachten mit seinem Bruder, wie er sich selbst eingestand. Bob hatte eine Menge Bücher gelesen. Ständig stöberte und schnüffelte er in der Stadt herum. Manchmal kampierte er wochenlang ununterbrochen in Büchereien oder brachte Bücher im Rucksack mit nach Hause, die er sorgfältig eingepackt hatte und mit denen er behutsamer umging als mit seinem Gewehr. Wenn Bob sprach, paßten seine Worte glatt ineinander. Er knüpfte mit sorgfältig aufgebauten Argumenten Netze, in die man sich verstrickte, bis man sich selbst bei dummem Schweigen ertappte, während Bob nur dastand und einen mit den Augen verhöhnte und Peitschenhiebe mit seinem Grinsen verteilte.

„Also zuerst mal …“, fing er an. Er mußte seine Worte gegen die barrikadierende Vorstellung herauszwängen, daß Bob offensichtlich geduldig darauf wartete, bis er sich eine Blöße gegeben hatte und angreifbar geworden war. „Teds Verstand gibt ihm das Recht, bei unseren Besprechungen dabeizusein. Er gehört da verdammt viel mehr hin als ich, laß dir das mal gesagt sein! Außerdem ist er nicht wie ein Schlächter in die West Side eingefallen, sondern er hat dabei geholfen, einen kleinen Teil davon zu erobern. Und ich weiß genau, daß ihm das keinen Spaß gemacht hat – weil ich nämlich dabei war, was man von dir nicht sagen kann, mein Lieber. Und wenn er eine Idee hat, wie das Leben für uns alle sicherer werden kann, dann kannst du sicher sein, daß wir sie ausführen. Vater wird alt, damit müssen wir uns abfinden. Er hört auf Ted – und Jack Holland auch. Ich meine, wenn Ted nach Norden vorstoßen will …“

Er hielt abrupt an und starrte Bob hilflos an, dessen Augen sich geweitet hatten und der ihn halb auslachte, weil er sich verplappert hatte.

„Gut, gut, er will eine Streitmacht nach Boston führen. Na und? Er hat verdammt gute Gründe dafür!“ stieß Jim hervor, weil er seine Stellung untermauern wollte.

„Das kann ich mir vorstellen“, sagte Bob und drehte sich um, als hätte er das bessere Argument gehabt. Er ließ Jim stehen, der die unbegründete Überzeugung in sich zu bekämpfen versuchte, daß dies tatsächlich der Fall war.

„James Garvin, ich wäre dir dankbar, wenn du aufhören würdest, deinen Bruder zu beschimpfen“, sagte seine Mutter ärgerlich von der Tür aus.

„Ich habe ihn gar nicht …“, begann Jim, schnaufte aber dann und zuckte hoffnungslos die Achseln. „Ist schon recht, Mutter“, sagte er und ging mit einem entschuldigenden Ausdruck auf seinem Gesicht, der stark von Frustration überschattet war, an ihr vorbei in die Wohnung. Er hing sein Gewehr auf und ging in sein Zimmer. Dort setzte er sich auf sein Bett und starrte bis zum Abendessen ärgerlich die Wand an.

 

Ted und Mary aßen an diesem Abend bei ihnen. Zu Beginn des Essens saß Jim nervös zwischen seinem Vater und Bob. Er hoffte zwar, daß die gegenwärtige Stille anhalten würde, wußte aber, daß dies angesichts Bobs schlechter Laune extrem unwahrscheinlich war. Ted widmete sich ruhig seinem Essen, und Mary an seiner Seite gab sich wie üblich kontrolliert und kühl.

Jim biß wütend in ein Stück Maisbrot. Er zog damit einen amüsierten Blick von Bob auf sich, der wie üblich nichts von dem versäumte, was um ihn herum vorging, und dem die Situation wahrscheinlich großen Spaß bereitete.

Schließlich schob sein Vater den Teller ungelenk zur Seite und sah auf. „Jim, ich nehme an, du hast deiner Mutter und Bob erzählt, welche Entscheidung wir heute bei der Versammlung getroffen haben?“

Jim verzog sein Gesicht. „Ich habe noch keine Gelegenheit gefunden, es Mama zu erzählen. Bob hat sich natürlich alles selber zusammengereimt.“

Sein Vater warf ihm einen kurzen Blick zu, in dem Überraschung und Verständnis gleichermaßen mitschwangen. Beides war sofort verschwunden, als er sich umdrehte, um Bob fragend anzusehen. Jim fiel es auf, daß Ted noch immer mit gleichmäßigen, ökonomischen Bewegungen aß. Solange er sein Abendessen zu Ende brachte, sah er nicht auf.

