Ich war nicht darauf vorbereitet, dem Jungen zu begegnen. Länger als beabsichtigt war ich am Strand entlanggelaufen und hatte versucht, mir auf meine Unterhaltung mit T. J. sowie Moms Anblick, als sie mit Mr. Illingworth gesprochen hatte, einen Reim zu machen. Die Kinder, die am Strand Sandburgen bauten, und die fröhlich im Wasser herumtollenden Paare bemerkte ich kaum. Ich nahm lediglich die Muschelscherben und die kreischenden Seemöwen wahr. Schon bald gab es nichts Besonderes mehr zu sehen. Je weiter das Wasser vordrang und gegen schroffe Felsen klatschte, desto weniger Menschen fanden sich am Strand, und schließlich stellte ich fest, dass The Crabby Hook und die Strandpromenade schon ein ganzes Stück hinter mir lagen.
Daher schreckte ich beim Anblick des großen, sonnengebräunten Jungen mit dunkelblondem Haar auf, der vom anderen Ende des Strands auf mich zukam. Er schleppte ein zusammengebundenes Seil und eine Angelrute mit sich; seine Armmuskeln zeichneten sich deutlich unter dem verblichenen roten T-Shirt ab. Er trug eine an den Knien abgeschnittene, zerlumpte Zimmermannshose, und seine braungebrannten Beine waren ebenso muskulös wie seine Arme. Ich schätzte, dass er ungefähr in meinem Alter war, doch er sah nicht wie jemand aus, den die Kids von der Erben-Party gekannt hätten.
Aus irgendeinem Grund blieb ich stehen und ließ meine Schuhe in den Sand einsinken. Hinter dem Jungen schien der Strand in den Nebelschwaden zu verschwinden, und mir wurde plötzlich klar, wie allein ich war. Ein plötzlicher Anfall von Furcht überkam mich, und ich erwog, mich umzudrehen und zurück zur Strandpromenade zu rennen. Doch dann rief ich mich selbst zur Ordnung. Warum geriet ich in letzter Zeit immer so grundlos in Panik?
»Hast du dich verlaufen?«, fragte der Junge und winkte mir mit einer Hand zu.
»Ganz und gar nicht«, erwiderte ich defensiv und streckte meine Schultern vor. »Ich erkunde hier nur die Gegend.«
Der Junge kam näher. »Keine gute Idee, hier am Siren Beach alleine herumzustromern«, sagte er. Seine Stimme war tief, doch ein wenig heiser, und sein Südstaatenakzent unterschied sich von CeeCees und dem der anderen auf eine Art, die ich nicht genau bestimmen konnte.
»Wieso?« Ich war plötzlich genervt, weil dieser Typ aus dem Nichts aufgetaucht war und meine Gedankengänge unterbrochen hatte.
Ich spürte, dass meine Geduld auf Sparstrom heruntersank. »Wegen der ›Seeschlangen‹?«, fragte ich und malte Anführungszeichen in die Luft.
»Dann hast du schon von den Seeschlangen gehört?« Er stand jetzt direkt vor mir und ein Lächeln spielte um seine vollen Lippen. Die Farbe seiner Augen war ein klares, strahlendes Grün, ungetrübt von jeglichen Braun oder Grau.
»Ich weiß, dass sie dummes Zeug sind«, gab ich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
Der Junge ließ seinen Blick über mein Gesicht wandern und mein Herz schlug Purzelbäume. Was dachte er bloß? Erst T. J. und jetzt er.
In die innere Funktionsweise von Jungenschädeln vorzudringen, war eine entmutigende Aufgabe, und zwei Jungen innerhalb einer Stunde waren für eine Anfängerin wie mich völlig unmöglich.
Andererseits hatte mich T. J. vorhin auf der Strandpromenade nicht so intensiv angeblickt, wie es dieser Junge jetzt tat. Beinahe gegen meinen Willen erinnerte ich mich an die merkwürdigen Blicke, die Greg – der zottelhaarige, bebrillte Vorsitzender-des-Schachteams-Greg – mir im letzten Februar zugeworfen hatte, als ich ihm noch Nachhilfestunden in Physik erteilte. Dann, eines Abends, als ich ihm gerade die Gesetze des Elektromagnetismus erklärte, küsste er mich, und ich verstand, was diese Blicke bedeutet hatten. Was mich echt total aus der Fassung gebracht hatte.
