KAPITEL 3

Geschichten

Gleich nach dem Abendessen entschied ich mich, schwimmen zu gehen. Der verlockenden Nähe des Meeres war nicht zu widerstehen, also eilte ich nach oben, um meinen Badeanzug überzustreifen.

Der Raum, in dem ich schlafen sollte, war in den alten Tagen das Schlafzimmer von Mom und Tante Carol gewesen. Mit seiner rosafarbenen Muschel-Tapete und den über die beiden Doppelbetten geworfenen Quilts schien es wie aus einer anderen Zeit. Ich war kein Fan von Rosa und beneidete Mom, die sich im blaugrünen Elternschlafzimmer am Ende des Flurs eingenistet hatte.

Ich knallte meinen Seesack auf eines der Betten und fing an, meine sorgfältig zusammengelegten Kleiderstapel in den Schubladen der hölzernen Kommode unterzubringen. Nichts beruhigte mich mehr, als Ordnung zu schaffen. Es war nicht verwunderlich, dass zu Hause in meinem Zimmer Dimitri Mendelejews Periodentabelle der Elemente über meinem Schreibtisch hing – eine Art Inspirationsquelle. Wahrscheinlich war ich die einzige lebende Sechzehnjährige mit einer solchen Zimmerdeko.

Sobald ich ausgepackt hatte, zog ich meine Klamotten aus und schlüpfte in meinen schwarzen, einteiligen Badeanzug. Ich zögerte eine Sekunde, bevor ich meine Chucks wegkickte. Zu dieser Zeit würden sich wahrscheinlich keine anderen Schwimmer am Strand aufhalten, sodass ich barfuß bleiben konnte.

Ich bin an beiden Füßen mit Schwimmhäuten zwischen den Zehen geboren worden – ›wie eine niedliche, kleine Ente‹, würde Dad sagen. Da meine Eltern beide Ärzte für Plastische Chirurgie sind, ließen sie mich von einem ihrer Kollegen frühzeitig operieren, und die Schwimmhäute wurden entfernt.

Doch noch immer sehen meine Füße unbestreitbar merkwürdig aus; einer Stickerei ähnelnd ziehen sich Narben über die Haut zwischen meinen Zehen, und die Zehen selbst sind leicht gebogen. ›Syndaktilie‹ ist die exakte Bezeichnung für diesen Zustand; ich habe jede Menge recherchiert und über die Entwicklung der Babys im Mutterleib gelesen. In meiner Familie bin ich die Einzige mit dieser Fremdartigkeit, von der die Mediziner nicht genau wissen, ob sie genetisch bedingt ist. Ich wusste jedoch sehr genau, dass ich Ballerinas Flip-Flops vorzog.

Während ich mir ein Handtuch um die Hüften wickelte, blickte ich aus meinem Fenster, das auf den Glaucus Way hinausging. Dunkelrote Streifen erschienen am Himmel, und leuchtende Glühwürmchen tanzten zwischen den Hausdächern umher. Unter den schattigen Ästen schob eine junge Mutter rasch einen Kinderwagen, und das Louisianamoos ähnelte den spinnwebartigen Bärten alter Männer. Im Dunkeln zu schwimmen, war mir unheimlich, ich musste mich also beeilen, bevor die Dunkelheit hereinbrach.

Ich rief Mom zu, dass ich bald zurückkäme, und raste die knarrenden Treppenstufen hinunter, durchs Wohnzimmer und auf die hintere Veranda. Die abendliche Kühle ließ mich zittern und ich rieb mir über die Arme. Die Verandastufen fühlten sich kalt unter meinen Füßen an, doch der sandige Abhang, der zum Wasser führte, war warm, von den Sonnenstrahlen des Tages aufgeheizt.

Genau wie der Ozean. Ich watete bis zu den Schienbeinen hinein, wobei meine Zehen kleine Sandwölkchen aufwirbelten. Seegras strich an meinen Knöcheln entlang, und ich spürte, wie mich ein Gefühl von Frieden überkam. Ich blickte über die offene Weite des dunklen Türkis. In der Ferne lag ein Segelboot, und als ich die Augen zusammenkniff, konnte ich ein Fischerboot auf die Insel zutuckern sehen. Abgesehen davon hatte ich das Meer ganz für mich allein.

