KAPITEL 4

Erben

Hab letzte Nacht geschlafen wie ein Stein«, verkündete Mom, als wir uns am nächsten Morgen auf der vorderen Veranda mit dem Herumtragen schwerer Kartons abmühten. »Das konnte ich schon seit Jahren nicht mehr. Es muss an der frischen Seeluft liegen.«

»Schade, dass sie bei mir nicht gewirkt hat«, murmelte ich gähnend. Ich hatte in dem schmalen Doppelbett unruhig geschlafen. Außerdem fühlte sich die Seeluft jetzt klamm und stickig an – kein ideales Wetter für körperliche Arbeit.

Seit der letzten halben Stunde hatten Mom und ich zerbrochene Lampen, abgenutzte Teppichläufer und gesprungene Vasen auf die Straße geschleppt. Laut Mom sollten donnerstagnachmittags die Müllmänner in ihren Golfwägelchen vorbeikommen, um den Abfall der Leute zu entsorgen.

»Das liegt wahrscheinlich daran, dass du das Bild von dem Seemann gesehen hast«, sagte Mom ärgerlich und stellte ihren Karton an die Straßenecke. »Davon hab ich als Kind auch immer Albträume bekommen.«

Während des Frühstücks hatte ich Mom von meiner Begegnung mit dem alten Seemann im Flur berichtet. Ich hatte allerdings nichts von meiner Entdeckung des Arbeitszimmer oder Llewellyn Thorpes Buch gesagt. Mein Erlebnis kam mir im hellen Tageslicht noch viel peinlicher vor, und ich glaubte, es sei besser, Unwissenheit vorzutäuschen, wenn Mom und ich irgendwann Isadoras Buchsammlung in Angriff nähmen.

Gerade, als Mom mir eine Besteckkiste aus den schmerzenden Armen nahm, hörte ich hinter uns eine weibliche Stimme aufkreischen. »Amelia? Amelia Blue Hawkins? Sie ist es, so wahr ich hier stehe!«

Ich fuhr herum und sah eine dünne Frau in Moms Alter, die die Straße entlanggeeilt kam und uns zuwinkte. Sie trug eine gigantische Sonnenbrille, eine lilafarbenes Kopftuch, ein eng anliegendes Strandkleid und Sandalen mit hohen Absätzen.

Ich blickte zu Mom, die wie vom Blitz getroffen und gleichermaßen schicksalsergeben wirkte, und spürte einen mitfühlenden Anflug von Schrecken – doch meine Neugier war definitiv geweckt.

»Wo wir gerade von Albträumen sprechen«, murmelte Mom und seufzte. Dann setze sie ein Lächeln auf, winkte und rief: »Hallo Delilah!«

»Nun, nun, ich muss schon sagen«, säuselte Delilah und riss beim Näherkommen ihre Sonnenbrille herunter. »Felice Cunningham meinte, im Alten Seemann sei Licht gewesen, und Teddy Illingworth hat geschworen, dass er dich gestern am Hafen gesehen hat. Da musste ich einfach vorbeikommen, um mich selbst davon zu überzeugen!« Sie blieb vor Mom stehen und küsste sie flüchtig auf die Wangen, während ich mich ein paar Schritte zurückzog und die Arme über der Brust verschränkte. »Amelia Blue Hawkins«, wiederholte Delilah kopfschüttelnd.

»Ich heiße immer noch Merchant«, korrigierte Mom sie sanft. »Amelia Merchant. Ich habe meinen Namen nach der Scheidung behalten. Aus beruflichen Gründen.«

»Oh«, gab Delilah zurück und wirkte dabei etwas nervös. »Natürlich. Aber wie dem auch sei.« Sie tätschelte Moms Arm. »Du siehst immer noch so hinreißend aus wie mit achtzehn. Ich hätte gedacht, dass du durch deinen Job als Ärztin in der großen Stadt mittlerweile schon völlig verwelkt wärst!« Delilah stieß ein helles Lachen aus und drehte sich dann herum, um mich in Augenschein zu nehmen. »Und das muss deine Tochter sein. Wieso ich das weiß? Sie ist Isadora wie aus dem Gesicht geschnitten – möge sie in Frieden ruhen«, fügte sie schnell hinzu und senkte den Kopf.