„Na, was hältst du davon, Bob?“ fragte Matt.

Bob zog eine Augenbraue hoch und warf einen schnellen Blick auf Ted, bevor er wieder seinen Vater ansah.

„Bist du sicher, daß das in Ordnung geht, wenn ich denke, wenn doch der Große Häuptling hier sitzt und für mich mitdenkt?“

O nein, dachte Jim und wünschte sich, daß die ganze Szene mit einem großen Donnerschlag verschwinden würde. Sogar seine Mutter sah Bob voller Erstaunen an. Jim traute sich nicht, seinen Vater anzusehen.

Ted sah auf, scheinbar ohne jede Überraschung. „Das hört sich an, als hätte das schon eine ganze Weile gekocht, Bob“, sagte er ruhig. „Willst du mir nicht davon erzählen?“

Jim seufzte so leise er konnte. Er spürte, wie die Spannung des Schocks seinen Vater neben ihm langsam verließ. Auch seine Mutter entspannte sich, während Mary, die ihre Gabel hingelegt und Bob ernst angesehen hatte, wieder zu essen begann.

Er hat die Sache übernommen, dachte Jim. Ted hatte die Gewalt von Jims Explosion aufgefangen und ihre Wirkung von ihnen allen abgelenkt. Das war jetzt seine – und ganz allein seine – Verantwortung. Und während die Augen Matt Garvins auf seinen Sohn geheftet waren, sagte er nichts, was immer er auch fühlen mochte.

Bob sah Ted weiterhin an, aber Jim konnte erkennen, daß es ihn Mühe kostete. „Ja, das ist richtig“, sagte er schließlich. Er sprach leise, aber seine Stimme war angespannt und verzweifelt, und Jim konnte einen Augenblick lang erkennen, was er empfand. Er hatte einen Stein in einen Tümpel geworfen, ein unerwartet bedeutungsloses Klatschen erzeugt und fand sich plötzlich bis zum Hals im Wasser. Jim wollte grimmig lächeln, machte sich aber klar, daß dies nicht der rechte Augenblick dafür war.

„Ja, das ist richtig“, wiederholte Bob mit schriller werdender Stimme. „Ich habe hier gesessen und dich dabei beobachtet, wie du überall die Führung übernommen hast, und ich finde, das stinkt zum Himmel.“ Sein Atem rasselte, und sein Gesicht war feuerrot geworden. Er hatte sich selbst in eine unmögliche Position gebracht, und jetzt konnte er nur noch nach vorn stürmen.

Ted nickte langsam. „Ich finde, du hast recht.“

Und wieder war Bob hilflos.

„Ich finde, daß du recht hast, weil ich der Meinung bin, daß niemand an meiner Stelle stehen dürfte“, fuhr Ted im gleichen ruhigen Tonfall fort. „Ich bin aber unglücklicherweise hineingewachsen, wie es scheint.“

„Mit allerlei Kraftfutter!“ schoß Bob, der sich wieder erholte, zurück.

Ted zuckte die Achseln und ließ mit geschlossenen Lippen einen tiefen Seufzer hören, der für ihn völlig uncharakteristisch war. „Das liegt an der Natur unserer Zeit, Bob. Wenn du andeuten willst, daß ich auf irgendeine Art und Weise Druck ausgeübt habe, dann möchte ich dich fragen, woher ich denn die Autorität haben soll, um ihm Nachdruck zu verleihen. Statt dieser Annahme zu folgen, würde ich sagen, daß unsere Zeit so beschaffen ist, daß der Druck erzeugt wird, der einen Mann dazu veranlaßt, mehr Entscheidungen als ein anderer zu treffen. Es gibt eine gewisse schrittweise Logik, der menschlichen Natur angeboren, die gemeinsam mit den Eigenheiten der menschlichen Psychologie dafür sorgt, daß sich der Mensch immer in der größtmöglichen Gruppe organisiert. Zivilisation ist unvermeidlich, wenn du ein Schlagwort hören willst. Wir sind zufällig in diesem Stadium im Übergang vom Stadtstaat zum Nationalstaat begriffen. Eine solche Bewegung verlangt danach, daß die einzelnen Teile mit Gewalt zusammengeschweißt werden. Ich möchte dich daran erinnern, daß Griechenland nichts als eine Ansammlung aufgeklärter, aber kleiner, uneffektiver und zerstrittener Stadtstaaten war, bis Philipp von Makedonien aufgetaucht ist.“

Bob sah seinen Einsatz. Sein Mund verzog sich zu seinem charakteristischen dünnen Lächeln, und seine Stimme gewann wieder Selbstvertrauen. „Heil Berendtsen!“

