Es gab keinen Schlüssel. So lautete die Schlussfolgerung, zu der ich am Nachmittag des Vierten Juli gelangte, als ich aus der Badewanne stieg. Ich stieß einen frustrierten Seufzer aus und wickelte mich in ein Handtuch.
Nur die von Mom belegten Räume auslassend hatte ich gestern jede Ecke und jeden Winkel des Alten Seemanns in der Hoffnung durchforstet, einen Schimmer verrosteten Goldes zu entdecken, und war von den Regalen in Isadoras Wandschrank bis zu den Schränkchen im Badezimmer vorgestoßen. Doch ich hatte nichts gefunden.
Aber wenigstens träumte ich jetzt von Schlüsseln und Koffern statt von Grotten und Küssen. Jetzt musste ich nur noch meine Zeit mit T. J. heute Abend genießen, und der unaufhörliche Wunsch, Leo wiederzusehen, würde komplett verschwinden.
Hoffte ich.
Als ich in mein Zimmer trottete, hörte ich, vom Jubel ungeduldiger Kinder begleitet, ein paar verfrühte Feuerwerksraketen über dem Glaucus Way explodieren. Während ich zu meiner Kommode hinüberlief, spürte ich schon die Vorfreude, die mich am Vierten Juli immer überkam.
Heute Morgen hatten Mom und ich einen kurzen, schweigsamen Spaziergang zum Feinschmeckermarkt unternommen und hatten die Stadt in Rot, Weiß und Blau geschmückt vorgefunden. Die Gerüche von gegrilltem Fleisch und den Holzspänen des Mesquite-Baums konkurrierten mit dem Duft der Blumen und des Salzwassers, und der sonnige Himmel war wie ein Urlaubsgeschenk. Es fiel schwer, an solch einem Tag weiter verärgert zu sein; beladen mit Lebensmitteln waren Mom und ich auf dem Weg zurück zum Alten Seemann schon etwas entspannter. Mom hatte sogar einen Witz über die Anzahl der Konföderierten-Flaggen gemacht, die neben den amerikanischen hingen. Dennoch war die Stimmung zwischen uns komisch, und es gab keine Unterhaltung über T. J. oder seinen Vater.
Ich zog jede Schublade meiner Kommode auf und blickte entmutigt auf meine Klamotten. Der löchrige Rock, den ich zur Thronerben-Party getragen hatte, stand außer Frage, und kein einziges anderes Kleidungsstück wäre wahrscheinlich schick genug für Bobbys Boot.
Mein Blick wanderte zu den nackten Füßen hinunter, dann sah ich schnell in den Spiegel über der Kommode. Meine Haare waren in einen Handtuchturban gewickelt, was meine Augen groß erscheinen ließ, und die Haut war von der Hitze des Bads gerötet. Mir fiel ein, wie Leo mich nach dem Sturm angesehen hatte. Ich wünschte, ich hätte mich selbst so sehen können wie er, doch dann ermahnte ich mich, dass er seine Bewunderung wahrscheinlich nur vorgetäuscht hatte, um mich zu seinem Haus zu locken.
Ich betrachtete mein Spiegelbild eingehender. Meine Wimpern waren zu kurz, meine Brauen zu dicht, meine Lippen viel zu blassrosa. Ich erinnerte mich an T. J.s Bemerkung, dass der Alte Seemann etwas mehr Glanz gebrauchen könne – und war plötzlich wild entschlossen.
Ich würde es tun. Ich würde es richtig machen.
»Mom?«, rief ich fünf Minuten später und lief in Jeans und einem Button-down-Hemd die Treppe hinunter. Meine Haare hatte ich wie üblich zu einem Pferdeschwanz gebunden. »Wie komme ich zu CeeCees Haus?«
Mom, die zur Abwechslung mal ausruhte, saß auf der hinteren Veranda und las die dienstägliche Wissenschaftsbeilage der New York Times; sie ließ sich unser Abonnement für diesen Monat in den Alten Seemann nachsenden. Ich war froh darüber und hatte beim Frühstück einen Artikel über In-vitro-Fertilisation verschlungen. Ich war schon ganz ausgehungert nach wissenschaftlichen Beiträgen.
Mom sah auf und schob ihre Sonnenbrille nach oben auf den Kopf. »Woher das plötzliche Bedürfnis, Miss Cooper zu sehen?«, fragte sie mit einem Lächeln.
Ich erzählte ihr von meinem Vorhaben, die Thronerben zu treffen – klammerte dabei T. J.s Namen aus, auch wenn er stillschweigend in der Luft hing –, und ihr Gesicht hellte sich auf. Sie sagte, dass sie sich ebenfalls das Feuerwerk ansehen wollte, allerdings mit Delilah und ›ein paar Freunden‹ vom Strand aus. Die Andeutung ihrerseits schien ebenfalls einen Illingworth mit einzuschließen, aber ich war dankbar, dass sie seinen Namen nicht aussprach.
Mom erklärte mir den Weg zum Haus der Coopers und stand dann auf. »Warte mal«, sagte sie und fasste in die Tasche ihrer weiten Leinenhose. »Ich hab was für dich.«
Und dann zog sie einen goldenen Schlüssel hervor.
Mein Herz setzte aus. Wie um alles in der Welt …
»Ich hab dir extra einen machen lassen«, sagte Mom und lächelte mich zerknirscht an. »Ich dachte, du kommst heute bestimmt spät nach Hause, da …«
Mein Atem ging wieder normal. Okay. Es war der Haustür-, nicht der Kofferschlüssel. Und es war Moms Art, mir zu zeigen, dass mein inoffizieller Hausarrest erstmal vorüber war. Ich dankte ihr, nahm den Schlüssel und machte mich auf den Weg.
Das Haus der Coopers lag nicht weit vom Alten Seemann entfernt, und obwohl es ein schwüler Nachmittag war, hatte ich kaum geschwitzt, als ich die Poseidon Street erreichte. Das Anwesen war eine kleinere, besser gepflegte Ausgabe des Alten Seemanns, mit einem ordentlich gemähten Rasen, modern aussehenden Fenstern, die vom Boden zur Decke reichten, und einem schimmernden Swimmingpool im Garten. Ich klingelte an der Tür und war leicht nervös wegen meines unangemeldeten Besuchs. Mom hatte mir versichert, dass die Leute auf Selkie so etwas die ganze Zeit machten, doch ich hatte das Gefühl, dass ich CeeCee eigentlich zuerst hätte anrufen sollen. Ich war schon darauf vorbereitet, mich bei Delilah oder CeeCees Vater zu entschuldigen, sobald einer von ihnen die Tür aufmachte.
