KAPITEL 8

Küsse

Du bist eine tolle Gastgeberin«, sagte T. J., als wir auf das Gemälde des Seemanns zugingen. Meine feuchte Hand lag immer noch auf seinem Arm und ich fragte mich, wann es wohl passend wäre, ihn loszulassen. Durch seinen Hemdärmel konnte ich eine Andeutung von T. J.s Muskeln spüren, was mich an Leo denken ließ, wodurch wiederum meine Kniekehlen plötzlich warm wurden.

»Ähm, vielen Dank«, erwiderte ich, während sich meine Lippen angesichts T. J.s ausgesprochen höflicher Ausdrucksweise kräuselten. »So viel hab ich gar nicht getan«, fügte ich hinzu, als wir an der Treppe vorbeikamen.

»Eine gute Gastgeberin kümmert sich um das Wohlbefinden ihrer Gäste«, sagte T. J. Es klang, als zitierte er aus einem Ratgeber für gutes Benehmen. »Ich fühle mich hier wirklich … sehr zu Hause«, fuhr er fort und machte eine ausladende Bewegung durch die mit Staubpartikeln erfüllte Luft.

T. J. wirkte so, als ob er zum Inventar des Alten Seemanns gehörte, fand ich, als ich seine steife Pose, die noble Neigung seines Profils betrachtete. Es bedurfte keiner großen Anstrengung, sich ihn als den jungen Herrn eines großen Südstaaten-Besitzes vorzustellen.

Zu dumm, dass die Dame an seinem Arm Caprihosen und ein T-Shirt trug.

»Hier ist der Seemann«, sagte ich, als wir in den schmalen Flur gekommen waren, in dem ich mich neulich nachts so erschreckt hatte. Ich nutzte die Gelegenheit, meine Hand ganz beiläufig von T. J.s Arm zu nehmen und auf das Gemälde zu zeigen. Im grauen Nachmittagslicht, das durch die Vorderfenster hereinkam, sah der alte Matrose nicht weniger gespenstisch aus.

Mit abschätzendem Gesichtsausdruck ließ T. J. seinen Blick über das Gemälde wandern. »Exzellentes Handwerk«, erklärte er. »Schöne Sfumato-Technik.«

Ich hatte keine Ahnung, wovon er sprach. »Bei ihm läuft’s mir kalt den Rücken herunter«, gab ich zu.

T. J. fing an zu lachen. »Ach komm schon. Geh mal an einem x-beliebigen Tag nach Fisherman’s Village und dir begegnen Hunderte von komischen Käuzen, die genau so aussehen wie er.«

»Wirklich?«, fragte ich. Mein Gesicht wurde rot. Fisherman’s Village. Wo Leo wahrscheinlich wohnte. Ich trat von einem Bein aufs andere, plötzlich unangenehm berührt von T. J.s hochmütigem Ton.

»Nicht dass ein Mädchen wie du nach Fisherman’s Village gehen sollte«, fügte T. J. mit einem kurzen Zaudern hinzu und lächelte mich dann an. »Hey, würde es dich sehr stören, wenn ich mir mal das Arbeitszimmer ansähe?«

»Nein«, erwiderte ich zerstreut und stieß die Tür auf. In der Finsternis des sich ankündigenden Regens ragten die Bücherregale dunkel auf. Das Fenster war offen, und eine kühle Brise blies durch die Seiten eines alten Town-&-Country-Magazins auf dem Schreibtisch.

Ich war schon früher am Tag im Arbeitszimmer gewesen; in ihrem Putzrausch hatte Mom mich gebeten, Bücher in Kisten zu verpacken. Ich hatte nur zwei Regale geschafft und mit Absicht das ausgelassen, das EINE EINFÜHRUNG IN DIE LEGENDEN UND ÜBERLIEFERUNGEN VON SELKIE ISLAND enthielt. Obwohl ich das Buch loswerden wollte, hatte ich befürchtet, wieder mit dem Lesen anzufangen, sobald ich es, sei es auch nur, um es wegzupacken, in die Hand nahm.

»Wow«, murmelte T. J. und lief in kleinen Kreisen umher. Am Schreibtisch blieb er stehen und strich mit den Fingern über das schwarze Kästchen mit dem goldenen Verschluss, das auf der Tischplatte lag. Dann betrachtete er die Bücherregale. »Eine sehr beeindruckende Sammlung.« Er lächelte mich an, so als hätte ich etwas mit der Stattlichkeit des Raums zu tun.