Ted nickte. „Wenn du so willst, ja. Obwohl ich eine – ich hoffe, das ist das richtige Wort – Analogie zu Caesar bevorzugen würde. Wenn du denkst, daß mir der Gedanke Spaß macht …“ Zum erstenmal verhärtete sich seine Stimme, und als Jim etwas von dem ruhelosen Tier erkennen konnte, das Teds Gedanken nachts heimsuchte, wurde er blaß. „… dann schlage ich vor, Bob, daß du deinen Gibbon etwas sorgfältiger liest.“

„Sehr hübsch“, antwortete Bob. „Sehr hübsch. Das Geschick hat sich seinen Sohn auserkoren, und alle Sterne zeigen auf Berendtsen! Vielen Dank, da ist mir Hitler ja noch lieber.“

„Ich fürchte, du wirst mich nicht los“, sagte Ted und aß den Rest seiner Erbsen auf.

„Also, du egozentrischer …“

„Robert, du gehst jetzt sofort auf dein Zimmer und bleibst dort!“ rief seine Mutter. Sie hatte sich mit gerötetem Gesicht halb von ihrem Stuhl erhoben. „Ted, das tut mir alles sehr leid. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“

Ted sah auf. „Wißt ihr, als ich gesagt habe, daß er recht hat – da wollte ich nicht einfach höflich sein.“

Margaret Garvin schaute ebenso verblüfft drein, wie Bob es getan hatte. „Also, also …“, stotterte sie, „ich weiß nicht …“

„Wie wär’s denn, wenn wir erst einmal zu Ende essen würden“, sagte Matt. Einen Augenblick lang hoffte Jim, man würde ihm gehorchen. Aber Bob schob seinen Stuhl zurück und stand auf.

„Ich glaube, ich habe im Augenblick keine besondere Lust, hier zu essen“, erklärte er und stürmte aus der Wohnung.

„Er hat sein Gewehr vergessen“, meinte Jim, der sich über die Gelegenheit freute, endlich auch etwas sagen zu können.

Ted sah ihn an. Seine Lippen verzogen sich zu einem dünnen Grinsen. „Das würde momentan auch so besonders zu seiner Verfassung passen, oder was meint ihr?“

„Da magst du recht haben“, gab Jim zu. Er senkte seinen Blick auf den Teller. Er hatte heute etwas über Ted Berendtsen gelernt, aber es war ihm noch immer unklar, was es war, das ihn die Kraft seiner ruhigen Autorität ausstrahlen ließ, als sei sie körperliche Stärke.

Jim blickte wieder auf und sah, wie Ted mit Augen, die so alt waren wie die von Matt, durch das Zimmer die leere Wand anstarrte. Matt selbst versuchte, über den Tisch Margaret zu erreichen, um ihr allein mit seinem Gesichtsausdruck eine wortlose Erklärung zu geben.

„Matt, du solltest ihm möglichst bald einen Bezirk zur Verwaltung geben.“ Berendtsen sagte es unerwartet. Er lächelte über Matts Erstaunen. „Er benutzt sein Hirn.“

Matt schnaubte – ein Geräusch, das irgendwie schmerzhaft klang. Das Geräusch, das ein Mann von sich gibt, wenn er etwas verurteilt, was ihm teuer ist.

„Das ist hier immer noch eine Republik“, erinnerte ihn Ted. „Mir ist es lieber, wenn er mit mir diskutiert, als wenn er herumsitzt und dumpf vor sich hinbrütet. Er lernt jetzt gerade das Denken. Mit ein bißchen Übung wird er soweit sein, daß er lernt, an seinen Gefühlen vorbeizudenken. Vergiß nicht, daß wir bald dutzendweise Verwalter benötigen.“

Matt nickte langsam. Ein wenig von dem verlorenen Stolz auf seinen Sohn kehrte zurück. „Mal sehen.“

„Glaubst du, daß er recht hatte?“ fragte Mary und sah ihren Mann ernst an.

Jim wandte seinen Blick seiner Schwester zu. Ihre Bemerkung war ganz und gar typisch für sie. Sie saß manchmal für Stunden da, beobachtete und hörte zu, und was in ihrem Kopf vorging, das konnte wahrscheinlich nur Ted Berendtsen erraten. Vielleicht sogar nicht einmal er. Schließlich sagte sie dann vielleicht ein paar Worte, etwa so, wie sie es eben getan hatte.