Die jedoch wurde von einer zierlichen Frau in einer Dienstmädchenuniform geöffnet, die sich mir als Althea vorstellte. Ich war überrascht. Hausmädchen oder Butler gehörten für mich nur in Herrensitze des neunzehnten Jahrhunderts.
Als ich sagte, dass ich gekommen sei, um CeeCee zu besuchen, führte mich Althea durch das pastellfarbene Wohnzimmer. Delilah ruhte, mit Gurkenscheiben auf den Augen, auf dem Sofa. Als ich an ihr vorbeilief, hob sie eine der Scheiben an und sagte, sie würde sich freuen, meine Mutter heute Abend zu treffen. CeeCees Vater klebte vor dem Plasma-Fernseher und schaute sich ein Golfspiel an; er sah noch walrossiger aus, als ich ihn in Erinnerung hatte.
Ich folgte Althea nach oben bis zu CeeCees Zimmertür, die mit Schnappschüssen – offenbar alle im letzten Sommer aufgenommen – gepflastert war: CeeCee, Virginia, Jacqueline, T. J., Bobby, Macon, Rick und alle anderen. Alle waren gleichmäßig gebräunt und fotogen, alle lachten und räkelten sich auf Strandtüchern. Beim Anblick dieser Fotos fragte ich mich, ob ich CeeCee später überhaupt treffen sollte oder den Vierten Juli doch besser im Alten Seemann verbrachte.
Doch dann öffnete CeeCee die Tür – und kreischte.
»Ich kann nicht glauben, dass du gekommen bist!« Sie trug nichts als einen beigefarbenen BH und einen mit kleinen Rosen besetzten Slip, wirkte aber völlig ungeniert. Am Handgelenk zerrte sie mich in ihr Zimmer, das in verschiedenen Lilatönen gestrichen war und nach ihrem blumigen Parfum duftete. Nachdem ich die letzten Tage alleine im Alten Seemann verbracht hatte, überkam mich sofort ein wohliges Gefühl, als ich diese Blase aus Weiblichkeit betrat. Virginia und Jacqueline, die farbenfrohe Strandkleider trugen und Zitroneneis schleckten, lungerten auf einem anscheinend riesigen Bett herum – die Größe war schwer zu erkennen, da es über und über mit Klamotten bedeckt war. Weitere Kleidungsstücke lagen auf dem Boden verstreut, und CeeCees Frisiertisch war unter den Bergen von Schönheitsmittelchen kaum auszumachen. Eine Minianlage, aus der Popmusik dudelte, stand unsicher auf einem Stapel aus grünen und rosafarbenen Taschenbuchromanen. Ich musste an mein gut organisiertes, aufgeräumtes Zimmer zu Hause in Riverdale denken – als ›abnorm ordentlich‹ hatte Linda es immer bezeichnet. CeeCee befand sich am anderen Ende der Abnormität.
»Althea, bringst du uns noch mehr Eis?«, befahl CeeCee, bevor sie dem Hausmädchen die Tür vor der Nase zuknallte. Ich zuckte zusammen, und CeeCee sah mich lächelnd an. »Was für ein Glück, dass sie jeden Sommer mit uns hier rauskommt«, erklärte sie.
»Was machst du hier, Miranda?«, rief Virginia vom Bett aus. Ich drehte mich um und bemerkte, dass sie nicht so gestylt wie sonst wirkte: Ihr Mascara war an den Augen verlaufen, das türkisfarbene Hängerkleid etwas zerknittert, und ihr Gesicht sah wütend aus.
»Beachte sie gar nicht«, sagte Jacqueline und klopfte mit dem Stiel ihres Eises auf Virginias Schulter. »Sie ist schlecht gelaunt, weil sie sich mit Rick gestritten hat.«
»Jedes schöne Gefühl hat seine Tränen, hätte meine Großmutter gesagt«, rief CeeCee kichernd und trat vor ihren Frisiertisch. »Sie tut sich selber leid.«
»Ich hab mich nicht mit Rick gestritten«, wandte Virginia ein, während ich dagegen ankämpfte, nicht an meinen Streit mit Leo zu denken. »Er hat sich an dieses Flittchen Kay McAndrews rangemacht, also ist Schluss. Die Wahrheit ist, dass ich was viel Besseres verdient hätte. Er spielt überhaupt nicht in meiner Liga.«
»Tja, deine Familie hat mehr Geld als seine, wenn du das meinst«, sagte CeeCee lachend und wandte sich zu mir.
»Aber warte mal«, fuhr sie fort. »Wieso bist du denn jetzt gekommen, Miranda?« So wie schon am Tag zuvor riss sie erwartungsvoll ihre Augenbrauen in die Höhe.
Mit einem Schulterzucken schob ich alle Zweifel beiseite. »CeeCee, ich möchte, dass du …« Mich veränderst klang viel zu endgültig. Außerdem glaubte ich nicht, dass jemand wirklich verändert oder einer Metamorphose unterzogen werden konnte. Diese Art von Veränderung passierte nur in der Natur – eine Puppe, die sich in einen Kometenfalter verwandelte, ein Chamäleon, das sich der braunen Farbe eines Baums anpasste. »… mir ein paar Sachen leihst«, sagte ich schließlich.
»Ich dachte schon, du würdest nie fragen«, seufzte CeeCee glücklich. Jacqueline sprang gleich vom Bett, um ihre Hilfe anzubieten. Virginia hingegen biss bloß einen dicken Happen von ihrem Eis ab und schlug eins der Magazine auf, die über das Bett verteilt lagen.
Murmelnd und gackernd wie Hühner machten sich CeeCee und Jacqueline daran, ein paar Sommerkleider vom Boden aufzuheben und sie mir anzuhalten. Ich stand ganz still da und kam mir vor wie eine Laborratte.