»Du bist zum ersten Mal auf Selkie, stimmt’s?«, fragte der Junge in leicht flapsigem Tonfall.
Aus irgendeinem peinlichen Grund ließen die Worte zum ersten Mal meine Haut feuerrot werden. »Ist das so offensichtlich?«, erwiderte ich und lachte nervös.
»Nun, mir bist du jedenfalls aufgefallen«, antwortete der Junge. Sein Lächeln wurde breiter.
»Miranda! Miranda, was treibst du denn?«
Gleichermaßen erleichtert und enttäuscht wandte ich mich der Stimme meiner Mutter zu. Sie kam über den Sand gelaufen, hielt ihre Sandalen in einer und den Saum ihres Kleides in der anderen Hand. Ihr Gesicht war gerötet, so wie schon zuvor auf der Party.
»Wie in Der Sturm«, sagte der Junge hinter mir, so leise allerdings, dass ich ihn vor dem Geräusch der brausenden Wellen fast nicht hören konnte.
»Wie bitte?«, fragte ich und sah mich nach ihm um.
»Miranda ist eine Figur aus Der Sturm. Das Shakespeare-Stück«, erklärte er und lächelte zögerlich. Seine Wangen hatten Grübchen.
»Ich versuche, Shakespeare so gut es geht zu vermeiden«, erwiderte ich und war überrascht, dass ein so rau aussehender Junge irgendetwas über verstaubte Literatur wusste.
»Das ist ein Fehler«, sagte er, als Mom schließlich völlig außer Atem zu mir herübergekommen war und stehen blieb.
»Miranda, was ist bloß in dich gefahren?«, blaffte sie wütend und gänzlich entgegen ihrer üblichen Ausgewogenheit. Ihre Augen waren sehr groß. »Warum bist du einfach verschwunden? Ich habe mir Sorgen gemacht. Einer der Jungs aus CeeCees Clique hat mir gesagt, er habe dich in diese Richtung gehen sehen.«
T. J.?, fragte ich mich.
»Tut mir leid«, erwiderte ich, war aber nicht in der Lage, meiner Mutter in die Augen zu blicken. Ich wusste, dass es völlig irrational war, aber sie kam mir plötzlich wie eine Fremde vor – eine Fremde, die sich mit gut aussehenden Männern amüsierte. »Ich wollte nur einen Spaziergang machen.«
»Einen Spaziergang?«, wiederholte Mom und zog angesichts des Jungen neben mir eine Augenbraue hoch. In ihrem Blick lag ein verdächtig dunkler Schatten. »Und wann wolltest du mir davon erzählen?«
»Du erzählst mir auch nicht alles«, murmelte ich und wünschte, wir hätten diese Unterhaltung nicht in Anwesenheit dieses Typen geführt.
Mom schien das Gleiche zu denken. »Entschuldigung«, sagte sie in forschem Tonfall zu ihm, zerrte an meinem Arm und zog mich in Richtung Strandpromenade.
Ich drehte mich um und sah, wie sich der Junge ein Stück Seil über die Schulter warf und uns beobachtete. Sein Gesichtsausdruck war nicht zu deuten. Dann blickte ich wieder nach vorn.
»Das sieht dir überhaupt nicht ähnlich«, erklärte Mom. Ihre Füße wirbelten Sand auf, während sie mich mehr oder weniger hinter sich herzog. Sie machte sich mal nicht die Mühe, die Haare wegzustreichen, die ihr der Wind in die Augen geweht hatte. »Du verschwindest, unterhältst dich mit einem fremden Jungen am Strand und wirst obendrein noch frech.«
»Wir haben uns nicht unterhalten«, protestierte ich und wurde für eine Sekunde wieder rot. »Wir haben ein oder zwei Worte miteinander gewechselt.«
»Dir ging’s doch gut, als wir zur Party gekommen sind«, fuhr Mom fort, während die ersten Sonnenanbeter vor uns wieder in Sichtweite kamen. »Was ist denn geschehen?«
Ich wich einem Büschel Seegras aus und wollte Mom eine Frage wegen T. J.s Vater stellen. Doch meine aufkeimende Verärgerung ließ mich verstummen. Wie konnte Mom mir überhaupt seltsames Verhalten vorwerfen, wenn sie sich selbst nicht normal gab?