„Heil Berendtsen? Ich weiß es nicht“, gab Ted zu. „Ich glaube eigentlich, nein – aber auf der anderen Seite weiß man es selbst nie, wenn man verrückt wird, oder?“

Und Jim konnte noch einen weiteren Blick auf die besonderen Höllen werfen, die Berendtsen für sich selbst reserviert hatte.

Als sie Boston erst einmal erreicht hatten, erwies sich das Ganze als leicht. Sie besetzten die Vorstädte, riegelten die Innenstadt ab, und Matt schickte eine kleine Flotte los, um den Hafen zu kontrollieren. Die Nachricht, daß Providence gefallen war, mußte die Stadt schon erreicht haben, denn der Widerstand war sehr schwach. Nicht so sehr die überwältigende Zahl von Berendtsens Streitmacht erzwang die Übergabe, sondern vielmehr das erdrückende Wissen um die blutige Geschichte des letzten Jahres. Zu jener Zeit, als sie Boston erreichten, gewannen die Toten mehr als die Lebenden die Schlachten für Berendtsen.

In der Zwischenzeit waren sie zu einer Armee geworden; sie waren nun nicht länger nur der „New Yorker Haufen“, sondern die Vereinigungsarmee. Jetzt marschierten Männer aus Bridgeport und Kingston neben anderen aus Lexington und Concord mit ihnen.

Der Infanterie-Unteroffizier James Garvin stand mit seinem Obergefreiten, einem Mann mit hagerem Gesicht, der an einer Pfeife sog, auf einem Hügel und sah dem Aufmarsch der Truppen zu.

„Die Vereinigungsarmee“, sagte Drumm, so war sein Name, nachdenklich. „Auch eine von den fast beiläufig brillanten Ideen deines Schwagers. Kein lokaler Aufhänger, sondern mit angenehmen idealistischen Untertönen. Es ist keine Schande, von ihr geschlagen zu werden, weil es ja eine ‚Armee’ ist, und man kann sich selbst viel leichter davon überzeugen, daß man sich ihr anschließen sollte, weil noch das eingeschlossene Ideal ‚Vereinigung’ für sie spricht. Weißt du, mehr und mehr komme ich zu der Überzeugung, daß Berendtsen eines von diesen seltenen Universalgenies ist.“

Jim brummte und stopfte sich seine Pfeife mit dem halbfermentierten Tabak aus Connecticut, an den er sich langsam gewöhnte. Er konnte Drumm gut leiden. Seit er sich ihnen anschloß, hatte er sich als ein guter Soldat erwiesen, und außerdem konnte man sich mit ihm irgendwie angenehm unterhalten. „Er bringt’s hervorragend“, stimmte Jim zu.

Drumm lächelte leicht. „Eine gelinde Untertreibung.“ Ein nachdenklicher Ausdruck huschte über sein Gesicht, und er drehte sich um und sah zu der Gruppe von Offizieren hinüber, die sich zur Befehlsausgabe um die Gestalt Berendtsens drängte. „Ich frage mich manchmal, was so ein Mann von sich selbst denkt. Ist er sein eigener Held, oder brennt eine Botschaft in ihm? Hält er sich selbst vielleicht nur für einen Mann, der seine Aufgabe erfüllt? Schließt er die Augen vor den Zeichen, die ihm sagen, daß manche von seinen Männern ihn hassen und manche ihn lieben? Versteht er, daß es Männer wie uns gibt, die neben ihm stehen und versuchen, jede seiner Bewegungen zu analysieren?“

„Ich weiß es nicht“, sagte Jim. Das war ein altes Thema, und die beiden sprachen immer wieder davon. „Mein kleiner Bruder hat eine Theorie über ihn.“

Drumm spuckte am Mundstück seiner Pfeife vorbei. „Hatte eine Theorie – in der Zwischenzeit hat er bestimmt ein weiteres Dutzend entwickelt, oder er benimmt sich atypisch.“ Er seufzte. „Na ja, ich denke, wir brauchen junge Intellektuelle, wenn wir irgendwann wieder mittelalterliche Philosophen haben wollen. Ich wünsche mir nur, daß sich ein paar von ihnen klarmachen, daß sie selbst das ihrige zu der hohen Sterblichkeitsrate bei ihnen beitragen.“ Er grinste schief. „Ganz besonders in diesen besonderen Zeiten. Na …“ – er nickte herab zu den Soldaten – „… wird Zeit, daß wir uns wieder auf den Weg machen. Hallo Maine, aufgepaßt, jetzt kommen wir.“

Jim ging den Hügel hinunter zu seiner Gruppe. Maine, jetzt kommen wir, dachte er. Und dann wieder die Küste hinunter und heim. Und dann wieder hinaus, nach Süden. Die schmutzige, bittere, rauchende Grenze und hinter ihr – die Einheit. Er bemerkte bei sich mehr und mehr, daß seine Motivation sich vom reinen Zweckdenken zur abstrakten Idee einer neuen Nation verschob und zu dem Glauben daran, daß die Zivilisation sich wieder aufrichtete. Aber der Dreck und die Bitterkeit standen davor, und er und Harvey Drumm marschierten mit, hinter Ted Berendtsen her.