Bevor ich aus dem Alten Seemann hierhergekommen war, hatte ich überlegt, ein paar von den Kleidern meiner Großmutter mitzubringen, dann aber entschieden, dass das wohl ein wenig unheimlich wäre. Doch so schön CeeCees Kleider auch waren, keines verfügte über die altmodische Magie von Isadoras. Ich mochte die Kleider meiner Großmutter aus demselben Grund, aus dem ich gerne in Secondhandshops einkaufte: Jedes Teil hatte eine Geschichte.
Als Althea mit weiterem Eis zurückkehrte, hatte CeeCee ein lavendelfarbenes Seidenkleid mit breiten Trägern als ›dasjenige welches‹ auserkoren. Ich mochte die Vorstellung nicht, mich vor den drei Mädels auszuziehen, doch es gelang mir, meinen Umkleidekabinentrick anzuwenden, wobei ich das Kleid über den Kopf zog, schnell mein Hemd aufknöpfte und mich aus meinen Jeans schälte. Als ich das Kleid endlich anhatte, sah ich, dass das Preisschild noch befestigt war, und musste angesichts der fetten dreistelligen Zahl kräftig schlucken.
»Hört mal«, sagte ich und zappelte herum, als CeeCee mir den Reißverschluss hochzog und Jacqueline eine Auswahl an Schuhen anschleppte. »Wir wollen es nicht übertreiben, okay? Ich möchte immer noch nach mir selbst aussehen.« Ich hob die Hand, um die silberfarbenen Zehensandalen abzuwehren, die mir Jacqueline präsentierte. Ich hatte meine schwarzen flachen Schuhe angezogen, wohl wissend, dass die Mädchen darauf weniger gereizt reagieren würden als auf meine Chucks.
»Ach, nun komm schon, Miranda«, rief CeeCee, löste meinen Pferdeschwanz und schob mich in einer fließenden Bewegung auf das Bett zu. »Genieß mal ein bisschen das Leben.«
Ich setzte mich und streckte die Hand nach meinem Haarband aus, doch CeeCee reichte es Jacqueline, die es in die Tasche ihres orangefarbenen Kleids steckte.
»Es ist ganz gesund, dein Äußeres mal ein wenig zu pimpen«, säuselte Jacqueline und reichte CeeCee eine große Dose Schaumfestiger.
»Genau«, bestätigte CeeCee und pumpte einen Klecks Festiger auf ihre Handfläche. Unwillkürlich wich ich zurück, doch sie zog mich wieder zu sich. »Für eine Nacht kannst du jemand anderes sein«, ergänzte sie. »So als wärst du auf einem Maskenball oder«, ihre Augen leuchteten begeistert, »als hätte dich jemand verzaubert, so wie Cinderella oder Arielle.«
»Wer ist Arielle?«, fragte ich und vergaß dabei zu protestieren, während CeeCee den Schaumfestiger in mein Haar rieb und Jacqueline mit einem Mascara auf mich losging.
»Könnt ihr nicht mal ’nen Gang runterschalten?«, blaffte Virginia neben mir und blätterte lautstark eine Seite ihres Magazins um.
»Hallo? Die Kleine Meerjungfrau?«, rief CeeCee, verdrehte die Augen und lockerte mein Haar auf.
»Also ehrlich, was hast du eigentlich zwischen fünf und zwölf gemacht, wenn du keine alten Disneyfilme angeschaut hast?«, fragte Jacqueline und rollte den Mascarastab über meine Wimpern. Die Frage war nicht böse gemeint – sie schien aufrichtig verwirrt.
»Wissenschaftliche Experimente«, murmelte ich mit einem Schulterzucken.
Ich hörte Virginia schnauben.
»Du bist echt merkwürdig«, sagte CeeCee liebevoll und ging zurück an ihren Frisiertisch, um ein Töpfchen Lipgloss zu holen.
Meerjungfrau. Ich verspürte einen komischen kleinen Schmerz. »Hey«, nuschelte ich, während CeeCee den Lipgloss auftrug. »Kann ich euch mal was total Krankes fragen?«
»Was denn?«, fragte Jacqueline und hielt eine Puderquaste über meinen Wangenknochen.
Ich fing an, an meinen Nägeln zu zupfen – meine Maniküre löste sich ohnehin langsam auf –, doch CeeCee schob meine Hand weg.
»Hat schon mal jemand von euch«, setzte ich an und versuchte, ganz entspannt zu klingen, »etwas von EINE EINFÜHRUNG IN DIE LEGENDEN UND ÜBERLIEFERUNGEN VON SELKIE ISLAND gehört?«
»Nein«, erwiderten CeeCee und Jacqueline gleichzeitig, doch Virginia sagte: »Na, klar.« Ich wirbelte herum, um Virginia anzublicken, während CeeCee einen Schmollmund zog, weil nun der Lipgloss verschmiert war.
»Das ist dieses Buch, das irgend so’n Typ zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts geschrieben hat«, sagte Virginia gedehnt und räkelte sich auf dem Bett. »Angeblich war es ziemlich umstritten, weil er es wie eine anthropologische Studie verfasst hat, aber in Wahrheit geht’s bloß um diesen ganzen Aberglauben.«
Ich kniff die Augen zusammen und realisierte, dass ich sie wohl das erste Mal von etwas anderem als Jungs sprechen hörte.
»Warte mal«, warf CeeCee ein und drehte mein Kinn wieder in ihre Richtung. »Das kommt mir irgendwie bekannt vor. Geht’s da nicht um einen Piratengeist, der auf der Insel herumspukt?«
Jacqueline lachte und schmierte blauen Lidschatten auf das Fältchen über meinen Lidern. »Hängt da deswegen dieses komische Ungeheuerschild am Hafen?«
»Ich glaube, es gibt da irgendeine Geschichte über einen Piraten, der eine Meerjungfrau heiratete, und wie Meerjungfrauen im Wasser draußen vor Siren Beach leben.« Virginia gähnte. »Und vielleicht auch irgendwas über fliegende Fische oder was auch immer. Mama hat mir diese Geschichten erzählt, als ich klein war.«
Ich schloss meine Augen, damit Jacqueline den Lidschatten verteilen konnte. Hatte mir meine Mutter eigentlich Geschichten erzählt, während ich aufwuchs? Wenn sie es versucht hatte, so war ich mir sicher, dass ich sie entweder unterbrochen oder ausgeblendet hatte.