Was hatte Mom vorhin gesagt? ›Wasser, Wasser überall, und nirgends ein Tropfen zu trinken.‹ Ich war ehrlich gesagt noch nie in die Situation geraten, vor lauter Durst fast zu sterben, konnte dieses Verlangen aber durchaus nachvollziehen. So hatte ich mich die ganzen Jahre gefühlt, bevor ich einen Freund hatte; meine High School schien wie ein Ozean von Jungs zu sein, alle waren zum Küssen da, alle waren zum Ausgehen da, aber keiner wollte mich.

Ich schüttelte den Kopf und schob meine Erinnerungen beiseite. Dann ließ ich mich weiter in den Atlantik hineintreiben, hielt die Luft an und tauchte gänzlich unter.

Ich liebte diese blaugrünen Schatten der Unterwasserwelt, die Art, in der sich das Seegras wie in Zeitlupe hin- und herwiegte. Als ich wieder hochkam, um nach Luft zu schnappen, streckte ich meinen Körper der Länge nach aus und begann langsame Schwimmbewegungen mit den Beinen. Nur Schwimmen gestattete mir soviel Anmut und Freiheit, nicht einmal das Bestehen einer naturwissenschaftlichen Prüfung bereitete mir soviel Vergnügen. Außerdem war es irgendwie aufregend, im Ozean zu treiben. Die warmen Liebkosungen des Wassers waren in gewisser Weise ursprünglich und natürlich.

Die meiste Zeit meines Lebens hatte ich mich mit Swimmingpools begnügen müssen. Mom mochte keine Ferien am Strand. Wenn sie sich freinehmen konnte, besuchten wir Städte wie Chicago oder die Berge im Norden des Staates New York. Mein Vater war immer bereit, mich in L. A. mit an den Strand zu nehmen, doch wir sahen uns nicht häufig. Jetzt fragte ich mich, ob Mom den Ozean gemieden hatte, weil er sie an ihre Kindheit und an Isadora erinnerte.

Mein Herz setzte aus, als ich etwas Schleimiges an meinen Beinen entlangfahren spürte. Ich fühlte mich im Wasser nicht länger völlig allein, und zu allem Überfluss hallten nun Matrosenmützes Worte über die gefährlichen Kreaturen in meinen Ohren wider. Lächerlich. Trotzdem paddelte ich zum Strand zurück und redete mir ein, dass es ohnehin Zeit sei, ins Haus zurückzukehren. Der Himmel wandelte sich in der Zwischenzeit von Orange über Lila bis hin zu Dunkelblau.

Ich trocknete mich ab. Das Wasser tropfte aus meinem Pferdeschwanz und lief mir an den Armen herunter. Wirklich komisch, wie sehr Schwimmen dich verändern kann – ich wusste, dass ich jetzt völlig anders als die trockene Miranda aussah, die ich vor Minuten noch gewesen war. Mir klapperten die Zähne, als ich die Verandastufen hinaufstürmte und ins Haus schlüpfte. Das Wohnzimmer war dämmrig, die Vorhalle von Schwärze umgeben. Abgesehen vom konstanten Flüstern des Ozeans und dem Surren der Deckenventilatoren war es still im Alten Seemann. Mom hatte gesagt, dass sie vielleicht früh zu Bett ginge, weshalb ich mich nun auf Zehenspitzen bewegte. Im Gegensatz zu mir hatte Mom einen leichten Schlaf. Sie hatte einmal gesagt, dass das so sei, seit sie Mutter geworden war.

Ich war noch nicht müde. Das Schwimmen hatte mich erfrischt, mich leicht rastlos und durstig gemacht. Ich schlich, wie ich dachte, auf die Küche zu, um nachzusehen, ob noch etwas von dem süßen Tee übrig war. Ich erinnerte mich, dass die Küche hinter der Treppe lag, schlug jedoch offenbar in der Dunkelheit die falsche Richtung ein. Irgendwie fand ich mich in einem engen Flur wieder – und stand einem verhärmten alten Mann gegenüber.

Um meinen Aufschrei zu ersticken, schlug ich mir die Hand vor den Mund, realisierte jedoch im gleichen Augenblick, dass ich ein Gemälde anstarrte. Es war das Porträt eines Mannes mit weißer Mähne und wilden Augen, der eine zerlumpte Matrosenuniform trug, Tätowierungen auf beiden Armen hatte und eine Flasche in der Hand hielt. Er war abscheulich. Um seinen Hals war ein dickes Tau geschlungen, an dessen verknotetem Ende ein riesiger weißer Vogel baumelte. Ein Albatross!, wie mir schaudernd klar wurde.