 

Sie standen tief in Connecticut und waren auf dem Rückmarsch, auf dem nur noch ein paar Widerstandsnester auszuräumen waren, die sie auf dem Hinweg ausgelassen hatten, als Jack Holland, der jetzt Jims Kompaniechef war, zu ihm kam.

Jack war der gleiche selbstsichere, beherrschte Kämpfer geblieben, der er immer gewesen war. Das Wetter hatte sein Gesicht, wie auch das von Jim, gebräunt und gegerbt, und er trug einen alten Armeehelm, aber sonst war er unverändert. Er hatte sein Gewehr noch immer im gleichen Winkel geschultert, und auch sein sicheres Auge war ihm geblieben. Heute aber war sein Gesichtsausdruck zu einer seltsamen Maske erstarrt. Jim sah ihn scharf an.

„Ted will dich sprechen, Jim“, sagte er mit ausdrucksloser Stimme. „Bist du frei?“

„Klar.“ Jim winkte mit der Hand zu Drumm hinüber. Der Obergefreite nickte.

„Ich passe schon auf, daß sie sich nicht in die Hosen machen“, sagte er und beschwor damit einen Chor höhnischer Bemerkungen von den Männern herauf.

„Also los“, sagte Jim und ging mit Holland zurück, der schwieg und ihm keinen Anhaltspunkt über den Grund seines Kommens gab. Sie kamen zu Berendtsen, der ihnen ohne die übliche Gruppe von Offizieren, die auf Befehle warteten, allein entgegenblickte. Wieder runzelte Jim die Stirn, als er sah, daß auch Berendtsens Maske starrer war als sonst. Darin lag etwas Beängstigendes.

„Tag, Jim“, sagte Berendtsen und streckte seine Hand aus.

„Wie geht’s, Ted?“ sagte Jim. Der Händedruck war so fest und freundlich wie immer, und Jim fragte sich, ob es seine eigene Einstellung gewesen war, die ihn hatte denken lassen, daß sie weiter auseinandergerückt waren als in der Vergangenheit.

Ein grimmiges Lächeln umspielte kurz Berendtsens Lippen, aber danach war sein Gesicht trauriger, als Jim es je gesehen hatte.

„Bob hat gerade über Funk mit mir gesprochen“, sagte er sanft. „Matt ist gestern gestorben.“

Eine plötzliche Kälte spannte die Haut über Jims Backenknochen. Er bemerkte zwar, daß Jack ihm die Hand auf die Schulter gelegt hatte, aber in den ersten paar Sekunden spürte er eigentlich überhaupt nichts. Für den Rest seines Lebens konnte er es sich nicht in sein Gedächtnis zurückrufen, wie dieser Augenblick wirklich gewesen war.

Schließlich sagte er: „Wie ist es passiert?“, weil es das einzige war, was ihm einfiel und sich einigermaßen normal anhörte, ohne in ihm eine Lawine von Gefühlen auszulösen, die er nicht mehr hätte kontrollieren können.

„Er ist im Bett gestorben“, sagte Berendtsen mit noch sanfterer Stimme. „Bob konnte nicht sagen, was wirklich verantwortlich war. Es gibt so viele Sachen, die man bekommen kann und mit denen man leicht fertig werden würde, wenn man Ärzte mit einer richtigen Ausbildung hätte. Aber alles, was wir haben, sind ein paar schlaue junge Männer, die einige medizinische Lehrbücher gelesen haben und zu stolz sind, um zuzugeben, daß sie Klempner sind.“

Die Tatsache, daß Ted so voller Bitterkeit war, zeigte, wieviel er von Matt gehalten hatte.

 

Auf dem ganzen Weg den Hudson entlang war Harvey Drumm der wichtigste Fixpunkt in Jim Garvins Bewußtsein. Harvey Drumm und das, was er gesagt und getan hatte.

Sie hatten ihr Lager vor Albany aufgeschlagen. Jim und Harvey hatten mit dem Rücken an einem Baum gelehnt gesessen und ruhig geraucht.