Plötzlich blieb T. J. stehen und blickte geradewegs auf das Porträt von Isadora. »Wow«, sagte er wieder, wobei sich sein kantiger Kiefer lockerte. »Mein Vater hatte recht. Du ähnelst ihr.«

Ich wurde rot. Als Mr. Illingworth und T. J. vorhin mit Brandy und Schokolade beladen an unserer Tür erschienen waren, hatte Mr. Illingworth mich angesehen und: »Isadora!«, gesagt. Ich war gleichermaßen geschmeichelt und schockiert und hatte mich gefragt, ob ich mich jemals an diesen Vergleich mit meiner Großmutter gewöhnen oder überhaupt daran glauben könnte.

Jetzt schüttelte ich den Kopf. »Ich weiß nicht.« Ich betrachtete das Porträt. Isadora schien süffisant auf mich herabzugrinsen, als ob sie etwas wüsste, von dem ich keinerlei Kenntnis hatte. »Sie war so … elegant. Strahlend. Ich glaube nicht, dass dieser Zug vererbt werden kann.«

T. J. drehte sich von dem Gemälde weg, sodass er mich ansehen konnte. Er legte den Kopf schief, und ich kam mir vor wie ein Kunstgegenstand, den er abschätzte.

»Du könntest elegant sein«, verkündete er dann sein Urteil, streckte die Hand aus und berührte vorsichtig die Spitze meines Pferdeschwanzes. Ich verspannte mich. »Du könntest versuchen, dein Haar so zu tragen.« Er deutete auf das Bild. »Oder auch so ein Kleid!«, sagte er lachend. »Ich wette, du würdest toll aussehen.«

Ich verschränkte die Arme vor der Brust und wurde leicht sauer. Ich konnte nämlich nicht sagen, ob ich ein Kompliment erhalten hatte oder beleidigt worden war.

»Sieh mal, T. J.«, sagte ich, ging rückwärts und ließ mich auf dem Stuhl mit der hohen Lehne nieder, auf dem ich neulich nachts Llewellyn Thorpes Buch gelesen hatte. »Das bin ich nicht. Ich bin nicht wie CeeCee oder Virginia.« Ich hielt inne. Meine Kehle schnürte sich zu, als mir klar wurde, dass T. J. bestimmt schon viele von Virginias luxuriösen Kleidern bewundert – und aufgeknöpft – hatte.

T. J. zog seine dunklen Augenbrauen zusammen und legte die Stirn in Falten. Er griff nach dem kleinen Sofa, rückte es an meinen Stuhl heran und setzte sich. »Aber Miranda, nein. Ich hatte nicht die Absicht, dich zu kränken.« Er lehnte sich zu mir. »Ich finde dich hübsch. Ich hab mich nur gefragt … wer du werden könntest, wenn du es zuließest«, beendete er seinen Satz und wirkte ganz zufrieden mit seiner letzten Bemerkung.

Ich klappte meinen Mund auf und wieder zu. T. J. Illingworth fand mich hübsch? Ich konnte das aufkommende kleine Gefühl von Freude nicht unterdrücken. Mein Gott. Brauchte es wirklich nicht mehr, um mich weich zu kochen? Ich wurde immer mehr zu einem richtigen Mädchen.

»Danke«, sagte ich und setzte ein schiefes Grinsen auf, als unsere Blicke sich trafen. »Weißt du, ich finde, du bist auch, äh« – sag jetzt nicht hübsch – »ziemlich nett anzusehen.«

Zum tausendsten Mal in meinem Leben fragte ich mich, wieso ich intelligent sein konnte, wenn es um Mathematik und Wissenschaft ging, aber so vollkommen dämlich, was Jungen betraf.

Glücklicherweise hellte sich T. J.s Gesicht auf, als hätte ich die perfekte Bemerkung gemacht. »Danke«, sagte er.

»Gern geschehen«, entgegnete ich.

Ich trommelte mit den Fingern auf meinen Schoß. T. J. und ich schienen echte Experten der Höflichkeit zu sein.

Das Geräusch von Gelächter – dem meiner Mutter – unterbrach meinen Gedankengang. Ich blickte über meine Schulter zur offen stehenden Tür und sah Mom und Mr. Illingworth auf dem Weg ins Wohnzimmer vorbeikommen.

Ich schluckte hart. »Findest du nicht auch, dass wir hier irgendwie am Katzentisch sitzen?«, fragte ich und sah wieder zu T. J.