Das war also der Seefahrer aus dem Gedicht, der herrschende Geist des Hauses. Mom hatte vielleicht recht: Wenn ich mit der Literatur vertraut gewesen wäre, hätte ich das Porträt womöglich gleich erkennen und mir einen kleineren Herzinfarkt ersparen können.

Als hätte das Haus meine Gedanken gelesen, versetzte ein Luftzug die Tür neben dem Gemälde in leichte Bewegung. Ich fasste nach dem Türknauf und spähte in ein kleines Arbeitszimmer. Tapfer schaltete ich das Licht an und trat ein. Im Innern befanden sich ein antiker Holzschreibtisch sowie ein Stuhl mit hoher Rückenlehne und ein purpurfarbenes kleines Sofa. An den Wänden standen Bücherregale aus Mahagoniholz. Den einzigen Wandstreifen, der nicht von Büchern bedeckt war, zierte ein weiteres Aquarell, doch dieses Porträt erschreckte mich nicht.

Es war ein Bild Isadoras in einem grünen Seidenkleid. In majestätischer Pose stand sie auf der Treppe des Alten Seemanns. Der Maler hatte neckische kleine Schnörkel hinzugefügt: Pfirsichblüten ragten über ihrem Kopf herab, und sie hielt einen pelzbesetzten Überwurf in den Händen, für den niemand südlich der Mason-Dixon-Linie – der traditionellen Grenze zwischen den Nord- und Südstaaten der USA – je Verwendung gehabt hätte. Die ganze Aufmachung war urkomisch und schrie förmlich nach Scarlett O’Hara. Nicht zufällig lag auf dem Regal unterhalb des Porträts eine Ausgabe von Vom Winde verweht.

Neugierig darauf, was meine Großmutter ansonsten noch als lesenswert erachtet hatte, überflog ich den Rest der Regale. Die Bücher waren weder alphabetisch noch thematisch geordnet, und die mangelnde Übersicht verursachte mir Kopfschmerzen. Marion Brown’s Southern Cooking Book stand neben Romeo und Julia, das sich wiederum an die Gesammelten Gedichte von T. S. Eliot und eine Ausgabe von Andersens Märchen lehnte. Nichts reizte mich sonderlich. Doch als ich die Worte Selkie Island auf dem unteren Teil eines abgegriffenen dunkelblauen Buchrückens sah, zog ich den Band heraus.

Der Buchdeckel löste sich in meinen Händen beinahe ab, und ich musste zweimal hingucken, als ich eine Abbildung des Warnschilds, das über der Hafeneinfahrt von Selkie hing, darauf entdeckte. Der Buchtitel EINE EINFÜHRUNG IN DIE LEGENDEN UND ÜBERLIEFERUNGEN VON SELKIE ISLAND zierte den oberen Teil des Buchdeckels, und der Name des Autors, Llewellyn Thorpe, war in Schreibschrift auf den unteren Teil gedruckt. Ich drehte das Buch um, wischte die Staubschicht von der Rückseite und las den in goldenen Lettern verfassten Absatz:

 

Viele fühlen sich von Selkie Island angezogen. Wenige wissen, warum. Selkies Geist des Geheimnisvollen umgibt die Insel wie das berühmte Leichentuch des Nebels. Doch die zahlreichen Legenden der Insel – von Bestien, von Ungeheuern, von schiffbrüchigen Seeleuten – sind unzweifelhaft anziehend. Der Band, den Du in den Händen hältst, geneigter Leser, ist ein Leitfaden zu diesen Legenden. Genieße ihn mit Vorsicht.

 

Ich grinste. Noch mehr Lügengeschichten? Vielleicht war Matrosenmütze ja Llewellyn Thorpe.

Der dünne Buchrücken gab ein Knacken von sich, als ich das Buch öffnete, und ein moderiger Geruch schlug mir entgegen. Die Vorderseite zeigte eine grobkörnige Landkarte, die Selkies Lage im Atlantik verdeutlichte, doch die Insel war von Zeichnungen geflügelter Fische, Kraken und Meerjungfrauen umgeben.