„Also“, sagte Drumm schließlich, „ich schätze, morgen früh siehst du mich nicht mehr. Der junge Sawtell in der dritten Gruppe wird einen guten Obergefreiten abgeben. Du kannst ihn an Millers Stelle einsetzen und Miller meinen Posten geben. Was hältst du davon?“

„Für Miller und Sawtell hört sich das gut an“, antwortete Jim. „Ob es auch mir gefällt, bin ich mir nicht so sicher. Willst du abhauen?“

Drumm zog an seiner Pfeife. „Ja und nein. Man könnte vielleicht sagen, daß ich Missionarsarbeit machen will.“

Das ergab nicht viel Sinn. „Du spinnst“, sagte Jim mechanisch.

Drumm lachte leise. „Nein. Das einzige, was daran versponnen ist, das ist meine Neugier. Die Schwierigkeiten, die ich damit habe … sie wird ständig befriedigt, und dann muß ich mir wieder etwas Neues suchen. Das und mein Mundwerk. Ich muß mit meinem Mundwerk die Neugier von anderen Leuten befriedigen, ob sie das wollen oder nicht. Diese beiden muß ich über den nächsten Berg tragen, es ist höchste Zeit. Vielleicht über das nächste Gebirge.“

„Hör mal zu, ich bin dein Vorgesetzter und könnte dich erschießen lassen.“

„Erschieß mich doch.“

„Ach, verdammt noch mal! Warum willst du jetzt abhauen? Ted führt die Armee zu einer Reihe von neuen Städten. Willst du denn nicht dabei sein, wenn du so neugierig bist?“

„Wie Teds Geschichte von nun an weitergeht, das weiß ich jetzt schon. Ich glaube, er weiß es wohl auch.“ Aus Drumms Stimme war nun jeder Anflug von Humor verschwunden. „Ich glaube, er hat die gleichen Bücher wie ich gelesen, als er einmal wußte, was er zu tun hatte. Nicht, daß wir beide genauso vorgehen, aber die Quellen sind die gleichen.

Sieh mal, aus Büchern kannst du eine Menge lernen. Da erfährst du einfache, praktische Dinge. Dinge wie, zum Beispiel, welche Beziehung ein Schlüssel zu einer Schraubenmutter hat, sie sagen allerdings nichts darüber, wie du den Schlüssel am besten in der Hand hältst, damit du am besten damit arbeiten kannst. Wenn du ein bißchen Ahnung hast, kriegst du das aber selbst heraus. Mit erheblich komplizierteren Sachen ist es genauso.

Weißt du, kurz vor der Seuche war es fast sicher, daß die Vereinigten Staaten mit einem Land namens Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken Krieg führen würden. Zuerst hat man angenommen, daß als Waffen hauptsächlich Bomben eingesetzt werden würden. Nach einiger Zeit hat sich aber die Meinung durchgesetzt, daß es viel besser sei, bakteriologische Waffen einzusetzen, statt die ganzen nützlichen Maschinen zu zerstören und das Land auf Jahre hinaus, ja sogar Jahrhunderte hinaus zu vergiften. Krankheiten. Kurzzeitig wirkende Pflanzengifte. Lähmende Chemikalien. Bis heute weiß niemand sicher, ob die Seuche, die über uns hereingebrochen ist, nicht irgendein Stoff war, den man entwickelt hat und gegen den alle bekannten Antibiotika und andere Abwehrstoffe wirkungslos bleiben – und der durch einen Unfall aus einem Arsenal freigesetzt wurde. Natürlich hat das jeder abgestritten, aber das soll uns nicht weiter interessieren.

Aber jetzt stell dir mal vor, jemand hätte ein Buch geschrieben und darin erzählt, wie es für die Leute werden würde, wirklich werden würde, die so etwas überleben. Und dann stell dir mal vor, Tausende von Exemplaren von diesem Buch hätten in Tausenden von Läden offen herumgelegen, und die Leute nach der Seuche hätten sie sich holen können.

Denk mal, was sie für Fehler hätten vermeiden können.

Dazu sind Bücher da. Bücher – und großmäulige, neugierige Leute wie ich. Wir nehmen in unserem Kopf einen Haufen Zeug auf, während andere Leute damit beschäftigt sind, praktische Sachen in Angriff zu nehmen. Wenn die dann unseren Kram benötigen, dann kommen wir dran und geben ihn ihnen.