»Die Geschichten sind also nicht wahr, oder?«, fragte ich und hoffte, immer noch ganz beiläufig zu klingen und nicht so, als hätte ich das jemals in Erwägung gezogen.
»Oh, bitte.« Ich hörte Virginia vom Bett rutschen und sah, wie sie die Lautstärke an CeeCees Anlage aufdrehte. »Jeder weiß doch, dass es bloß ein derber Quatsch ist. Dasselbe, was den Leuten früher in Kuriositätenkabinetten vorgespielt wurde.«
»Okay, klar.« Ich lachte, erleichtert, doch zugleich immer noch unruhig. »Ich hab auch nicht wirklich geglaubt …«
»Fertig!«, verkündete CeeCee, trat einen Schritt zurück und begutachtete mich lächelnd. »Nur noch eine Sache, dann ist es perfekt …« Sie stürzte zu ihrem Frisiertisch, nahm ihr silbernes Glücksarmband und brachte es mir.
»CeeCee, ich kann dein Armband nicht tragen«, sagte ich, während sie es um mein Handgelenk legte und den Verschluss einhakte. »Was ist, wenn ich es verliere?«
»Sei nicht albern«, spöttelte CeeCee. »Ich hab noch andere. Außerdem sollte ein echtes Südstaatenmädchen zu besonderen Gelegenheiten immer mit einem Glücksarmband von James Avery herumlaufen.«
»Virginia und ich haben auch eins«, bestätigte Jacqueline.
»Ich bin kein echtes …«, setzte ich an, betrachtete dann aber eingehend die Anhänger. Es gab eine winzige Geburtstagstorte mit Diamanten als Kerzen; eine kleines Fährschiff, das der Princess of the Deep ähnelte; einen Violinenschlüssel; ein Paar Schlittschuhe.
CeeCee bemerkte, wie ich auf das Armband starrte, und lächelte triumphierend. »Hübsch, nicht? Am schönsten finde ich den Violinschlüssel, obwohl ich Klavierstunden eigentlich nicht mag. Meine Großmutter hat ihn mir geschenkt.«
Ich nickte. Eine Großmutter zu haben, die mir Glücksanhänger schenkte – oder mir einen Schal strickte oder Kuchen backte oder Dinge wie ›Jedes schöne Gefühl hat seine Tränen‹ sagte –, war eine mir unbekannte Erfahrung. Meine Merchant-Großeltern waren gestorben, bevor ich auf die Welt kam, und Isadora war … Isadora. Wenn Isadora aber ein Teil meines Lebens gewesen wäre, dann hätte sie mir vielleicht ein James-Avery-Armband geschenkt, sodass auch ich ein echtes Südstaatenmädchen hätte sein können. Ein seltsamer Gedanke.
»Und nun«, sagte CeeCee, fasste meine Hand und zog mich hoch, »darfst du einen offiziellen Blick auf dich selbst werfen.« Sie führte mich zum Frisiertisch, Jacqueline trat beiseite, und ich stand vor dem Spiegel.
Ich schnappte nach Luft.
Ich war mir nicht sicher, welche Art von Hexerei CeeCee angewandt hatte, aber mein Haar fiel in weichen dunklen Locken herab. Meine Lippen waren karmesinrot, meine Wimpern lang. Das Rouge auf meinen Wangen ließ meine Haut cremig-weiß aussehen und nicht leichenblass wie sonst. Das Glücksarmband sah an meinem Handgelenk ganz natürlich aus, und das lavendelfarbene Kleid, obwohl zu kurz und am Busen etwas zu weit – CeeCee und ich hatten ziemlich unterschiedliche Proportionen –, schmeichelte meiner Figur. Ich wirkte …
»Großartig!«, rief CeeCee.
»Viel, viel besser«, kommentierte Virginia und leistete uns vor dem Spiegel Gesellschaft.
»Wie eine Prinzessin«, warf Jacqueline ein.
Wie Isadora, dachte ich.
Ich sah aus wie meine Großmutter.
Es war unbestreitbar. Der deutliche, klare Beweis blickte mich an. Die Isadora vom Foto im Wohnzimmer, die Isadora von dem Gemälde war dort im Spiegel. Ich spürte den Puls in meiner Kehle pochen. Jetzt verstand ich. Ich verstand die Vergleiche. Ich hatte tatsächlich ein paar von Isadoras Genen geerbt.
War es das, was Mom jedes Mal sah, wenn sie mich anblickte? Sah sie das Monster?
»Oh nein!«, rief CeeCee und schlug ihre Hände vors Gesicht. »Es gefällt dir nicht.«
Mir wurde klar, dass mein Gesichtsausdruck so geschockt wirken musste, als hätte ich ein Gespenst gesehen. Ich wandte meinen Blick vom Spiegel ab und brach den Zauberbann. »Doch … es gefällt mir«, sagte ich zögernd und blickte CeeCee an. »Es ist nur … anders.«
»Du wirst dich schon daran gewöhnen«, sagte Jacqueline und legte mir ihren Arm um die Schulter.
»Genau wie an T. J.«, meinte CeeCee kichernd und klatschte in die Hände.
Mein Puls schlug höher.
»Cecile LeBlanc Cooper, kannst du dich jetzt auch mal anziehen?«, grummelte Virginia und drehte sich vom Spiegel weg. »Ich weiß zwar, dass du dich für die Königin von Selkie hältst, aber auch für dich werden sie das Feuerwerk nicht auf später verschieben.«
CeeCee zog sich an, trug ihr Make-up auf, und dann strömten wir vier nach unten, wo Althea uns die Tür nach draußen aufhielt. Ich war froh, dass Delilah nicht in der Nähe war; ihre unausweichlichen Kommentare über meine Ähnlichkeit mit Isadora hätten mir echt Angst gemacht.
Der Abend war mild und voller Mücken, und der klare Himmel wurde langsam dunkler. Wir nahmen die Abkürzung zum Hafen, und ich musste natürlich an Leo denken, während wir den kiesbedeckten Weg hinunterliefen und CeeCee und ihre Freundinnen dabei mit ihren hohen Absätzen ins Stolpern kamen. Wie würde Leo wohl den Vierten Juli verbringen? Versuchte auch er, mich zu vergessen, oder war er bereits zur Tagesordnung übergegangen?