Ich blätterte durch die glatten, vergilbten Seiten bis zum Ende des Buchs. Dort stieß ich auf die Federzeichnung eines spindeldürren Mannes, der eine Brille und einen Anzug trug. Unter diesem Bild stand:

 

Llewellyn Thorpe wurde 1873 in Savannah, Georgia, geboren und starb 1913, kurz vor Veröffentlichung dieser Ausgabe. Er war Professor der Anthropologie und widmete sein Leben den volkskundlichen Erforschungen von Selkie Island.

 

Okay. Also nicht Matrosenmütze.

Mit dem geöffneten Buch trat ich rückwärts auf den Schreibtisch zu. Ich breitete mein Handtuch über den Stuhl mit der hohen Rückenlehne, setzte mich und blätterte nun langsamer durch die Seiten. Wo kam diese plötzliche Begeisterung her? Was reizte mich?

Ich überflog Kapitel mit Überschriften wie ›Abgründe und Kabinette der Kuriositäten‹, ›Die scharfzähnigen Seeschlangen von Siren Beach‹, ›Geschichten über das Gullah-Volk‹ und ›Kryptozoologie‹. Schließlich kam ich zu einem Kapitel, das mit ›Ein kurzer geschichtlicher Überblick von Selkie Island‹ überschrieben war. Ich hielt inne und fragte mich, ob mir dies vielleicht ein paar solide Fakten vermitteln könnte. Ich schob einen Stapel Papiere und ein schwarzes, rechteckiges Kästchen auf dem Tisch beiseite, um Platz für das Buch zu schaffen. Dann fing ich an zu lesen:

 

Es war im Hochsommer des Jahres 1650, als Kapitän William McCloud, ein schottischer Pirat auf dem Weg in die Karibik, den Ort entdeckte, der heute unter dem Namen Selkie Island bekannt ist.

 

Im Buch wurde nun beschrieben, wie Kapitän McClouds Mannschaft gemeutert und ihn in einem Beiboot vor der Küste Georgias ausgesetzt hatte. Bevor der Pirat vor Hunger verrückt werden konnte, wies ihm eine wunderschöne Meerjungfrau mit grünen Augen und einem rotgoldenen Fischschwanz den Weg an Land. Dort verwandelte sie sich dann in eine menschliche Frau namens Caya. Kapitän McCloud verliebte sich gleich, heiratete sie und gab der Insel den Namen Selkie. Auf den Orkney-Inseln und in Nordschottland erzählte man sich Geschichten von Robben, die an Land kommen und sich in Menschen verwandeln, indem sie ihr Fell ablegen. Diese nannte man Selkies. Kapitän McCloud und Caya hatten viele Kinder, die, wie ihre Mutter, zu Meerwesen wurden, sobald sie in den Ozean tauchten, doch auf dem Land als Menschen lebten. Und gemäß Llewellyn Thorpe bevölkerten die Nachkommen dieser Meerwesen noch immer die Insel.

Amüsiert kicherte ich in mich hinein, las aber weiter:

 

Meerwesen wie Caya sind seit jeher ein universelles Element der Überlieferung. Die alten Assyrer berichteten von Atargatis: halb Frau, halb Fisch. Und mit den Metamorphosen schenkte Ovid uns Glaucus, den liebeskranken Meermann. Vielerorts werden Sichtungen von Meerjungfrauen als Fehlinterpretationen von Matrosen abgetan, die in Wahrheit Seekühe in den Wellen schwimmen sahen. Doch in seinen Aufzeichnungen schrieb Christoph Columbus von Sirenen, die er vor der Küste Hispaniolas entdeckt hatte, und Henry Hudson schwor, dass er eine Frau mit dem Schwanz eines Tümmlers neben seinem Schiff herschwimmen sah. Gleichwohl findet sich auf und um Selkie das größte Vorkommen von Meerwesen. Das hier angestammte Meervolk ist genauso ein Bestandteil der Insel wie das Louisianamoos und die Sümpfe.

