KAPITEL 1

Ungeheuer

Das wartende Fährschiff – elfenbeinfarben und mit Ober- und Unterdeck ausgestattet – ähnelte einem Stück Torte. Doch vielleicht war ich auch nur hungrig, überlegte ich, während ich über den Kai eilte und mir mein Seesack dabei mit jedem Schritt gegen die Hüfte stieß. Der Name des Schiffs, Princess of the Deep, prangte an der Bordwand, und die am Mast hängende Flagge der Vereinigten Staaten knallte peitschend im salzigen Wind. Ich nahm einen tiefen Atemzug. Ich war tatsächlich auf dem Weg.

Während ich mich in die Schlange der wartenden Passagiere einreihte, bereute ich, mir nichts über den Kopf gezogen zu haben – so wie die anderen, klügeren Reisenden mit ihren Baseballmützen und weichen Strohhüten. Der Schweiß lief mir den Rücken herunter, und meine runde, altehrwürdige Sonnenbrille konnte gegen den grellen Schein des Ozeans nichts ausrichten. Ich hatte nicht viel Zeit gehabt, mich auf diesen Trip vorzubereiten.

»Der Nächste!«, rief ein kräftiger Mann mit silbrigem Bart und weißem T-Shirt, der die Tickets kontrollierte. Er gab mir ein Zeichen und ich trat auf ihn zu; die hölzernen Planken der Anlegestelle brannten heiß unter meinen Sneakers. Als ich ihm mein Ticket aushändigte, schossen seine buschigen Augenbrauen so weit in die Höhe, dass die Matrosenmütze auf seinem Kopf wackelte.

»Sie wollen nach Selkie?«, fragte er. In seinem breiten Georgia-Akzent sprach er es wie Sayl-kee aus – die Silben der Länge nach betonend. »Selkie Island? Sind Sie sich da sicher, Liebchen?«

Ich zögerte. Ich hatte ganz bestimmt nicht geplant, nach Selkie zu fahren – ein Ort, von dem ich so gut wie nichts wusste. Mein Sommer, so wie fast alle Dinge in meinem Leben, hatte glasklar vor mir gelegen: Sobald die Schule beendet war, sollte ich mein Traumpraktikum am Museum of Natural History in New York City beginnen. Doch dann hatte der Tod meiner Großmutter, die ich nie kennengelernt hatte, eine Kettenreaktion ausgelöst, durch die ich mich nun an diesem späten Juninachmittag hier an dieser Fähre wiederfand. Eine Sekunde lang überkam mich Verwirrung, die ich schnell abschüttelte.

»Ganz genau«, erwiderte ich und reckte mein Kinn vor. Ich konnte es kaum abwarten, das letzte Stück meiner nervenzehrenden Reise abzuschließen; der Morgenflug von New York nach Savannah hatte Verspätung gehabt. Und der Taxifahrer, der mich zum Hafen gebracht hatte, war in einem Tempo, das seiner Redeweise entsprach, durch die zwielichtigen Straßen gebummelt.

»Nun gut«, seufzte Matrosenmütze in einem unmissverständlichen Es-ist-Ihr-Begräbnis-Ton. Als er mein Ticket entzweiriss, warf er mir einen Blick zu, der gleichermaßen amüsiert und besorgt schien. »Es ist der letzte Halt, Zuckerschnecke.«

»Ich weiß«, gab ich in scharfem Ton zurück, um ihm zu zeigen, wie wenig Zucker in mir steckte. Auf einer Karte im Fährterminal hatte ich gesehen, dass die Princess of the Deep mehrere der Inseln anlief, die wie kleine Juwelen im Atlantik schimmerten und sich über die ganze Küste von South Carolina bis nach Florida erstreckten, bevor sie Selkie erreichte.

»Und mein Name ist Miranda«, fügte ich hinzu, bevor ich an ihm vorbei auf das Schiff marschierte. Unglücklicherweise war Miranda auf der Liste der niedlichsten Mädchennamen nicht allzu weit von Zuckerschnecke entfernt. Ich hatte nie das Gefühl gehabt, dass er zu mir passte.

»Oho, Miranda«, rief Matrosenmütze mir nach, während ich den anderen Passagieren über die knarrende Laufplanke folgte. »Du musst ja ganz schön mutig sein, ein junges Ding wie du, so ganz allein auf dem Weg nach Selkie.«

Ich hatte keine Ahnung, wovon er redete, und es war mir auch ziemlich egal. Obwohl ich zugeben muss, dass an seinen Worten etwas Wahres dran war. Und das hatte einen Grund: Ich hatte es eilig, meine Mutter am Anleger von Selkie zu treffen. Während der letzten vier Tage, in denen ich allein zu Hause gewesen war, hatte mir ihre beständige Anwesenheit gefehlt.