Er lächelte. »Ja, ich schätze, das war geschickt eingefädelt.« Er zog seine Augenbrauen in die Höhe. »Auf dem Weg hierher hörte mein Vater nicht auf darüber zu quatschen, wie gut du und ich zusammenpassen würden. Und da war er dir noch nicht mal begegnet!«

Mein Herz setzte aus. Nervös zupfte ich an meinen Fingernägeln herum, dann fiel mir meine Maniküre wieder ein und ich hörte auf. T. J. beobachtete mich. Ich spielte mit meinem Pferdeschwanz und kam mir lächerlich gehemmt vor.

»CeeCee ist anscheinend der gleichen Meinung«, sagte ich schließlich in Richtung meiner Schuhe. Wenn CeeCee von diesem Augenblick gewusst hätte, dann hätte sie einen Salto rückwärts hingelegt.

»Ich hab das schon auf der Erben-Party mitbekommen«, sagte T. J. mit einem kleinen Lachen. Er lehnte sich noch immer zu mir herüber, und ich konnte sein Eau de Cologne riechen – raffiniert und würzig, genau so, wie ich es mir vorgestellt hatte. »Die Leute sind manchmal nicht sonderlich dezent, oder?«, fügte er hinzu.

»Wie meine Mom vorhin in der Küche?« Ich sah T. J. an und verdrehte die Augen. »Normalerweise ist sie nicht so nervös. Sie hat sich – wie ein anderer Mensch verhalten«, räumte ich ein. Irgendwie war es eine Erleichterung, sich jemandem anvertrauen zu können und über meine neuen und gemischten Gefühle meiner Mutter gegenüber zu reden.

»Ach, es ist total süß«, meinte T. J. Er nahm die Hand von seinem Knie und legte sie auf die Kante meines Stuhls. »Mein Vater hat deine Mutter in den ganzen Jahren immer mal wieder erwähnt, und ich glaube, dass er immer noch nach ihr schmachtet. Ich weiß nicht, was genau zwischen ihnen passiert ist, aber ich hatte immer das Gefühl, dass sie ihm das Herz gebrochen hat.«

Mein eigenes Herz schlug jetzt schneller. Ich erinnerte mich, dass Mom am Tag zuvor über Fehler in ihrer Jugend gesprochen hatte. Sie musste Mr. Illingworth gemeint haben.

T. J. und ich blickten uns an, und ich fragte mich, ob wir dasselbe dachten: dass unsere Eltern in uns eine Möglichkeit sahen, diese Fehler ihrer Vergangenheit irgendwie zu korrigieren. Als ob T. J. und ich, vereint, eine zweite Chance böten, die Dinge gerade zu rücken.

»Aber weißt du, was meinen Vater wieder richtig glücklich machen würde?«, fragte T. J.

»Was?« Ich hoffte, dass er nicht irgendetwas Unangebrachtes über Mom sagen würde.

»Wenn ich ein nettes Mädchen fände«, antwortete T. J. Sein Gesicht kam so nah, dass ich sicher war, dass er meinen Herzschlag hören konnte. Mit der Miene eines Forschers, der ein Experiment durchführte – so wie ich mich im Chemielabor einem Röhrchen mit Natriumbikarbonat widmen würde –, nahm T. J. mein Gesicht in seine Hand und drückte seine Lippen auf meine.

Ich vergaß, meine Augen zu schließen, und starrte daher ungläubig auf T. J.s glatte, perfekte Ohrläppchen, während er mich küsste. Es war der Kuss eines Gentlemans, mit geschlossenem Mund, sanft und hervorragend inszeniert. Ich registrierte gerade, dass T. J. offenbar zuvor seine Zähne geputzt oder ein Pfefferminz gegessen hatte (hatte er dies hier also geplant?), als im Raum ein dumpfer Schlag ertönte.

T. J. und ich fuhren im selben Moment erschreckt hoch. Ich blickte zu den Bücherregalen hinüber. Der Wind hatte seltsamerweise ausgerechnet EINE EINFÜHRUNG IN DIE LEGENDEN UND ÜBERLIEFERUNGEN VON SELKIE ISLAND mit einem schwungvollen Klatschen auf den Boden gefegt.

»Ich … ich sollte das aufheben«, stammelte ich und zog mich vom Sessel hoch.

»Wenn du gestattest«, sagte T. J. und erhob sich gleichzeitig. Ich war mir sicher, dass ich riesige Augen bekommen hatte und rot geworden war, doch er schien völlig ruhig.