Anstatt zu antworten, blickte ich wieder über meine Schulter, doch der Junge war verschwunden. Ich konnte ihn nicht landeinwärts auf die Dünen zugehen sehen, noch konnte ich erkennen, dass er ins Wasser gelaufen war. War er im Nebel verschwunden? In ein davonrasendes Fischerboot gesprungen? Oder hatte ich – auf eine für Miranda völlig untypische Weise – ihn mir gänzlich eingebildet? Doch nein, Mom hatte ihn auch gesehen. Ich schüttelte den Kopf und verdrängte ihn aus meinen Gedanken.
Wir näherten uns The Crabby Hook. So weit ich erkennen konnte, hatte sich die Erben-Party mehr oder weniger aufgelöst; die Band spielte nicht mehr, und nur ein paar Leute waren noch auf der Terrasse. Ich spürte, wie mich die Müdigkeit überkam.
»Ich schätze, die Party ist wohl ein bisschen zu viel für mich«, sagte ich schließlich zu Mom. »Meinst du, wir können jetzt gleich zurück zum Alten Seemann gehen?« Bei dem Gedanken, nun zu der Gruppe zurückzukehren und meine Abwesenheit CeeCee, T. J. und den anderen erklären zu müssen, wäre ich am liebsten in eine Muschel gekrochen und dort geblieben – wie eine Perle.
Moms Gesicht entspannte sich und sie lächelte mich schüchtern an. »Klar können wir das. Und verzeih mir bitte, mein Schatz. Ich wollte nicht ausflippen. Ich glaube, ich bin immer noch etwas nervös, weil ich jetzt wieder hier bin und diese ganzen Leute von früher treffe …«
Wie Mr. Illingworth? Es wäre die perfekte Gelegenheit gewesen, aber ich nutzte sie nicht. Ich ahnte, dass sich meine Mutter nur unwohl fühlen würde, wenn ich dieses Thema jetzt gleich anschnitt. Oder, viel schlimmer, sie würde mir irgendetwas Verbotenes erzählen, etwas, das ich überhaupt nicht wissen wollte. Diese Gefahr besteht bei Nachforschungen immer.
Daher nickte ich nur. »Vielleicht können wir ja in der restlichen Zeit hier allen anderen aus dem Weg gehen«, schlug ich vor. Mom und ich ganz unbemerkt im Alten Seemann, weit entfernt von allen Klatschgeschichten – das klang nach einer passenden Lösung. Während wir die Party links liegen ließen, konnte ich förmlich spüren, wie wir beide wieder zu unserem alten Selbst zurückkehrten.
Mom kicherte. »Keine schlechte Idee. Aber dann viel Glück mit CeeCee.«
***
Tatsächlich wurde ich am nächsten Morgen von einem fröhlichen Klopfen an meine Tür geweckt.
»Fünf Minuten, Mom!«, grunzte ich und drehte mich auf den Rücken. Ein Blick auf die Uhr auf der Kommode verriet mir, dass es zehn war.
Normalerweise war ich ein Frühaufsteher und ziemlich darauf aus, die Tagesordnungspunkte anzupacken, hatte aber wieder einmal Probleme beim Einschlafen gehabt. Ich hatte mich in der drückenden Hitze hin- und hergewälzt, mir eine Klimaanlage herbeigewünscht und mich mit dem Gedanken getragen, hinunterzugehen und mich ein bisschen näher mit Llewellyn Thorpes Geschichten zu befassen. Glücklicherweise war ich kurz vor der Umsetzung meines Plans schließlich eingedöst.
»Dummerchen! Ich bi-hin’s!«
Und mit diesen Worten rauschte sie ins Zimmer, putzmunter und in ihrer ganzen Pracht: CeeCee. Sie trug ein Strandkleid mit Blumenmuster und hielt ein zugedecktes Tablett in den Händen.
»CeeCee, was machst du denn hier?«, fragte ich und versuchte mich aufzusetzen, während ich die Bettdecke enger um meinen zerknitterten Pyjama zog.
»Dir das Frühstück bringen«, erwiderte CeeCee fröhlich und lüftete den Deckel des Tabletts. »Mama hatte Angst, dass du und Amelia hier kein ordentliches Essen im Haus habt, da sind wir halt vorbeigekommen, um ein paar regionale Köstlichkeiten abzuliefern.« Mit einem Tusch deutete CeeCee auf gebratene Schinkenstreifen, goldbraune Maismehlklößchen und eine Schale Grit.