Als der Hafen in Sicht kam, ertappte ich mich dabei, wie ich nach einem Anzeichen von dunkelblondem Haar und grünen Augen Ausschau hielt. Doch stattdessen gab es dort unzählige Sommergäste, die sich in Schale geworfen hatten und, mit Champagnerflaschen und geflochtenen Picknickkörben beladen, ihre privaten Boote bestiegen.
Am anderen Ende des Hafens hatte allerdings ein kleines Fischerboot festgemacht, und mir fielen ein paar Männer auf, die Kästen voller Fisch entluden. Die Männer trugen karierte Hemden und weite Hosen und scherzten beim Arbeiten. Ein großer Fisch mit grau-grünen Schuppen flutschte aus einem der Kästen. Er lebte noch und schien sich verzweifelt nach Hause zu sehnen. Mit seinem ganzen Gewicht zappelte sein Körper auf dem Dock hin und her. Bei diesem Anblick zog sich mein Herz zusammen, doch schon hob ein Fischer mit breiten Schultern und einer dichten weißen Mähne den Fisch auf und warf ihn zurück ins Wasser. Für einen Augenblick fragte ich mich, ob ich gerade Leos Vater gesehen hatte.
»Da sind sie ja!«, rief Jacqueline.
Ich wandte meinen Blick von dem Fischer ab und entdeckte T. J., Bobby, Macon, Rick und Lyndon. Sie standen vor einem schlanken, silbrigen Motorboot, das am Kai festgemacht war. Alle trugen Sonnenbrillen und hatten ihre Poloshirts in die Khakihosen gestopft; Bobby hielt eine Flasche Champagner und einen Picknickkorb in den Händen. Ich verspürte leichte Aufregung und holte tief Luft.
»Wünsche einen schönen Unabhängigkeitstag, Mädels!«, rief Bobby, während CeeCee mit ausgestreckten Armen auf ihn zulief. Jacqueline überließ sich Macons Umarmung, Virginia und ich trotteten hinterher.
Noch nie zuvor hatte ich erlebt, wie jemand so deutlich zwei Mal hinsehen musste, doch genau das tat T. J. jetzt – er sah zu mir, nahm seine Sonnenbrille ab, blinzelte und schaute ein weiteres Mal, wobei seine Augen tellergroß wurden. »Miranda?«, fragte er mit völlig ungläubiger Stimme.
Als ich nickte, kam T. J. breit lächelnd zu mir herüber. Mir wurde heiß und ich erwiderte sein Lächeln. Die Schönheitsbehandlung der Mädchen zu erdulden, hatte sich in diesem Moment anscheinend ausgezahlt.
»Wow«, murmelte T. J., so wie er es schon im Arbeitszimmer des Alten Seemanns getan hatte. Er nahm meine Hand und hielt mich eine Armeslänge von sich entfernt fest. »Unglaublich. Weißt du, dass du aussiehst wie …«
»Ich weiß«, fiel ich ihm ins Wort. Immer noch war ich leicht geschockt von der Ähnlichkeit, die ich in CeeCees Spiegel gesehen hatte.
T. J. blickte mich weiterhin an und wirkte so zufrieden, als ob er mich selbst erschaffen hätte. Ich wollte gern mit ihm über Mom und seinen Vater reden, doch er schien viel zu abgelenkt von der neuen und verschönerten Miranda, als dass er hätte sprechen können.
Plötzlich spürte ich mein Herz schlagen und überlegte, wie wohl Leo reagieren würde, wenn er mich an diesem Abend sehen könnte. Würde er so viel Aufhebens um meine Veränderung machen? Ich schaute wieder zu den Fischern hinüber, die ihre Kisten jetzt zum McCloud Way trugen, dem unbefestigten Weg, der zu Leos Haus führte. Niemand von den Sommergästen schien ihre Anwesenheit überhaupt zu bemerken.
»Können wir jetzt an Bord gehen?«, blaffte Virginia und sah zu T. J. und mir herüber. »Meine Schuhe bringen mich um.« Sie klick-klackte auf das Boot zu und streifte dabei Rick, der ihr grinsend hinterherblickte. Auch T. J. schien amüsiert zu sein.
»Wir warten noch auf ein paar andere Passagiere«, erklärte Lyndon und winkte auch schon in Richtung des Kieswegs, wobei sich sein Gesicht aufhellte. »Da kommen sie schon!«
Ich drehte mich um und sah zwei Mädchen, die ich von der Erben-Party vage wiedererkannte. Sie trippelten auf uns zu, trugen weiße Strohhüte, weiße Rüschenkleider und weiße Handschuhe. Es war klar, dass sie sich so angezogen hatten, um CeeCee und ihre Freundinnen zu übertrumpfen – und das mit Erfolg.
»Sallie! Kay!«, rief CeeCee mit gespielter Fröhlichkeit. »Was für eine … nette Überraschung.«
»Meine Damen«, ließ sich T. J. verlauten und beugte den Kopf. Ich sah ihn an und wollte laut loslachen. War dies die einzige Begrüßung in seinem Repertoire?
Lyndon und Rick eilten ebenfalls zur Begrüßung herbei, die Sallie und Kay lediglich mit einem überlegenen Lächeln quittierten. Ohne mich umzudrehen, konnte ich spüren, wie sich CeeCee und ihre Freunde verspannten und wie Schafsböcke, die einen Kampf erwarteten, in Stellung gingen. Mir kam der Gedanke, dass das Leben der Thronerben ein wenig wie das in der Wildnis war: Ständig gab es eine Bedrohung durch unbekannte Feinde, die sich nicht scheuten, den Herrschaftsbereich der angestammten Tiere anzugreifen.
Wie bei der Arche Noah bestiegen wir in Zweiergruppen das Boot: Bobby und CeeCee führten an, gefolgt von Macon und Jacqueline. T. J., wieder ganz der galante Gentleman, nahm meine Hand und geleitete mich an Bord des schwankenden Schiffchens. Dann halfen Lyndon und Rick Sallie und Kay an Deck und ließen eine schäumende Virginia zurück, die nun allein auf das Boot klettern musste. Als wir uns alle auf die niedrigen Holzbänke gesetzt hatten, musste ich lächeln und fühlte mich ein wenig verräterisch.