Das Unterdeck der Fähre war düster, feucht und voller schreiender Kinder. Orangefarbene Rettungswesten waren an der niedrigen Reling befestigt, und obwohl das Schiff noch immer am Kai festgemacht war, schaukelte es heftig auf den Wellen. Ich dachte mir, dass es angenehmer wäre, im Freien zu stehen. Also kletterte ich die Stahltreppe zum Oberdeck hinauf, wo eine Brise mit meinem Pferdeschwanz spielte und sich mir ein strahlender, leuchtend blauer Anblick von Wasser und Himmel bot. Die meisten Leute standen an der Reling, doch ich blieb an der Treppe nahe einer Gruppe blonder Mädchen stehen, die in meinem Alter zu sein schienen.

Die Mädchen standen dicht zusammengedrängt, lachten, und ich spürte einen Stich von Eifersucht. Sie alle trugen winzige Shorts und Flip-Flops mit Plateausohlen, die bestens geeignet schienen, ihre langen, sonnengebräunten Beine und vollkommen geformten Zehen perfekt zur Geltung zu bringen. In Gedanken stellte ich mir vor, wie ich neben ihnen stand – ein blasses, dünnes, dunkelhaariges Mädchen in rotgestreiftem Hemd, Jeans und schwarzen Chucks –, und verzog das Gesicht. Wir hätten ebenso gut verschiedenen Spezies angehören können.

Während der Pubertät hatte ich null Interesse an Lipgloss oder Pyjamapartys gehabt. Meine Vorstellung von Spaß hatte darin bestanden, Meister Propper und Backpulver in Wassergläsern zu vermischen und die Ergebnisse zu notieren.

»Miranda bereitet ihren Zaubertrank«, neckten mich meine Freunde, doch ich korrigierte sie: Ich machte Experimente. Mein seltsames Verhalten war eine logische Konsequenz. Meine Eltern waren beide Chirurgen, und ich war mit Forscherblut in den Adern geboren worden. Es war daher keine Überraschung, als ich mit vierzehn an der Bronx High School of Science angenommen wurde, wo ich gerade die Grundstufe beendet und dabei Einsen in Fortgeschrittener Biologie und Chemie eingeheimst hatte (mich aber mit Dreien in Englisch und Geschichte abmühte).

Mit einem heftigen, ganz und gar nicht damenhaften Hopser löste sich die Princess of the Deep vom Kai und schlingerte hinaus auf die See. Unvermittelt sackten meine Knie ein und reflexartig griff ich Halt suchend nach dem Arm des Mädchens direkt neben mir.

»Alles in Ordnung, Hase?«, fragte sie. Ihre Augen lagen hinter einer dicht anliegenden Sonnenbrille verborgen, doch an ihrer Haltung spürte ich, wie sie mich abschätzig anstarrte. »Du meine Güte«, sagte sie und drehte sich zu ihren Freundinnen. »Sie hat ihre Seebeine noch nicht!« Das Kichern der anderen Mädchen schien förmlich zu explodieren; eine Meute hübscher Piranhas.

Ich zog meine Hand zurück, meine Wangen kochten angesichts dieser Peinlichkeit. Seebeine. Was für ein seltsamer Ausdruck. Als ob Menschen Flossen bilden könnten, um sich dem Leben auf dem Wasser anzupassen.

Schon richtig, ich hatte vergessen, wie schwierig es war, auf einem Schiff das Gleichgewicht zu halten. Ich war zwar nicht völlig als Landratte aufgewachsen, doch mehr oder weniger; mein Zuhause war Riverdale, ein schmaler, ruhiger Streifen der Bronx, der als Einziger der fünf New Yorker Stadtbezirke Teil des Festlandes ist. Als ich das letzte Mal auf einer Fähre gestanden hatte, war ich neun. Es war kurz vor der Scheidung meiner Eltern, und mein Vater – der vielleicht seine zunehmenden Schuldgefühle bekämpfte oder sich womöglich an seine neu gewonnene Freiheit gewöhnte – hatte mich und meinen älteren Bruder Wade auf einen Ausflug zur Freiheitsstatue mitgenommen. Die Fahrt nach Liberty Island war unruhig gewesen, und ich hatte meiner Seekrankheit getrotzt, indem ich mich über die Reling gebeugt und nach Meerestieren und -pflanzen Ausschau gehalten hatte.