»Ach, weißt du, ich hab keinen Hunger«, murmelte ich und rieb mir den Schlaf aus den Augen. Frühstück, das hieß für mich immer Vollkorntoast und ein Becher Erdbeerjoghurt. Ich hatte den Grit noch nie probiert, aber seine gräuliche Breiigkeit reizte mich nun wirklich nicht.
»Mama sagt, ein echter Südstaatler müsse immer Grit im Haus haben«, betonte CeeCee, kam zu meinem Bett herübermarschiert und setzte das Tablett vor mir ab. »Du isst das auf, und ich erzähle dir alles, was du wissen musst.«
»Wovon redest du?«, fragte ich, noch immer halbwegs in meinem Traum unterwegs – irgendetwas mit einem grünschuppigen Fisch, der zwischen meinen Händen schwamm.
»Also, Punkt eins, T. J. Illingworth möchte dich wiedersehen«, sagte CeeCee und ließ sich mit einem strahlenden Lächeln auf meine Bettkante plumpsen. »Bevor ich die Party verließ, hat er mich gefragt, ob du im Alten Seemann wohnst. Dir ist doch wohl klar, was das bedeutet? Er will vorbeikommen und dich besuchen!« Ihre bereits riesigen Augen wurden noch größer.
»Im Ernst?« In meinem Zustand, mit ausgetrocknetem Mund und verwuschelten Haaren, konnte ich mir kaum vorstellen, dass ein Vertreter des anderen Geschlechts mich attraktiv finden könnte. Trotzdem zog sich mein Magen bei dem Gedanken, dass ein Junge wie T. J. nach mir gefragt hatte, vor Aufregung zusammen.
»Jep«, bestätigte CeeCee und schob die Schale Grit näher an mich heran. »Hab ich nicht gesagt, dass ihr beiden euch bestimmt gut versteht? Und es war ein cleverer Schachzug, dass du dich mittendrin einfach so weggeschlichen hast. Jungs stehen echt total auf Geheimnisse.«
»Ähm, ich hab mich gar nicht …« Ich hielt inne und nahm einen Löffel vom Tablett. CeeCee würde nicht verstehen, wieso ich die Party gestern verlassen hatte, doch es gab eine Chance, dass sie etwas über Moms Vergangenheit mit Mr. Illingworth wusste.
Bevor ich das Thema zur Sprache bringen konnte, plapperte CeeCee weiter. »Sieht so aus, als ob sich alle Sommerflirts zusammenfinden!« Sie begann, an ihren Fingern abzuzählen. »Als der Rum erst mal in Strömen geflossen ist, konnten Virginia und Rick nicht mehr die Finger voneinander lassen, und nach der Party haben sich Jacqueline und Macon zu Macons Haus geschlichen. Und Jackie war heute Morgen nicht im Gästezimmer, um es mal so zu sagen.« CeeCee zwinkerte mir zu und pflückte sich dann einen Streifen Bacon von meinem Teller.
»Wirklich?«, fragte ich, wieder einmal komplett unschuldig und kindlich erstaunt über Jacquelines und Virginias mühelose Eroberungen. »Und was ist mit dir?«
CeeCee zuckte mit den Schultern. »Lyndon und ich haben uns beim Sonnenuntergang am Strand geküsst. Er kann überhaupt nicht gut küssen, aber jetzt weiß ich immerhin, dass Bobby der Richtige für mich ist«, erklärte sie und warf ihr Haar über die Schulter nach hinten.
»Aber … was ist, wenn Bobby auch nicht küssen kann?«, fragte ich ernsthaft interessiert, während ich den Löffel in den Grit tauchte.
Nicht, dass ich einen guten von einem schlechten Küsser hätte unterscheiden können; meine einzige Erfahrung war Greg gewesen. Für einen Moment fragte ich mich, wie es wohl wäre, einen Jungen am Strand zu küssen, während die Sonne im Wasser versank, und meine Beine fingen an zu kribbeln. Ich hatte beim Sonnenuntergang gestern Isadoras Aktenschrank aufgeräumt, während Mom das Abendessen vorbereitet hatte.
»Du bist so negativ, Miranda!«, stellte CeeCee fest und zog einen Schmollmund.