»Nein, ist schon in Ordnung«, insistierte ich und eilte quer durchs Zimmer. In meinem Kopf drehte sich alles, als ich mich vornüberbeugte, um das Buch aufzuheben. Ich konnte nicht widerstehen und überflog die geöffnete Seite, auf der das Buch gelandet war:

 

Die Meerjungfrauen und Meermänner der Insel passen sich ihrer Nachbarschaft nahtlos an. Gleichwohl schmücken oftmals bestimmte maritime Kennzeichen ihre Behausungen.

 

Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte recht gehabt: Ich konnte dieses alberne Buch nicht anfassen, ohne mit dem Lesen zu beginnen. Ich richtete mich auf und stopfte den dicken Band ins Regal zurück.

»Tja.« Ich hörte, wie T. J. ausatmete, und drehte mich um. Er stand neben dem kleinen Sofa und richtete seinen Hemdkragen. »Ganz schön intensiv, was?«, fragte er grinsend.

Unsicher, ob sich seine Bemerkung auf unseren Kuss oder das herabgefallene Buch bezog, sah ich ihn an. War unser Kuss intensiv gewesen? Ich konnte es nicht sagen, fühlte mich noch viel zu befangen und verwirrt.

»Wir schauen jetzt besser mal, ob noch Tarte für uns übrig ist«, erwiderte ich. Für einen kurzen Augenblick berührte ich meine Lippen und überlegte, ob Mom wohl merken würde, was passiert war, und ob sie darüber glücklich oder verärgert wäre. Bevor ich T. J. aus dem Arbeitszimmer hinausfolgte, betrachtete ich noch einmal das Porträt von Isadora. Ich wusste, dass es meine Einbildung war, doch während sie da in ihrer majestätischen Pose auf mich hinabsah, wirkte der Blick aus den dunklen Augen meiner Großmutter missbilligend. Ich seufzte, fühlte mich gescholten. Isadora Beau Hawkins hätte sicherlich nicht damit gerechnet, dass ihre Enkelin innerhalb weniger Tage zwei verschiedene Jungen küsste.

Und das Komische war, dass ich es bis zu diesem Augenblick selbst nicht erwartet hätte.

***

In der Zeit, in der ich ein Glas süßen Tees hinuntergeschluckt und eine weitere Golf-Anekdote ertragen hatte, waren ein paar ordentliche Sturmwolken aufgezogen. Und während Mom die vom Wind mitgerissenen Servietten vom Verandaboden aufhob, verkündete Mr. Illingworth, dass T. J. und er unsere Gastfreundschaft nicht überstrapazieren wollten. Mom versuchte, sie zum Bleiben zu bewegen, doch ich war im Geheimen froh. Seit unseres ›Moments‹ im Arbeitszimmer hatte ich T. J. nicht in die Augen sehen können und brauchte etwas Raum und Ruhe, um herauszufinden, wie ich mich jetzt eigentlich fühlte.

Als wir unsere Gäste zur Tür begleiteten, war ich erstaunt zu sehen, dass Mom ihre Hand Mr. Illingworth hinhielt, der sich eilig nach vorn beugte und sie küsste. Ihre Bewegungen waren so natürlich, dass mir klar wurde, dass sie diesen Tanz schon viele Male zuvor ausgeführt haben mussten. Meine Hände steckten in meinen Hosentaschen, und Mr. Illingworth hätte mich bitten müssen, eine Hand hervorzuholen, damit er sie küssen konnte – was für mich jenseits des Möglichen lag. Stattdessen entschied ich, seine Hand zu schütteln. T. J. küsste mich auf die Wange und murmelte: »Ich melde mich bald.« Und dann waren alle Küsse ausgetauscht und die Illingworths gegangen.

»Wie lief’s denn so?«, fragte mich Mom noch in dem Augenblick, in dem sie die Tür schloss. Ihre grauen Augen glänzten und ihr Haar umspielte ihre Schultern. Ihre Ungeduld und ihre Fröhlichkeit wirkten peinlich auf mich. »Hast du dich mit T. J. amüsiert? Denkst du, dass du ihn bald wiedersehen möchtest?«

»Mom, ich weiß es nicht«, blaffte ich sie gereizt an. Der ganze Nachmittag hatte mein Gehirn total durcheinandergewirbelt. Ich konnte meine Gedanken weder in Bezug auf T. J. noch auf etwas anderes analysieren – ein ungewohntes Gefühl für mich. »Lass mich in Ruhe«, fügte ich hinzu und verschränkte die Arme vor der Brust.