Ich muß also weg. Draußen in der großen Welt muß es Leute geben, die jemanden brauchen, der ihnen erzählt, was es mit einer Schraubenmutter auf sich hat und was man mit einem Schraubenschlüssel anfangen kann.“

„Die erschießen dich doch höchstwahrscheinlich, sobald du irgendwo auftauchst.“

„Dann erschießen sie mich eben. Dann werden sie es nie herauskriegen. Ihr Pech.“

Jim Garvin seufzte. „Na gut, Harv, du sollst deinen Willen haben.“

„Den setze ich meistens durch.“

„Wo willst du hin?“

„Nach Süden, denke ich. Kalten Regen habe ich schon immer gehaßt. Nach Süden und über die Berge. Ich glaube nicht, daß Berendtsen Zeit hat, nach New Orleans zu kommen. Eigentlich eine Schande. Ich habe gehört, daß das eine schöne Stadt ist.“

„Na ja, wenn du gehen mußt, dann mußt du eben gehen“, sagte Jim. Er überging, was Harv über Berendtsen gesagt hatte. Das würde er selbst erleben. „Ich wünschte, du würdest es dir anders überlegen. Für einen Maulhelden gibst du einen recht guten Obergefreiten ab.“

„Tut mir leid, Jim. Ich will lieber die Welt erobern.“

Sie hatten sich in der Dunkelheit die Hände gegeben, und das letzte, was Jim Garvin jemals von Harvey Drumm, diesem langbeinigen Mann sah, war, wie er fortging und ein altes Lied pfiff, das er manchmal am Lagerfeuer gesungen hatte. Es war ein altes Marschlied aus der australischen Armee, wie er sagte, und hieß „Waltzing Mathilda“. Einige der Textpassagen ergaben allerdings nicht viel Sinn.

 

„Na, was willst du jetzt machen?“ fragte Bob Garvin. Sein Mund war auf der einen Seite hochgezogen. Die paar Jahre, die vergangen waren, hatten ihn nicht verändert.

Berendtsen sah ihn kühl an. „Die Armee nach Süden führen. So bald wie möglich. Die Philadelphia-Organisation hat Trenton übernommen. Das weißt du besser als ich. Du hast den ersten Bericht bekommen.“

Bob lächelte dünn. Jim sah ihn an und zuckte zusammen. Er versuchte, im Gesichtsausdruck seiner Mutter etwas Trost zu finden, aber sie saß nur mit unruhigem Gesicht da und hatte die Hände in den Schoß gelegt.

„Es bleiben immer ein paar Welten, die man erobern kann, was? Dann geh eben. Ich bin froh, wenn ich dich los bin.“

Mary sah auf. „Ich weiß nicht, ob das richtig ist, was du machst, Ted. Du weißt genausogut wie ich, was er vorhat. Er hat diesen Mackay zum Bürgermeister wählen lassen. Er hat die Hälfte von den niedrigeren Verwaltungsstellen in der Tasche. Er ist doch nur deshalb so eifrig bemüht, dich aus New York herauszuhalten, weil er dann alles übernehmen kann.“

Ted ignorierte wie Mary Bob vollständig. Jim lächelte über den Ärger seines Bruders.

„Tut mir leid, Mary“, sagte Ted sanft, „aber wir haben eine Republik. Bob ist völlig im Recht, wenn er versucht, seine Gruppe in eine Führungsposition zu bringen. Wenn das Volk entscheidet, daß es ihn will, dann habe ich kein Recht dazu, ihn davon abzuhalten, ganz gleich, welches Prestige mir die Armee gibt.

Außerdem muß ich wieder hinaus. Es wird mir immer klarer, daß soviel wie möglich von dem Land vereinigt werden muß. Die Mittel, die für diese Vereinigung notwendig sind, gefallen mir nicht besonders, aber das Wesentliche – das einzig grundsätzlich Wesentliche – ist die Vereinigung. Dahinter tritt alles andere zurück. Danach muß das Volk entscheiden, wie das vereinigte Land im Innern verwaltet werden soll. Aber zuerst einmal muß die Vereinigung erreicht werden.“

Mary schüttelte in ärgerlicher Enttäuschung ihren Kopf. Jim sah zum erstenmal all jene Gefühle, die sie unter der heiteren Oberfläche verbarg.

„Bist du des Tötens noch nicht müde? Warum versteckst du dich hinter all den Plänen und Zielen für die Zukunft? Kannst du nicht irgendwann einmal an das Heute denken, an all die Menschen, die du jetzt umbringst?“

Ted seufzte und ließ einen nackten Augenblick lang seine Maske ganz und gar fallen, bis selbst Bob Garvin blaß wurde.

„Es tut mir leid, Liebling. Aber ich baue nicht etwas nur für jetzt auf. An einzelne Menschen kann ich nicht denken – wie du ja selbst gesagt hast, bringe ich zu viele von ihnen um.“

Eine Stille senkte sich über sie, die für Stunden anzuhalten schien. Bob hatte immer noch das unsichere, höhnische Grinsen auf dem Gesicht, sagte aber nichts. Jim sah Berendtsen an, der mit seinem Blick aus dem offenen Fenster in die Unendlichkeit sah.