»Nur realistisch«, korrigierte ich sie und probierte den Grit. Er war weich und cremig und schmeckte erstaunlich gut.
»Du meinst wohl lang-wei-lig«, gab CeeCee kichernd zurück.
CeeCees Meinung über mich war mir nicht besonders wichtig, trotzdem verspürte ich einen Stich. War ich langweilig? Ich hatte mir immer etwas auf die Tatsache eingebildet, dass ich mich im Laufe der Jahre nicht viel verändert hatte und, unabhängig von Trends, denselben Stil und ähnliche Interessen beibehielt. Aber vielleicht machte mich das bloß … berechenbar. Gewöhnlich.
»Oh, ich hab nur Spaß gemacht, Miranda«, rief CeeCee. Sie hatte die Mundwinkel heruntergezogen. »Tut mir leid, ich sag immer alles, was mir gerade in den Kopf kommt. Kann ich’s im Laufe des Tages wieder gutmachen?«
Ich schüttelte den Kopf und schluckte eine große Portion Grit herunter. Kannst du – indem du verschwindest.
»Ach komm schon, wir unternehmen irgendwas Tolles«, bettelte CeeCee. »Wir könnten uns in der Stadt eine Pediküre machen lassen, oder … was immer du möchtest!«, schloss sie gnädig und lächelte mich an.
»Ich muss meiner Mutter helfen, dass Arbeitszimmer durchzusehen«, erwiderte ich und dachte im selben Moment: Lang-wei-lig. »Und noch ein paar andere Sachen«, ergänzte ich, zog mir mein Haarband vom Handgelenk und bündelte meine Haare zu einem Pferdeschwanz.
»Wenn du Amelia fragst, gibt sie dir bestimmt mal zwischendurch frei.« CeeCee zuckte mit den Schultern und stand auf. »Ich warte unten bei unseren Mamas, okay?«
Mom wartete bestimmt auch ungeduldig. Und zwar darauf, unsere morgendlichen Gäste wieder loszuwerden, also aß ich schnell meinen Grit auf und fragte mich, ob mich meine Südstaatenherkunft dafür empfänglich machte, dass er mir tatsächlich schmeckte. Dann zog ich mir Jeans und mein gelb-grünes T-Shirt von der Bronx Science über.
Als ich allerdings in die Küche kam, saß Mom am Tisch und unterhielt sich angeregt mit Delilah. Ihr Frühstück – dasselbe wie meins – stand vor ihnen ausgebreitet, und CeeCee, ebenfalls am Tisch, tippte eine SMS auf ihrem perlmuttfarbenen BlackBerry. Durch die Spitzenvorhänge drangen Sonnenstrahlen herein.
»Du bist ja wach, mein Schatz!«, sagte Mom lächelnd und wippte, offenbar ziemlich entspannt, mit einem Fuß. Nach der Party gestern Abend war sie still und angespannt gewesen und hatte sich um verschiedene Haushaltsangelegenheiten gekümmert. »Ist das nicht wunderbar, was Delilah und CeeCee mitgebracht haben?«, fügte sie hinzu und spießte ein Maisklößchen mit der Gabel auf.
»Gern geschehen«, erwiderte Delilah und tätschelte Moms Hand, woraufhin Mom ihr einen dankbaren Blick zuwarf. »Wie wunderbar, hier mit dir zu sitzen und zu quatschen, Amelia.«
Verblüfft drückte ich mich an der Küchentür herum. Was war hier los? Mom schien in keiner Weise zu wollen, dass Delilah verschwand.
»Virginia und Jackie haben einen Kater und können nicht mit uns abhängen«, verkündete CeeCee und legte ihr BlackBerry auf den Tisch. Delilah gab ein tadelndes ›Tss-Tss‹ von sich. »Was ist?«, fragte CeeCee und blinzelte ihre Mutter an. »Ich weiß, wo meine Grenzen sind.«
»Das weißt du allerdings«, bestätigte Delilah stolz und hob ihr Glas Orangensaft zu einem Toast auf CeeCee. »Du bist schließlich eine LeBlanc.«
Ich versuchte, mir dieselbe Unterhaltung mit Mom oder irgendwelchen anderen Eltern vorzustellen – und scheiterte sofort. Mom kicherte bloß und verdrehte die Augen.