Die Meerwesen von Selkie können für gewöhnlich an ein paar zentralen Merkmalen erkannt werden: eine üppige, sinnliche Schönheit; eine Vorliebe für die Farben Rot und Gold; Freundlichkeit gegenüber Besuchern und Forschern; Häuser nahe dem Strand. Manchmal sind sie des Nachts erkennbar, wenn sie sich …

 

Ein plötzlicher schriller Schrei erklang von draußen vor dem Haus. Ich fuhr auf meinem Stuhl zusammen, fegte dabei das Buch vom Tisch und sprang auf die Füße. Mein Puls pochte in meinen Ohren, lauter als der Ozean. Jeder Zentimeter meiner Haut war hellwach, meine Nervenenden glühten in höchster Alarmbereitschaft.

Der Schrei ertönte noch einmal. Ich presste eine Hand auf mein noch feuchtes Schlüsselbein und holte tief Luft. Beruhige dich. Mir fiel wieder die Website über die Tier- und Pflanzenwelt der Inseln ein, die ich vor meiner Abreise aus New York überflogen hatte. Wahrscheinlich hörte ich den Ruf eines Amerikanischen Austernfischers, eines hier in der Gegend heimischen Vogels. Das war alles.

Was ist los mit dir, Miranda?

Ich blickte auf Llewellyn Thorpes Buch hinunter, aus dem sich einige Seiten gelöst hatten und über den Boden verstreut lagen. Das alberne Buch hatte mir einen Schrecken eingejagt. Ich sah zu dem Porträt, von dem Isadora auf mich herabstarrte – ihre törichte Enkelin, in einem Badeanzug zitternd. Wer war wohl außer mir hier mitten in der Nacht einmal ins Arbeitszimmer gekommen, um EINE EINFÜHRUNG IN DIE LEGENDEN UND ÜBERLIEFERUNGEN VON SELKIE ISLAND zu lesen? Mom? Ihre Geschwister? Isadora höchstpersönlich? Hatte sich einer von ihnen von Llewellyn Thorpes Worten hinreißen lassen?

Ein unvernünftiger Teil von mir wollte weiterlesen, um noch mehr herauszufinden. Doch ich wusste, dass es eine dumme Idee war – es gab nichts Sinnvolles aus diesem Buch zu erfahren. Außerdem brauchte ich ein bisschen Schlaf; Mom hatte gesagt, dass wir morgen jede Menge Dinge aussortieren und das Haus putzen würden. Und dann war da noch diese Erben-Party.

Ich stopfte die Seiten in das Buch zurück, brachte es wieder an seinen Platz auf dem Regal und spürte meine übliche Ratio zurückkehren. Als ich das Licht ausschaltete und das Arbeitszimmer verließ, bemerkte ich, wie sich mein Puls beruhigte. Selbst der Seemann schien freundlich zu sein, als ich jetzt an ihm vorbeiging.

Ich steuerte auf die Küche zu, holte mir ein Glas Wasser und trug es in der Hoffnung, dass Mom von den quietschenden Treppenstufen nicht aufwachte, nach oben.

In meinem Zimmer angekommen zog ich die Vorhänge zu und schlüpfte schnell in ein blaues ärmelloses Unterhemd und meine Lieblingspyjamahose: Sie war weiß und mit winzigen Blauwalen gemustert. Ich hatte sie im Museum of Natural History erstanden, als ich dort im letzten März mein Bewerbungsgespräch hatte. Meine Freundin Linda, die damals mit mir gekommen war, hatte über den Pyjama gelacht und ihn als ›absolut schauberhaft‹ bezeichnet.

Ich blickte auf mein Handy, das ich vorhin auf die Kommode gelegt hatte. Beinahe hätte ich die Hand danach ausgestreckt; das Muskelgedächtnis meiner Finger wollte Linda eine SMS schreiben, ihr vom Alten Seemann und Llewellyn Thorpe berichten. Doch ich konnte es nicht. Ich sollte es nicht. Die Dinge waren nicht mehr dieselben. Überhaupt nicht.

Seufzend legte ich mich ins Bett, mein Kopf war voll von den Ereignissen des Abends. Ich dachte an die fortschreitende Nacht dort draußen, meine Schwimmtour im Ozean, an verlassene Matrosen und hilfsbereite Meerjungfrauen. Dann vergrub ich meinen Kopf im Kissen in der Hoffnung, von vernünftigen Dinge zu träumen. Wie zum Beispiel davon, in welchem Karton ich morgen EINE EINFÜHRUNG IN DIE LEGENDEN UND ÜBERLIEFERUNGEN VON SELKIE ISLAND verstauen könnte.