Was mir auch jetzt, in diesem Moment, eine reizvolle Aufgabe zu sein schien.

Bedächtig entfernte ich mich von den Südstaaten-Prinzessinnen, die sich in diesem Moment kreischend über einen Bikini hermachten, den eine von ihnen erstanden hatte. An der Reling stellte ich mich neben einen blonden, ungefähr sieben Jahre alten Jungen und seine erschöpft wirkenden Eltern. Die Gischt kühlte mein gerötetes Gesicht, und ich klemmte den Seesack zwischen meine Füße.

Seemöwen kreischten und zogen im Tiefflug über unsere Köpfe hinweg; der Ozean war eine gleißende Fläche aus Aquamarin, die sich in allen Richtungen kräuselte. Das von kleineren, schnellen Booten hinterlassene Kielwasser bildete Muster wie ein Strähnengewirr im glatten Haar eines Mädchens. Ich stieß einen tiefen Seufzer aus; meine Anspannung war mir überhaupt nicht bewusst gewesen. Die Schule, meine Freunde und der Schatten meiner Traurigkeit schienen unmessbar weit hinter mir. Ein Gefühl der Erleichterung machte sich in meinem Brustkorb breit. Vielleicht war ja die Entfernung von zu Hause genau das, was ich brauchte.

»Was ist das denn?«, rief der blonde Junge und unterbrach meinen Gedankengang. Mit weit aufgerissenen Augen steckte er einen plumpen Finger zwischen den Streben der Reling hindurch, während er am Arm seiner Mutter zerrte.

Ich blickte hinunter auf die Wellen, die schäumend gegen die Fähre klatschten. Ein langer, dunkler Schatten schwamm dicht unterhalb der Wasseroberfläche; kurz darauf gesellten sich drei ähnliche Gestalten zu ihm, allesamt schlank und silbern. Ich schnappte nach Luft und mein Puls begann zu rasen.

»Delphine!«, rief der Junge und hüpfte auf und ab. »Mom, da sind Delphine im Wasser!« Schnell versammelte sich eine Menschenmenge an der Reling; alle riefen durcheinander, schossen Fotos und rangelten um die beste Aussicht.

Ich grinste. Waschechte Große Tümmler. Ich war von diesen lustigen, klugen Meeressäugetieren fasziniert, seitdem ich einmal einen Dokumentarfilm über sie gesehen hatte. Im Mutterleib bildeten die Delphinföten beinähnliche Ansätze von Gliedmaßen aus – ein Hinweis darauf, dass diese Kreaturen vor vielen, vielen Evolutionsphasen einmal an Land gelebt hatten. Das ist genau das, was ich an der Wissenschaft so liebe: die Überraschungen, die Geheimnisse und die Entdeckungen, die dir einen leichten Schwindel im Kopf verursachen. Als ich nun die Delphine spielen und in einem Bogen aus dem Wasser schießen sah – ihre Rückenflossen glänzten –, hatte ich wieder den Eindruck, dass es irgendetwas halb Fisch-, halb Menschartiges an ihnen gab. Vielleicht lag es aber auch nur daran, dass sie zu lächeln schienen.

Die Delphine blieben dicht bei der Fähre, sogar während wir betriebsame Häfen anliefen, die von Cafés und pastellfarbenen Hotels gesäumt waren. Erst als wir den dritten Hafen verließen – die kichernden Mädchen waren hier von Bord gegangen –, verstreuten sich die Delphine, schwammen auf der Suche nach neuen Vergnügungen in unbekannte Tiefen davon. Ich bedauerte, sie abziehen zu sehen.

»Glaubst du, dass sie irgendwas verängstigt hat, Miranda?«

Erschrocken fuhr ich herum, nur um Matrosenmütze, den Fahrkartenkontrolleur, hinter mir zu entdecken, der ein geheimnisvolles Lächeln aufgesetzt hatte. Ich war so mit den Delphinen beschäftigt gewesen, dass ich sein Auftauchen auf dem Oberdeck gar nicht bemerkt hatte. Als ich mich umsah, stellte ich fest, dass sich das Schiff beträchtlich geleert hatte. Die einzig verbliebenen Passagiere waren der Junge und seine Eltern, die nun ihr Gepäck nach Sandwiches durchsuchten, sowie ein auffallend gut aussehender Mann mit grau meliertem Haar und sein ebenso gut aussehender Sohn, der eine SMS in sein iPhone tippte.