»Amelia«, setzte CeeCee an, »Miranda wollte wissen, ob es in Ordnung ist, wenn sie mich heute auf einen kleinen Ausflug begleitet. Ich weiß, ihr müsst das Arbeitszimmer streichen und all das …«
»Wir müssen nicht streichen.« Mom lachte leise in sich hinein und sah mich an. »Die Handwerker kommen vorbei, um sich das Dach und die Rohrleitungen anzusehen. Ihr Mädels zieht los und amüsiert euch! Ruf mich bitte nur an, wenn du nach Einbruch der Dunkelheit noch nicht zurück bist.«
Ich starrte Mom an und versuchte, ihr zu signalisieren, dass ich den Tag gar nicht mit CeeCee verbringen wollte, aber sie hatte sich bereits wieder ihren Maisklößchen zugewandt. Na, super.
»Und was habt ihr beiden Hübschen geplant?«, fragte Delilah und trank einen Schluck Saft.
»Miranda soll entscheiden«, erwiderte CeeCee, während sie am Träger ihres Kleids herumfummelte. »Hach, es ist jämmerlich, dass wir nicht ein paar mehr Geschäfte an der Strandpromenade haben.«
»Lass das bloß nicht die Illingworths hören«, mahnte Delilah, und Mom lachte – irgendwie nervös, fand ich. »Die Promenade ist ihr ganzer Stolz.«
Bei Erwähnung der Illingworths und der Promenade fiel mir plötzlich ein, was Virginia am Tag zuvor auf der Party gesagt hatte, und meine Stimmung wurde gleich viel besser. »Das Research Center!«, rief ich. »Soll’s da nicht ein Meereskundezentrum auf der Promenade geben?«
CeeCees Kinnlade klappte herunter.
»Ach, wirklich?«, fragte Mom, und Delilah nickte. »Wer hätte das gedacht? Ich war der Ansicht, dass sich auf dieser Insel nichts geändert hat, aber anscheinend gibt es wohl immer ein paar Neuerungen.« Sie lächelte mich mit einem ermutigenden Ausdruck an. »Klingt genau nach Mirandas Geschmack!«
»Was meinst du, CeeCee?«, fragte ich und lehnte mich grinsend an den Türrahmen. »Zu langweilig?« Das Meerkundezentrum zu besuchen und damit gleichzeitig CeeCee zu ärgern, schien mir der perfekte Zeitvertreib für Selkie Island zu sein.
CeeCee stöhnte ergeben und schob ihren Stuhl vom Tisch weg. »Okay, okay, du bist der Boss. Also das Research Center. Aber danach essen wir frittierte Garnelen bei THE FISH TALE und legen uns an den Siren Beach.«
Siren Beach. Ohne Vorwarnung musste ich an den seltsamen Jungen von gestern denken und spürte, wie meine Wangen rot wurden. Würde er wieder dort sein?
Und wenn schon, was hatte das zu bedeuten? Schließlich gab es da einen anderen Typen, auf den ich meine Aufmerksamkeit richten konnte.
»Abgemacht«, sagte ich und ging zu CeeCee hinüber. »Und später können wir versuchen, uns mit unseren … Flirts zu treffen«, fügte ich kühn hinzu. Überrascht öffneten sich CeeCees Lippen, und ich reckte zufrieden mein Kinn. Wer war hier langweilig?!
***
Das Zentrum für Meereskunde auf Selkie Island war in einem bescheidenen, grünen Haus am Rande der Strandpromenade untergebracht, nur ein paar Schritte von The Crabby Hook entfernt. Eine glänzende Tafel an der Seite des Zentrums verkündete, dass es sich um Eine Schenkung der Familie Illingworth handelte. Während CeeCee die Fliegengittertüren öffnete, betrachtete ich die an den Fenstern festgeklebten, handgeschriebenen Flyer. Einer unterrichtete uns davon, dass das Zentrum montags, mittwochs und freitags zwischen zwölf und sechs geöffnet war. Ein weiterer Flyer warb mit Strandspaziergängen, bei denen die örtliche Flora und Fauna beobachtet werden konnte, und ein dritter kündigte eine Ausstellung mit Baby-Alligatoren an. Nichts Außergewöhnliches, aber schließlich hatte ich auch nicht das Museum of Natural History erwartet.