Mom stemmte die Hände in die Hüften. »Wie bitte? Seit wann ist es dir erlaubt, in einem solchen Ton mit mir zu reden?«

Ich biss die Zähne zusammen. Scharfe Erwiderungen schossen mir durch den Kopf. Seit wann sind wir denn so etepetete? Und seit wann lässt du dir von jemandem die Hand küssen? Doch ich wollte mich mit Mom nicht streiten. Wir stritten schließlich nie. Und konnten jetzt nicht damit anfangen.

»Tut mir leid«, murmelte ich.

Mom war für einen Augenblick still. Dann kam sie auf mich zugelaufen; ihre Absätze klapperten über den Kompass auf dem Fußboden. Ihr Gesichtsausdruck war plötzlich ernst.

»Miranda, es tut mir leid«, sagte sie leise. »Ich war gedankenlos. Da plappere ich über T. J. und sollte doch wissen, dass du an jemand anderen denkst.«

Ich hielt die Luft an. Sie wusste etwas über mich und Leo?

»Du bist wegen Greg so zögerlich, stimmt’s?«, fuhr Mom fort und blickte mich aufmerksam an. »Es ist noch zu früh?«

»Greg?«, erwiderte ich wie vom Blitz getroffen. Mein Herz pochte. Greg war wirklich der Letzte, den ich mit diesem ganzen Wirrwarr verknüpft sehen wollte.

»Ich hab das bisher noch nicht angesprochen«, sagte Mom nickend, »weil ich weiß, dass du Zeit für dich selbst brauchst. Aber, sieh mal – ich wusste doch die ganze Zeit, dass Greg mehr war als ein Junge, dem du Physik-Nachhilfe gegeben hast. Und dann, als er plötzlich nicht mehr zu uns kam, tja, da war’s nicht so schwer sich auszurechnen, dass sich eure Wege getrennt hatten.«

Ich legte eine Hand auf meine erhitzte Wange und spürte meine Kräfte zurückkehren. »Mom, ich möchte jetzt wirklich nicht darüber sprechen.« Oder überhaupt. Ich lief an meiner Mutter vorbei ins Wohnzimmer. »Sollten wir nicht die Veranda aufräumen?«, fügte ich hinzu.

»Miranda, ich verstehe ja, dass das schmerzlich ist«, sagte Mom und folgte mir durch die Terrassentür auf die Veranda. Über uns donnerte es unheilverkündend. »Du wirst wahrscheinlich noch etwas für Greg empfinden, und deshalb …«

»Ich empfinde nichts mehr für Greg«, unterbrach ich sie, wirbelte herum und blickte meine Mutter an. Es war die Wahrheit. Obwohl meine Gefühle im Hinblick auf die Geschehnisse etwas verzwickt, ja, sogar leicht beängstigend waren, vermisste ich Greg nicht. Ich sehnte mich nicht nach ihm.

Nicht so, durchfuhr es mich, nicht so, wie ich mich nach Leo sehne.

Ich wandte mich von Mom ab und blickte in die graue Landschaft hinaus. Wie immer beruhigte mich der Anblick des Meeres, und ich stellte mir das Leben vor, das sich unter den schiefergrauen Wellen tummeln mochte. Leo war seit Freitag jeden Tag ein paar Mal in meinen Gedanken aufgetaucht, doch jetzt konnte ich an nichts anderes mehr denken. Was tat er? Dachte er ebenfalls an mich?

Hätte es ihm etwas ausgemacht, dass ich einen anderen Jungen geküsst hatte?

Plötzlich wusste ich, was ich zu tun hatte. Ich wusste, wen ich jetzt unbedingt sehen musste, damit die Dinge wieder einen Sinn bekamen. Ich war mir nicht sicher, ob ich ihn finden würde, musste es aber versuchen.

»Ich mache einen Spaziergang«, sagte ich zu Mom, und ohne auf ihre Zustimmung zu warten, drehte ich mich um und lief die Verandatreppen hinunter.

»Bist du verrückt, Miranda? Es fängt gleich an zu gießen!«

»Ich bleib nicht lange«, rief ich über meine Schulter. Meine Stimme wurde vom Wind fast verschluckt. Ein gezackter Blitz teilte den Himmel.