Ich wandte mich wieder Matrosenmütze zu und zuckte mit den Achseln. »Was denn?«, fragte ich, wie um ihm einen Gefallen zu tun. »Haie vielleicht?«

Matrosenmütze kicherte und schüttelte den Kopf. »Hier draußen gibt es nicht viele Haie. Sehr wahrscheinlich war es der Krake. Davon hast du doch bestimmt gehört, oder? Das Seeungeheuer mit den Tentakeln, so lang, dass sie ein ganzes Schiff vernichten könnten?!« Er senkte seine Stimme um eine Oktave und zog seine Augenbrauen hoch.

Ich unterdrückte ein Lachen. »Ich schätze, er hat das richtige Alter für diese Geschichte.« Ich deutete auf den blonden Jungen, der grad damit beschäftigt war, ein Sandwich zu verschlingen.

Obwohl, da wir gerade beim Thema sind, mein erster, einziger und – mittlerweile – Ex-Freund, Greg Aarons, von diesem Kraken geradezu besessen war, und er war immerhin siebzehn, nicht sieben. Im letzten April hatten wir sogar Teil zwei von Fluch der Karibik bei iTunes heruntergeladen und es uns auf seinem Laptop angesehen (in derselben Nacht übrigens, in der Greg versucht hatte, mich zum Ausziehen zu überreden. Und ich darauf bestanden hatte, meine Socken anzubehalten, was verständlicherweise seine Leidenschaft etwas dämpfte). Ich hatte allerdings nicht viel übrig für Magie; alles hatte eine logische Erklärung, einen Kern von Vernunft.

»Glaubst du etwa nicht an den Kraken?«, fragte Matrosenmütze, wobei sein Grinsen breiter wurde. Seine gebräunte Haut hatte die lederartige, faltige Beschaffenheit, die von zuviel Aufenthalt in der Sonne zeugt.

»Keineswegs«, erwiderte ich nüchtern und verschränkte meine Arme über der Brust. Ich wurde sauer, wenn irgendjemand versuchte, mich zum Narren zu halten. »Es ist ein Mythos. Vor Jahrhunderten hat irgendein betrunkener Matrose einen Riesentintenfisch gesehen und entschieden, es handle sich um ein Ungeheuer.«

»Ah, ich verstehe«, sagte Matrosenmütze und trat einen Schritt auf mich zu. Ich drückte mich gegen die Reling und fragte mich schon, ob ich würde über Bord springen müssen, wenn er irgendwas Komisches machte. Ich war dank frühkindlichen Unterrichts am YMCA eine ausgezeichnete Schwimmerin. »Du warst wohl noch nie auf Selkie Island«, fuhr er selbstsicher fort. »Sonst würdest du die vielen, vielen seltsamen Kreaturen kennen, die sich in diesen Gewässern herumtreiben.«

Er deutete auf den Ozean hinaus, und trotz meiner Überzeugung fühlte ich, wie mir ein Schauer den Rücken hinunterlief. Die Fähre kämpfte sich über einen hohen Wellenkamm, sodass sich mir zudem der Magen umdrehte.

»Hören Sie«, sagte ich mit fester Stimme. »Meine Mutter kommt ursprünglich aus Savannah. Als sie jung war, verbrachte sie jeden Sommer auf Selkie Island, und sie hat niemals irgendwelche …«

Frustriert hielt ich inne. Tatsache war, dass meine Mutter überhaupt nicht gern über ihre Vergangenheit sprach. Ich hatte nur bruchstückhaft von ihren Ferien auf Selkie gehört, wo ihre Familie ein großes Sommerhaus besaß. Und die vor meiner Abreise aus New York durchgeführte Google-Wikipedia-Recherche hatte, abgesehen von den geografischen Koordinaten und den Klimadaten der Insel, nicht viel ergeben. Ich wusste daher, dass Selkie zehn Kilometer lang und es dort häufig stürmisch war. Mehr nicht.

»Also …« Matrosenmütze strich sich über seinen Bart. »Dann solltest du zumindest von den Seeschlangen wissen, die in der Brandung vor Siren Beach schwimmen. Die Leute glauben, dass sie im achtzehnten Jahrhundert dabei geholfen haben, ein Sklavenschiff zu befreien, indem sie den Kapitän und seine Mannschaft vertilgten. Ein ziemlich bissiger Haufen. Und …«, fügte er hinzu, stellte sich neben mich und legte seine Ellbogen auf die Reling, »… es gibt Gerüchte, dass Meerjungfrauen und Meermänner die See um Selkie bevölkern, aber getarnt als menschliche Wesen an Land leben.«

»Gut zu wissen«, murmelte ich und sah auf meine Uhr. Laut Fahrplan sollten wir in zwei Minuten ankommen. Gott sei Dank.