Der Himmel war fast ganz dunkel, und die ersten kleinen Sterne gaben sich zu erkennen, als Bobby das Boot vom Kai losmachte. Romantisch, dachte ich und spürte T. J. rechts neben mir sitzen. Die Meeresbrise trug den Duft seines Eau de Cologne zu mir herüber. Ich überlegte, ob es schon immer so schwer und beißend gerochen hatte. Vielleicht hatte er heute Abend mehr als sonst aufgetragen.
Am Heck postierte sich Bobby hinter dem Steuerruder. Winzige Lichter erstrahlten am Bootsrumpf, und der Motor kam brausend auf Touren. Alle – selbst ich – jubelten, und Ricks: »Ahoi, Matrosen!« verursachte Lachsalven bei Sallie und Kay.
Wir schnitten mit einem Tempo durch das Wasser, das die Princess of the Deep niemals hätte erreichen können. Bobby ließ uns im Rhythmus der Wellen ein wenig auf- und abhüpfen, bevor wir uns unter die anderen Boote draußen auf dem Meer mischten. Mir wurde klar, dass ich mich, sei es aufgrund der richtigen Gene oder der Fügung des Schicksals, genau dort befand, wo in diesem Augenblick alle auf Selkie sein wollten. Und in gleichem Maße verspürte ich Schwindel und Schuldgefühle.
»Los Leute, köpft den Veuve und bedient euch mit dem Essen!«, rief Bobby durch den Fahrtwind und hielt das Ruder fest. CeeCee schwankte auf ihn zu und legte ihm die Arme um den Hals.
»Was ist denn der Veuve?«, fragte ich T. J., der mich mit vorstehenden Augen anblickte und in Lachen ausbrach.
»Du machst Witze, oder?«, fragte er. Als ich, leicht genervt, den Kopf schüttelte, nahm er die Champagnerflasche vom Kirschholzboden des Bootes, wo Bobby sie vorher hingestellt hatte. »Veuve Cliquot ist die Marke«, erklärte T. J., so als hätte ich das mindestens seit meiner Geburt wissen müssen. Uns gegenüber kicherten Virginia, Sallie und Kay – für einen kurzen Moment in ihrer Verächtlichkeit vereint.
»Ach so«, murmelte ich und fummelte an einem von CeeCees Glücksbringern herum. Durch das Armband war mein Handgelenk ganz verschwitzt. Wieso trugen Südstaatenmädchen diese Dinger? »Natürlich.«
»Du bist so ein Snob, T. J.«, flötete Jacqueline, die auf Macons Schoß saß. »Du solltest doch wissen, dass nicht jeder Champagner trinkt.«
»Zu schade«, erwiderte T. J. grinsend. Mit einem filmreifen ›Plop!‹ – Wenn sich nur Isadoras Koffer so leicht öffnen ließe, dachte ich wehmütig – entkorkte er geschickt die Flasche, aus deren Hals Schaum emporstieg. Alle außer mir jubelten wieder auf, und Virginia verteilte gekühlte Champagnergläser aus ihrem Picknickkorb.
»Immer noch sehr geschickte Hände, wie ich sehe«, sagte sie zu T. J., sah ihn mit einer hochgezogenen Augenbraue schräg an und blickte danach unverblümt in meine Richtung.
Ich wurde rot und schaute auf die spiegelgleiche Wasseroberfläche. Für einen Moment glaubte ich, ein goldenes Glitzern unter den blauschwarzen Wellen zu erkennen.
»Für Sie, meine Dame«, sagte T. J. grinsend und reichte mir ein bis zum Rand gefülltes Glas. Virginia und Lyndon verteilten den Rest auf die anderen Gläser, und Jacqueline und Macon waren damit beschäftigt, Hummerröllchen aus dem Korb zu holen und sie herumzureichen.
»Danke«, erwiderte ich. T. J. stieß sein Glas gegen meins und kippte seinen Drink hinunter. Ich war mir nicht sicher, ob Alkoholtrinken abends auf einem Boot so eine gute Idee war, doch da ich nicht allzu schulmeisterlich klingen wollte, behielt ich den Gedanken für mich. Vorsichtig sah ich zu, wie Rick einen riesigen Schluck Champagner nahm, und dann so tat, als würde er mit verbundenen Augen über die Schiffsplanke ins Wasser getrieben werden.
»Noch fünf Minuten bis zur Show!«, rief jemand von einem der Boote neben uns. Über mir stieß eine Seemöwe einen Schrei aus. Irgendwer in einem anderen Boot lachte lauthals.
Ich beschloss, dass ich mich der vorherrschenden Stimmung genauso gut hingeben könnte, und trank vorsichtig einen Schluck von dem Schampus. Er kitzelte in meiner Kehle und war herber, als ich erwartet hatte. Ich hielt gerade nach einem sicheren Plätzchen für mein Glas Ausschau, als mein Blick auf die orangefarbenen Rettungswesten fiel, die unter der gegenüberliegenden Bank verstaut lagen.
Ich tippte auf T. J.s Schulter. »Sollten wir nicht diese Dinger da tragen?«, fragte ich und entschied, auf den vermeintlich miesepetrigen Schulmeister zu pfeifen. Immerhin hatte T. J. neulich im Arbeitszimmer mehr oder weniger zugegeben, dass er durchaus ein braves Mädchen haben wollte. »Ich meine, laut Gesetz?«, fügte ich hinzu.
»Hmm?« T. J. sah mich an, während er gerade in ein Hummerröllchen biss. An seinem Mundwinkel klebte Mayonnaise.
»Wie, sollen wir etwa unsere Kleider ruinieren?«, warf Virginia ein und glättete die Falten ihres Kleids. »Du kannst ja meinetwegen eine anziehen, Miranda.«
»Ach, wir brauchen keine Rettungswesten«, sagte T. J. zu mir. Die Mayonnaise war immer noch da. »Heute Nacht wird die Wasserpolizei bestimmt niemanden hochnehmen. Außerdem ist es hier noch gar nicht so tief.«
»Es gibt hier allerdings Unterströmungen«, sagte Jacqueline und reichte mir ein Hummerröllchen. »Selbst wenn man nicht tief im Wasser ist – wenn du in so eine Strömung gerätst, bist du …«
»In ernsten Schwierigkeiten«, mischte sich Macon ein und nickte.