»Wieso rennst du bloß wieder weg?« Mom hastete mir über die Stufen nach. Auf dem Rasen blieb sie stehen.

»Ich brauche etwas frische Luft«, erwiderte ich. »Und ich renne nicht weg.«

Und das stimmte. Ich ging in gemäßigtem Tempo bis ans Ende des Glaucus Way.

Dann, als ich wusste, dass Mom mich nicht mehr sehen konnte, rannte ich los.

Ich rannte den gesamten Weg bis in die Innenstadt, wo die Fenster der Geschäfte mit rot-weiß-blauen Spruchbändern geschmückt waren, auf denen GENIESSEN SIE

DEN UNABHÄNGIGKEITSTAG stand. Die Leute beeilten sich, unter Markisen und vorsorglich aufgespannten Regenschirmen Schutz zu suchen. Auf dem grünen Platz war von den Korbflechterinnen nichts mehr zu sehen. Moskitos schwirrten durch die Luft.

Als ich die Promenade erreichte, spürte ich die ersten kalten Regentropfen auf meinen nackten Armen. Trotzdem rannte ich weiter über die Strandpromenade, am Crabby Hook und dem geschlossenen Meereskundezentrum vorbei. Irgendetwas schien mich anzutreiben, etwas, das ich weder benennen noch verstehen konnte.

Als ich das Ende der Promenade erreicht hatte, trat ich auf den Sand hinaus und fragte mich, was ich hier eigentlich tat. Obwohl es erst fünf Uhr nachmittags war, sah der Himmel aus, als wäre es Mitternacht. Das Meer war wild, peitschte gegen den Strand, und die Sägepalmen schwankten im Wind. Der Strand war leer, jeder normale Mensch befand sich jetzt irgendwo drinnen. Vielleicht hatte Mom recht. Vielleicht hatte ich den Kopf verloren.

Dann blickte ich ein letztes Mal über die unwirtlichen Dünen und das aufgewühlte Meer, seufzte und machte kehrt. Ich schlang mir die Arme um die Brust, senkte schützend meinen Kopf und war kurz davor, die Stufen der Promenade hochzulaufen, um dann hoffentlich vor Ausbruch des Sturms wieder zurück im Alten Seemann zu sein.

Dann hörte ich jemanden meinen Namen rufen.

Im ersten Moment dachte ich, es wäre der Schrei einer Seemöwe oder das Rauschen der Brandung.

Doch dann hörte ich es wieder.

»Miranda!«

Ich drehte mich schnell herum, hoffnungsvoll – und sah Leo durch den Sand auf mich zukommen. Seine Haare waren nass, und er trug nur eine dunkelblaue Badehose, die tief auf seinen schlanken Hüften saß. Ein paar feuchte Tropfen glitzerten auf seiner nackten Brust, und erhellt von einem Blitz über unseren Köpfen leuchtete seine Haut perlmuttfarben. Ich konnte kaum glauben, dass er es war, bis ich in seine grünen glitzernden Augen sah, die direkt auf mich gerichtet waren.

»Wie … wo kommst du her?«, rief ich durch den heulenden Wind. Ich lief auf ihn zu und bekam Sand in meine flachen Schuhe. »Warst du schwimmen?«

»Ich hab’s dir doch gesagt«, erwiderte er mit einem Lächeln im Gesicht. »Du wirst mich immer finden.«

Ein paar Zentimeter voneinander entfernt blieben wir stehen.

»Ich wollte dich sehen«, sagte ich, obwohl keinerlei Erklärung nötig schien. »Ich war gestern Nachmittag am Strand, konnte dich aber nicht finden, und …«

»Nachts ist es meist besser«, erwiderte Leo. Ein feines Rinnsal lief über seine hohen Wangenknochen und seinen flachen Bauch. Sein Haar sah aus wie dunkler Honig.

»Ich … ich mache so was sonst nie«, sagte ich atemlos. Weitere kalte Tropfen landeten auf meinem Arm. »Und es fängt an zu regnen, und …«

»Ich wollte dich auch sehen«, unterbrach mich Leo.

»Leo«, murmelte ich. Ich wusste nicht, was ich als Nächstes sagen sollte, spürte nur, dass sich sein Name auf meiner Zunge richtig anfühlte. Natürlich.

Dann kam der Wolkenbruch. Regengüsse strömten auf uns herunter, Blitze zuckten, und plötzlich, ganz ohne Vorwarnung, küssten wir uns.