»Natürlich grassieren hier in Dixieland jede Menge Legenden«, fuhr Matrosenmütze unbeirrt fort. Er schielte aufs Wasser hinaus. »Doch die Überlieferungen aus Selkie tragen eine Spur von Wahrheit in sich.«

Sein Tonfall war so eindringlich, seine Wortwahl so ausgesucht, dass ich es plötzlich kapierte – er hatte diese Ansprache schon unzählige Male zuvor gehalten. Der Mann hatte echtes Talent! Wahrscheinlich hatte ihn das Besucherzentrum von Selkie Island losgeschickt, damit er auf den Fähren herumfuhr und die Touristen mit diesen Märchen anlockte. Vielleicht gab es sogar ein Volkskundemuseum auf der Insel, das von Matrosenmützes Glattzüngigkeit lebte.

Ich war kurz davor, mich ein für alle Mal aus dieser Konversation zu befreien, als Matrosenmütze seinen Arm ausstreckte und auf etwas zeigte. »Ah!«, rief er. »Da ist sie ja.«

Ich wandte mich um – und sah nichts als Nebel. Es war ein klarer, heller Nachmittag, sodass der schwere Dunst sich aus dem Nichts heraus materialisiert zu haben schien. Eine höchst seltsame Mischung aus Vorfreude und gespannter Vorahnung überspülte mich.

»Die meisten Schiffe können Selkie nicht mal finden«, erklärte Matrosenmütze, als wir durch den Nebel glitten, der sich wie feuchter Qualm anfühlte. »Als ob sich die Insel hinter einem Dunstschleier verbirgt.«

Ich muss leider zugeben, dass seine fantasievolle Beschreibung zutraf.

Hinter dem Nebel erschien ein üppiger Streifen lehmigen Lands, über das Bäume und Häuser verstreut lagen. An der Spitze war eine sonnengebleichte Anlegestelle mit vereinzelten, wie Miniaturen anmutenden Menschen. Über der Anlegestelle hing, an zwei Holzpfählen befestigt, wodurch das Ganze wie ein Tor aussah, ein altertümlich wirkendes Schild. Darauf standen in fetten schwarzen Buchstaben – Schriftzügen ähnlich, die ich auf alten Landkarten gesehen hatte – die Worte:

 

Seeleute, hütet euch vor Selkie Island!

Hier gibt es Ungeheuer!

 

Ich verdrehte die Augen. Matrosenmütze hatte dieses Schild wahrscheinlich selbst angefertigt. Ich dachte an die roten, durch die Straßen von Manhattan tourenden Doppeldeckerbusse und die Mini-Empire-State-Buildings, die am Broadway verkauft wurden. Die Läden auf Selkie Island platzten sicher schon aus allen Nähten vor lauter Augenklappen tragenden Gummienten, die ›Buh!‹ riefen, wenn man sie zusammendrückte, und sexy Meerjungfrauenkostümen einschließlich muschelverzierter BHs. Das Geschäft mit dem Tourismus blühte; es war ein simples Gesetz der Wirtschaftlichkeit.

»Du solltest die Warnung beherzigen, Miranda«, mahnte Matrosenmütze, während er sich auf die Treppe zubewegte. »Achte darauf, wem du begegnest – im Wasser und an Land.«

Ich ignorierte ihn und suchte mit den Augen den nun näher rückenden Hafen ab. Ich konnte meine Mutter unter den Gesichtern nicht ausmachen. Mein Blick fiel auf die Landschaft neben dem Hafen – ein rauer, grüner Hügelkamm, der in Richtung Sand und hohes Seegras abflachte. Dieses Stück Natur war so unberührt, so ursprünglich, so weit entrückt von jeder Zivilisation! Mir wurde klar, dass es seit Jahrhunderten unverändert sein musste; vielleicht waren die ersten Seeleute, die nach Selkie gekommen waren – eben jene Seeleute, die womöglich den Kraken erfunden hatten –, an jener Stelle gestrandet.

Die Fähre legte an. Mir kam der Gedanke, dass Wissenschaftler und Seeleute sich irgendwie ähnelten; beide wollen, mehr als alles andere, Entdeckungen machen. Ein matrosenhaftes Interesse regte sich in mir, als ich meinen Seesack aufhob. Natürlich musste man sich auf Selkie Island vor nichts in Acht nehmen.

Doch ich konnte mich nicht des Gefühls erwehren, dass es eine Menge Dinge zu entdecken gab.