»Plant ihr gerade eine Meuterei oder so was?«, brüllte Bobby vom Ruder her, wo ihn CeeCee mit Hummerröllchen fütterte.
»Wenn man in so eine Strömung gerät, muss man parallel zum Ufer schwimmen.« T. J. zuckte mit den Schultern. Ich konnte meinen Blick nicht von der Mayonnaise abwenden. »Und nicht in Panik geraten.«
Jacqueline und Macon nickten zustimmend, lehnten sich zurück und begannen zu essen. Ich sah auf mein Hummerröllchen und stellte fest, dass ich keinen großen Appetit hatte. »Ich gerate nie in Panik«, erwiderte ich wahrheitsgemäß. »Aber, äh, T. J.?«, sagte ich schließlich. »Du hast da was am Mund.«
Jetzt geriet T. J. in Panik. »Wirklich?«, keuchte er und tastete wild auf der falschen Seite seines Gesichts herum. »Hast du einen Spiegel?«
»Nein.« Ich wusste, dass es Mädchen gab, die überall einen Spiegel mit sich herumtrugen, doch dieser Gedanke war mir fremd. »Es ist gleich hier.« Ich richtete den Finger auf den Stein des Anstoßes, zögerte aber, T. J.s kräftigen Kiefer zu berühren. Ich wusste nicht, warum ich ihn nicht anfassen wollte. Schließlich hatten wir uns schon geküsst. Doch irgendwie schien es mir unnatürlich, ihn zu berühren.
»Ich hab einen Spiegel«, sagte Virginia und schaffte es tatsächlich, ihrer Äußerung einen Unterton zu verleihen. Sie beugte sich vor und reichte T. J. eine muschelförmige Puderdose. Doch bevor er sie öffnen konnte, beugte sie sich zu ihm, nahm ihre Serviette und wischte die Mayonnaise weg. Länger als nötig ließ sie ihre Finger über seiner Haut schweben, bevor sie sich schließlich zurücklehnte und lächelte.
Ich rechnete damit, dass jetzt die Eifersucht über mich hereinbrechen würde. Doch eine derartige Woge blieb aus.
T. J. sah mich verlegen an und machte sich wieder über sein Hummerröllchen her. Ich legte mein eigenes in den Picknickkorb zurück, stellte mein Champagnerglas ab und hoffte, dass es nicht umkippte.
Ein lautes knisterndes Geräusch ließ alle Gesichter nach oben blicken. Wie bei einem Regensturm ergossen sich rote und blaue Funken über den Himmel. Die Show hatte begonnen. Bobby stellte den Motor ab, sodass wir auf dem Wasser schaukelten, und plötzlich war es ganz still auf unserem Boot – und auf dem ganzen Meer. Ich fragte mich, was wohl die Fische, die Schildkröten und die Garnelen von uns, von den seltsamen Machenschaften der Menschen hielten.
Während die Farbensträuße über unseren Köpfen explodierten, dachte ich daran, dass Mom auf dem sandigen Uferstreifen von Siren Beach dasselbe Spektakel betrachtete. Und irgendwo in Fisherman’s Village würde es Leo – und vielleicht auch seine Familie – ebenfalls sehen. Angesichts der verblüffenden Schönheit eines Feuerwerkskörpers hörte ich mich selbst nach Luft japsen, nur um mich danach seufzen zu hören, als er verblasste und seine qualmenden Überreste zur Erde taumelten. Feuerwerke gehörten zu den seltenen Dingen, bei denen ich das Gefühl hatte, sie mir nicht erklären zu müssen. Ich wollte nicht wissen, wie sie funktionierten, weil ich Angst hatte, die ihnen innewohnende Magie zu zerstören.
Ich schaute zu meinen Weggefährten im Boot, war neugierig, ob sie ebenso verzaubert waren, und musste feststellen, dass sich die meisten von ihnen küssten: Sallie und Lyndon; Kay und Rick; Jacqueline und Macon; CeeCee und Bobby. Das Licht von oben warf helle Muster auf jedes Paar, während sie sich eng aneinanderdrückten. Auf gewisse Weise waren Feuerwerke irgendwie sexy: die Erwartung, die Explosion, die Auflösung. Meine Wangen brannten.
Die Einzigen, die nicht küssten, waren Virginia, T. J. und ich. Ich hielt den Atem an, als T. J. und ich uns anblickten und Virginia uns beide betrachtete.
Okay. Das war’s. Das war der Moment, in dem T. J. und ich einen Kuss austauschen würden, der bis in die Zehenspitzen kitzelte und der Leo zu einer fernen Erinnerung verblassen ließe. Ich versuchte, mein Gesicht näher an T. J.s zu bringen, doch wohl zum ersten Mal in meinem Leben gehorchte mein Körper nicht den Befehlen meines Gehirns.
Und dann fing T. J. an zu reden.
»Ich kann’s noch immer nicht glauben«, flüsterte er und richtete seinen Blick auf mein Gesicht. »Ich hab’s Bobby erzählt.«
Verwirrt runzelte ich die Stirn. »Was hast du Bobby erzählt?«, erwiderte ich flüsternd.
»Wie toll ihr aufgeräumt habt«, sagte T. J. lächelnd. »Ich wusste, dass du es hinkriegst.«
Eiseskälte überkam mich und ich wich zurück. Was das T. J.s Vorstellung von Zärtlichkeiten?
»Was hast du Bobby sonst noch so erzählt?«, fragte ich. Ein Feuerwerkskörper zog, von drei weiteren gefolgt, über unsere Köpfe hinweg. Vom Wasser klang Applaus zu uns herüber, und es hörte sich an, als ob einige Paare auf unserem Boot voneinander abließen, um keuchend in den Himmel zu gaffen. Doch ich hielt meinen Blick fest auf T. J. gerichtet. Das Feuerwerk spiegelte sich in seinen Augen.