Der von einer Klimaanlage gekühlte Eingangsbereich war voller kleiner Kinder und miteinander plaudernder Eltern. An der Wand hing eine Unterwasseraufnahme von Korallenriffen sowie ein Schild, auf dem Besuchen Sie unsere gepunkteten Fledermausfische! stand. Ich seufzte zufrieden. Hier fühlte ich mich mehr zu Hause als im Alten Seemann – ganz eindeutig nicht das kleinste Anzeichen von Märchen oder Legenden.
CeeCee und ich liefen zum Tresen in der Ecke, der von einem jungen Mädchen mit hübschen Dreadlocks und einer Brille mit Alurahmen bedient wurde.
»Zwei Mal, bitte«, sagte CeeCee in gebieterischem Ton zu dem Mädchen und reichte ihm einen Fünf-Dollar-Schein. Als wir vom Alten Seemann weggegangen waren, hatte CeeCee darauf bestanden, dass der Besuch auf ihre Kosten ginge.
Während ich dem Mädchen dabei zusah, wie es mit geschäftiger Miene seine Schlüssel auf den Tresen legte, wurde mir klar, dass es mich ein wenig … an mich selbst erinnerte.
»Das ist hier bestimmt ein toller Arbeitsplatz«, vermutete ich laut und betrachtete die übereinandergestapelten Broschüren auf dem vollgepackten Tresen.
»Ist mein Sommerjob«, erwiderte das Mädchen nüchtern und warf mir einen erstaunten Blick zu. Mir kam in den Sinn, dass es wahrscheinlich das ganze Jahr auf der Insel lebte – eine Einheimische also – und nicht ganz nachvollziehen konnte, wieso ich mit ihm sprach. Am liebsten hätte ich mit den Lippen Ich gehöre nicht zu denen! geformt.
»Was kann man hier drinnen machen?«, fragte CeeCee naserümpfend, während sie von dem Mädchen zwei Eintrittskarten entgegennahm.
»Wir haben den Aquarienraum mit Schnappschildkröten, Kugelfischen und dem Atlantischen Oktopus«, erwiderte das Mädchen routiniert und reichte mir eine der Broschüren. »Und Leo wird die Kinder hier durch das Zentrum führen …«, sie blickte auf ihre Uhr, »… und zwar genau jetzt.«
»Gott steh uns bei«, murmelte CeeCee mit einem Blick auf den Haufen aufgeregter Kinder.
»Wer ist Leo?«, fragte ich, während ich die Broschüre durchblätterte und dachte, dass eine Tour durch das Zentrum vielleicht Spaß machen könnte.
»Er ist unsere andere Sommeraushilfe«, sagte das Mädchen und zeigte über meine Schulter. »Da ist er ja. Hey, Leo!«, rief es. »Kannst du noch zwei mit auf die Tour nehmen?«
Ich drehte mich um – und mein Herz rutschte mir in die Hose.
Leo war der Junge, dem ich am Strand begegnet war.
Er sah anders aus als gestern – sauberer –, trug jetzt ein weißes Polohemd mit einem Namensschild, auf dem Leo M. stand, sowie dunkelblaue Shorts und Flip-Flops. Doch unzweifelhaft war er derselbe Junge, mit demselben glatten goldenen Haar, den hohen Wangenknochen und den hellen grünen Augen. Ich begriff gar nichts mehr. Wie selbstverständlich hatte ich angenommen, er wäre ein junger Fischer oder irgend so eine Art heimatloser Strandhippie.
»Klar, natürlich«, antwortete Leo mit der tiefen, heiseren Stimme. Er sprach zu dem Mädchen, blickte mich aber direkt an. »Je mehr dabei sind, desto lustiger wird’s.«
Ich spürte, wie CeeCee mir oberhalb des Ellbogens in den Arm kniff. »Augenschmaus-Alarm«, flüsterte sie. »Los, lass uns mit auf die Tour gehen.«
»Ach, ich weiß nicht«, erwiderte ich zögernd und spürte dabei, wie meine Wangen ganz heiß wurden. Würde Leo irgendwas zu mir sagen? Würden wir beide so tun, als wären wir uns gestern nicht begegnet? Ich hatte keinerlei Erfahrung mit einer solchen Situation.
»Es war deine Idee hierherzukommen, Missy«, sagte CeeCee und schob mich in Richtung Leo, der jetzt in die Hände klatschte und die Besucher bat, sich um ihn zu scharen. »Wir gehen mit.«