Leo zog mich ganz dicht an sich heran, während sich unsere Lippen trafen. Die Nässe des Regens vermischte sich mit der auf seinem Körper. Irgendwie fühlte sich seine Haut so warm und gerötet wie meine eigene an. Ich schlang meine Arme um ihn, erwiderte seinen Kuss und ließ meine Finger an seiner Wirbelsäule entlangfahren. Leo vergrub seine Finger in meinem Haar und löste meinen Pferdeschwanz. Ich achtete nicht darauf. Ich achtete nicht darauf, dass ich klatschnass wurde und mein BH wahrscheinlich unter meinem weißen T-Shirt zu sehen war, denn nur unser Kuss hatte Bedeutung.

Das war intensiv, dachte ich, während wir uns in dem strömenden Regen küssten und küssten. Dies war die Definition von Intensität. Mein Kuss mit T. J. schien verblasst, völlig bedeutungslos. Jetzt konnte ich nur die Augen schließen, während jeder Gedanke in meinem Kopf – jede Frage – fortgespült wurde.

Ich hörte mich seufzen, als Leo zurückwich. Er wischte mir mein klatschnasses Haar aus dem Gesicht und grinste mich an. »Wir sollten wirklich irgendwo ins Trockene gehen«, sagte er und umfasste meine Taille mit seinem kräftigen Arm. »Du zitterst ja.«

Es stimmte, aber ich zitterte nicht wegen der Kälte. Trotzdem nickte ich zustimmend und reichte Leo meine Hand. Er führte mich von der Promenade weg auf die schwarzen, zerklüfteten Felsen zu, doch ich verspürte weder Furcht noch Beklemmung.

»Vorsicht«, mahnte Leo, drückte meine Hand und half mir über einen großen Felsbrocken. Der Regen war jetzt so dicht wie ein Wasserfall. Meine Füße rutschten aus, doch ich hielt mich an seiner Hand fest. Als wir den Felsen überquert hatten, sah ich, wo wir Schutz finden würden: Dort, mitten im Sand, gab es eine Ansammlung von noch viel größeren Felsen, die eine Grotte bildeten, komplett mit Überhang und schroffen Wänden.

»Woher wusstest du hiervon?«, fragte ich erstaunt, während wir uns durch eine schmale Öffnung zwischen zwei Felsen zwängten. In der Grotte war es fast pechschwarz, und der Regen trommelte auf den Vorsprung. Ich konnte kaum glauben, dass wir plötzlich vor den Naturgewalten geschützt waren.

»Ich bin hier aufgewachsen«, erwiderte Leo. Er führte mich zu dem trockensten Streifen auf dem sandigen Boden und zog mich dann zu sich herunter. »Das ist meine Welt.«

Ich machte es mir in seiner Armbeuge bequem und lehnte meinen Kopf an seine Schulter. Unsere Herzen schlugen im selben Takt. Wir lachten beide, waren ausgelassen und durchgefroren. Leo senkte den Kopf und knabberte sanft an meinem Hals, was mir einen köstlichen Schauder bescherte.

Während wir so eng aneinandergekuschelt dasaßen, gewöhnten sich meine Augen langsam an die Dunkelheit in unserer kleinen Höhle. Grauer Dunst drang durch die Felsritzen, und in einer der schattigen Ecken konnte ich etwas ausmachen, dass seltsamerweise wie ein ausrangiertes T-Shirt und eine Männer-Kapuzenjacke aussah. Ich blinzelte und stieß Leo an.

»Gehören die Sachen irgendjemandem?«, flüsterte ich, als ob ich befürchten musste, irgendwen – oder irgendwas – aufzuwecken, was da vielleicht neben uns in der Grotte schlummerte.

Ich spürte Leos sanfte Schaukelbewegungen, als er lachte. »Sie gehören mir. Manchmal ziehe ich mich hier um, bevor ich schwimmen gehe.«

»Wirklich?« Ich blickte zu ihm auf. Seine Habseligkeiten in einer Grotte aufzubewahren, schien hier zu den grundlegenden Strandregeln zu gehören, ganz anders als in New York, wo die Leute immer so beschützend auf ihre Sachen achteten. »Hast du keine Angst, dass irgendwer …«

»Pssst«, sagte Leo und berührte meine Unterlippe mit einem Finger. »Hörst du das?« Als ich den Kopf schüttelte, flüsterte er: »Der Regen hat aufgehört.«

»Schon?«, fragte ich. Tatsächlich. Es klang, als wäre der Wind schwächer geworden. Die Regentropfen über uns prasselten nur noch leise.