T. J. lächelte und ließ Virginias Puderdose wie eine Münze über seine Handfläche gleiten. »Dass ich beeindruckt von deinem Haus und deiner Familie war.«
Mein Magen sank mir in die Kniekehlen, als mich die Wahrheit schließlich mit voller Wucht erwischte. Das war also alles, woran T. J. etwas lag. Oder etwa nicht? Mein Stammbaum. Mein Haus. Mein Gesicht. Die äußeren Anzeichen meines Erbes. Wenn ich überhaupt keine Verbindungen zu dieser Welt gehabt hätte, wenn ich einfach nur Miranda Merchant aus New York gewesen wäre – hätte sich T. J. Illingworth einen Dreck um mich geschert.
»Was? Was ist los?«, fragte T. J. und wurde blass. Mir wurde plötzlich klar, wie offensichtlich meine Gefühle – wenn ich sie denn zuließ – sein konnten. »Hab ich was zwischen den Zähnen oder so?«, fragte er und klappte umgehend Virginias Puderdose auf.
Eine weitere Staffel von Raketen wurde abgeschossen, doch noch immer sah ich nicht auf. Ich betrachtete T. J., der in den kleinen Spiegel linste und dabei auf lächerliche Weise seinen Mund verzog. Narziss, dachte ich. Der Typ, der sich in sein eigenes Spiegelbild verliebte und in eine Blume verwandelt wurde.
»Wirklich witzig, dass du meine Familie erwähnst«, sagte ich zu T. J. und hob meine Stimme, um das Getöse zu übertönen. »Wusstest du, dass dein Dad und meine Mom verlobt waren?«
Mein Bombenabwurf hatte nicht die gewünschte Folge.
»Ah-hah. Mein Vater hat’s mir erzählt, als wir von eurem Haus weggegangen sind«, erwiderte T. J. abwesend und verdrehte den Kopf, um sich besser sehen zu können.
Die Feuerwerksshow erreichte ihren Höhepunkt, und die Explosionen folgten jetzt schneller hintereinander. Ich setzte nach, wollte T. J. unbedingt von seinem Spiegel abbringen. »Na, wenn die beiden geheiratet hätten, dann wären wir ja so was wie …« Bruder und Schwester, dachte ich. Mein Magen verkrampfte sich. Ich war zuvor noch gar nicht auf diesen Gedanken gekommen, anscheinend auch, weil ich es nicht gewollt hatte. Aber vielleicht war es mir deshalb heute Abend nicht möglich gewesen, T. J.s Gesicht zu berühren oder ihn zu küssen, und vielleicht war auch deswegen die Idee eines Zusammenseins so abtörnend.
T. J. antwortete nicht, wandte sein Gesicht aber schließlich vom Spiegel ab und sah in den Himmel. Ich folgte seinem Blick. Das große Finale der Show setzte ein: Das Feuerwerk explodierte in einem Wahnsinn aus roten, blauen und weißen Lichtern. Feuerwerk. Fröstelnd wurde es mir klar. Unabhängig von der Verbindung zwischen T. J.s Dad und meiner Mom – zwischen uns würde es niemals funken, wir verursachten keine chemische Kettenreaktion.
»Das war großartig!«, rief Bobby, als der letzte Feuerwerkskörper ins Meer getrudelt war. Alle Passagiere auf allen Booten brachen in frenetischen Applaus aus.
Ich klatschte ebenfalls, meine Handflächen brannten. Das Feuerwerk war vorüber, und ich war hier fertig. Plötzlich fühlte ich mich frei. Jetzt, wo ich mir Klarheit über T. J. verschafft hatte, wollte ich soweit wie nur eben möglich von ihm entfernt sein.
Ich stand da und sah auf T. J. hinab, der immer noch applaudierte und in den Himmel grinste, völlig in sich selbst ruhend und zufrieden mit seinem Platz in dieser Welt.
»T. J.«, sagte ich und hörte die Entschlossenheit in meiner Stimme. »Ich bin nicht die, für die du mich hältst.« Mit war klar, dass es ziemlich lächerlich war, so etwas zu sagen – so als spräche der schrullige Typ im Film zu seiner Angebeteten, um sich im nächsten Moment in einen Superhelden zu verwandeln.
T. J. blinzelte mich an, doch bevor er mich bitten konnte, Näheres zu erklären, wandte ich mich an Virginia. Völlig unbefangen hatte sie uns die ganze Zeit beobachtet und in gespannter Erwartung nach ihrem Champagnerglas gegriffen.
»Er gehört dir«, sagte ich zu ihr. Ich meinte es ernst. Dann bahnte ich mir den Weg ans andere Ende des Boots, vorbei an Macon, Jacqueline und den anderen. CeeCee und Bobby turtelten noch immer herum, und Bobby hatte noch keine Anstalten gemacht, den Motor wieder zu starten.
Sehnsuchtsvoll blickte ich über das Wasser. Ich hätte einfach hineinspringen können! Das kalte Meer hätte sich wie Balsam auf meiner heißen Haut angefühlt und CeeCees Kleid sich wie ein Ballon um mich herum aufgebläht. Ich wäre untergetaucht, hätte mit den Füßen paddeln und schwimmen, schwimmen, schwimmen können.
Aber wohin? Nicht zum Alten Seemann, das wusste ich. Aber zu Leo. Wo immer er auch war. Warum hatte ich so angestrengt gegen das Unausweichliche angekämpft? Ich blinzelte in die Nacht hinein und sah die winzigen roten und goldenen Lichter von Fisherman’s Village.
Ich dachte an den Moment vor Leos Haus zurück. Und mit kristallklarer Erkenntnis begriff ich plötzlich, warum ich ihn abgewiesen hatte: Ich hatte Angst gehabt. Angst vor dem Unbekannten, Angst vor dem, was Leo wirklich war – eine mystische Kreatur vielleicht. Oder einfach nur der Junge, in den ich mich verliebt hatte. Beides war gleichermaßen erschreckend, weil weder das eine noch das andere erklärbar waren.
Ohne Vorwarnung traten mir Tränen in die Augen, und ich war dankbar für das dem Feuerwerk folgende Summen der Unterhaltungen um mich herum. Mein Herz dehnte sich aus – mir war es egal, was Leo war, ob nun irgendeine Art von Meermann oder Ungeheuer oder bloß ein Junge vom falschen Teil der Insel. Ich wollte ihn nur wiedersehen.
Denn der Gedanke, es vielleicht nicht zu können, erfüllte mich mit solch einem Schmerz, dass ich das Gefühl hatte, ich müsste ertrinken.