Endlich stand Mary ungeschickt auf. Sie bewegte ihre Hände, als wolle sie nach etwas greifen, das sich direkt vor ihr drehte und wand, vor ihr, aber außer Reichweite.

„Ich … ich weiß nicht“, sagte sie stockend. „So etwas kann man nicht beantworten.“ Sie sah Ted an, der ihr sein Gesicht zudrehte. „Du bist noch derselbe Mann wie der, den ich geheiratet habe“, sagte sie weiter. „Genau derselbe Mann. Ich kann jetzt eigentlich nicht sagen, daß ich meine Meinung geändert habe – daß ich mich jetzt zurückziehe. Du hast recht. Ich war schon immer der Meinung, daß du recht hast. Aber es ist eine Art von Rechthaben, die entsetzlich schwer zu ertragen ist. Ein Mensch sollte … sollte nicht so weit in die Zukunft sehen. Er sollte seine Arbeit nicht für die nächsten hundert Generationen machen, wenn er nur ein Leben, sein eigenes, hat. Das geht über das hinaus, was man von seiner Generation verlangen kann. Sie kann es nicht ertragen.“

„Möchtest du, daß wir uns trennen?“ fragte Ted sanft.

Mary wich seinem Blick aus, biß sich auf die Lippe und sah ihn fest an. „Ich weiß es nicht, Ted.“ Sie schüttelte ihren Kopf. „Ich kenne mich selbst nicht so gut wie du mich kennst.“ Schließlich setzte sie sich unentschlossen hin und sah niemanden an.

„Na“, sagte Bob. „Wie sieht dein nächster Zug aus, Jim?“

Er hatte darauf gewartet, daß jemand dieses Thema anschneiden würde. Er hatte unlogischerweise gehofft, daß ihm niemand diese Frage stellen würde, zur gleichen Zeit aber gewußt, daß es so kommen mußte. Außerdem entdeckte er, daß er immer noch Angst vor seinem jüngeren Bruder hatte.

„Was meinst du, Mama?“ fragte er.

Sie sah ihre beiden Söhne hilflos mit unsicheren Augen an. In ihrem Schoß drehte sie ihre Hände.

„Ich wollte, ich wüßte es“, sagte sie schließlich. Ihre Stimme zitterte. „Als euer Vater noch lebte“, brach es aus ihr heraus, „da war es immer so einfach, sich zu entscheiden. Er wußte immer, was zu machen war. Ihn konnte ich verstehen.“ Noch einmal sah sie sich hilflos um. „Euch verstehe ich beide nicht.“ Sie begann, leise zu weinen. „Macht, was ihr wollt“, schloß sie hoffnungslos. Sie war zu verwirrt, um mit dem Problem fertig zu werden.

So mußte er sich schließlich ohne Hilfe von irgend jemandem selbst entscheiden. Er hob seine Schultern, sah Bob mit seinem spöttischen Blick fest an und sagte: „Ich glaube, ich werde Ted folgen.“

Die Sonne schien mit einem harten, beißenden Glanz, der von tausend Fenstern stechend reflektiert wurde. Jim sah mit zusammengekniffenen Augen die Marschkolonne entlang. Die erhobenen Gewehre mit ihren Reflexionen stachen in sein Auge. Er drehte seinen Kopf und sah zu dem Fenster hoch, von dem aus Mary und seine Mutter herabsahen. Bob befand sich irgendwo in der Menge, die von den Bürgersteigen aus zuschaute.

In all den Nächten, die er und Ted in Berendtsens alter Wohnung verbracht hatten, von Teds schattenhafter, zurückgezogener Mutter abgesehen, allein und ungestört, hatten sie nie miteinander gesprochen. Als sei einer von ihnen ein Geist, kaum sichtbar und nie in Reichweite.

War ich dieser Geist oder war es Ted, dachte er nun. Oder waren sie beide Geister gewesen, jeder im geheimen Gefängnis des Körpers eingeschlossen, jeder vom anderen heimgesucht, keiner in der Lage dazu, etwas zu teilen?

Eine Pfeife schrillte, die LKW-Motoren erhoben ihr Husten im Leerlauf zu einem Dröhnen, das hier zwischen den hohen Backsteingebäuden unglaublich laut wirkte.

„Alles klar. Vorwärts marsch!“ rief Jim seinen Männern zu. Das erste Krachen der Schritte erhob sich aus den Marschkolonnen.

Die Armee war auf dem Weg nach Süden.