»Ein Sommersturm«, sagte Leo, während er die Linie meines Mundes mit dem Daumen nachzog. »Schnell und kraftvoll, und dann – ist es vorbei. So ist das auf Selkie.«

Ich verspürte leichte Enttäuschung. »Ich wollte noch gar nicht, dass es vorbei ist«, maulte ich und grinste kläglich, wohl wissend, dass ich mich wie ein Kind anhörte.

»Irgendwann regnet’s schon wieder«, versprach Leo und zeichnete mit seinen sanften, neckenden Fingern Muster auf die Innenseite meines Arms. Einen langen Augenblick sahen wir uns an.

Ich beugte mich hinüber, um ihn zu küssen – ich konnte nicht widerstehen –, doch in dem Moment grummelte mein Magen. Laut. Peinlich berührt lachte ich und legte mir die Hände auf den Bauch. Noch nie zuvor hatte sich mein Körper so eigenwillig benommen.

»Hungrig?«, fragte Leo und betrachtete mich mit solcher Zärtlichkeit, dass das peinliche Gefühl dahinschwand.

»Fast verhungert«, gab ich zu. Mir fiel ein, dass ich die Blaubeertarte vorhin nicht angerührt hatte.

»Ich auch«, sagte Leo. »Wollen wir irgendwo was essen? Wir können ja dann … später weitermachen.« Ein verschmitztes Glitzern trat in seine Augen, und ich verspürte einen Anflug von Vorfreude.

Ich nickte. Leo nahm meine Hand und half mir auf. Ich sah zu, wie er das zerknitterte T-Shirt vom sandigen Boden aufhob und über den Kopf zog. Irgendwo tauchte der Gedanke auf, dass ich Mom anrufen und ihr sagen sollte, ich wäre zum Abendessen nicht da, doch ich verfolgte ihn nicht weiter. Ich hatte mein Handy erneut im Alten Seemann gelassen, und plötzlich wollte ich lieber mal versuchen, kein braves Mädchen zu sein.

»Hier, zieh das an.« Leo reichte mir seine rote Kapuzenjacke. Ich steckte die Arme durch die weichen Ärmel und war ganz erregt von diesem warmen, sauberen Geruch – Leos Geruch. Ich zog mein nasses Haar unter der Kapuze hervor und ließ es lose über den Rücken herabhängen. Dann zwängten sich Leo und ich durch die Felsöffnung und ließen unser Versteck zurück.

Der Strand war frisch und kühl, und ich nahm ein paar tiefe Atemzüge von der süßen, sauberen Luft. Der ruhige Ozean plätscherte gegen den Strand, und in den sandigen Vertiefungen standen kleine Pfützen. Der Himmel war wie eine Offenbarung – überall goldene und graue Streifen.

»Schön, nicht?«, meinte Leo, und als ich zu ihm hinsah, blickte er mich auf eine Art an, die mein Herz einen Salto schlagen ließ.

»Sehr schön«, erwiderte ich lächelnd. Automatisch wandte ich mich der Strandpromenade und den Lichtern des Crabby Hook zu, doch Leo zog an meiner Hand und machte mir ein Zeichen, in die entgegengesetzte Richtung zu gehen. Tiefer in den Nebel hinein.

»Warte mal«, sagte ich und zog nun ihn an der Hand. »Die Restaurants sind da vorn.«

Geringschätzig blickte Leo über die Promenade. »Du meinst die Sommer-Restaurants. Ich möchte mit dir woanders hingehen.«

Ich empfand Faszination, doch gleichermaßen Bedenken. Ruhig blieb ich stehen und hielt Leos Hand fest, während mich seine grünen Augen hoffnungsvoll ansahen.

»Komm, Miranda«, fügte Leo hinzu. »Vertrau mir.«

Vertrau mir. Konnte ich das? Mein Puls raste. Ich blickte Leo an – diesen Jungen, den ich gerade erst getroffen hatte.

»Erzähl mir erst genau, wo wir hingehen«, forderte ich und hob das Kinn.

»Klar.« Leo neigte seinen Kopf zu einer Seite und verzog den Mundwinkel. »Wir gehen in das Herzstück von Selkie Island.«

»Und wo ist das?«, fragte ich und trat näher an ihn heran.

Als er lächelte, erschienen wieder die Grübchen in seinen Wangen. »Fisherman’s Village.«