Ich war überhaupt nicht auf das plötzliche Gefühl angenehmer Überraschung vorbereitet, das mich angesichts dieses Vergleichs überkam. »Danke«, murmelte ich und trat verlegen von einem Bein auf das andere.

»Amen, Schätzchen!«, erwiderte Delilah und richtete ihre blauen, mit kräftigem Eyeliner betonten Augen auf mich. »Bedank dich bei ihr.«

»Ja, das ist Miranda«, warf Mom rettend ein. »Miranda, das ist Delilah LeBlanc Cooper aus Atlanta.« Ich erinnerte mich an den Nachnamen LeBlanc. Mom hatte erzählt, dass ihre Familie die Tradition der Erben-Party begründet hatte. »Ihr Sommerhaus liegt gleich da unten an der Straße.«

»Schon seit Generationen«, fügte Delilah in ihrem gedehnten Südstaatenakzent hinzu und legte Mom einen Arm um die Schultern; ihre blutrot lackierten Nägel sahen wie Krallen aus. »Als Kinder waren deine Mom und ich unzertrennlich. Es ist so schade, dass wir uns aus den Augen verloren haben.« Sorgfältig vermied ich, meine Mutter anzusehen – ich bezweifelte, dass sie diesen Verlust betrauerte.

»Du hast doch auch einen Sohn, oder?«, wollte Delilah jetzt von Mom wissen, die daraufhin kurzerhand erklärte, dass sich Wade bei seinem Vater in Los Angeles aufhielt.

»Tja, es macht sowieso mehr Spaß, wenn Mütter und Töchter ihre Zeit allein miteinander verbringen.« Delilah grinste erst Mom und dann mich an. »Man kann Schmuck und Lippenstifte austauschen und zusammen shoppen gehen.«

Jetzt konnten Mom und ich nicht anders, als uns anzublicken. Keine von uns trug sonderlich viel Make-up oder Schmuck, und Mom hatte nie genug Zeit zum Shoppen. Bei einer Mutter-und-Tochter-Olympiade wären wir wohl als Letzte durchs Ziel gegangen.

»Oh, da wir gerade davon sprechen!«, rief Delilah, ganz offensichtlich in der Lage, eine Unterhaltung völlig allein zu bestreiten. »Miranda, du musst meine Tochter Cecile kennenlernen. Alle nennen sie CeeCee. Sie ist fünfzehn und ein absoluter Schatz. Ihr beiden würdet euch bestimmt auf Anhieb verstehen.«

Meine Mutter und ich sahen uns wieder an, und Mom schien ein Lachen zu unterdrücken. Wir wussten beide: Wenn ›CeeCee‹ auch nur im Mindesten ihrer Mutter ähnelte, waren die Erfolgsaussichten auf eine Freundschaft äußerst gering.

»Und außerdem«, fügte Delilah hinzu, »könnt ihr CeeCee heute Nachmittag auf der Erben-Party kennenlernen. Ich nehme doch an, ihr habt eine Einladung bekommen?!«

Während Mom nickte und ihre Lippen schürzte, grinste Delilah mich wieder an. »Jeden Sommer haben Amelia und ich uns für die Erben-Party zurechtgemacht. Gott, wie die Jungs immer geglotzt haben, wenn wir das Restaurant betraten! Es war gar nicht verwunderlich, dass deine Mutter die Zuneigung der begehrtesten …«

»Wie? Schon fast zwölf?«, unterbrach Mom, fasste nach meinem Handgelenk und sah auf meine Uhr. Ihr Gesicht war plötzlich rot geworden. »Miranda und ich haben noch eine Menge im Haus zu erledigen …« Mom verstummte und blickte Delilah unverwandt an.

Nein!, hätte ich beinahe geschrieen. Leicht verzögert, aber nun auf die Folter gespannt, fing mein Herz an zu pochen. Ich wollte, dass Delilah weitererzählte! Mir war noch nie der Gedanke gekommen, dass meine Mutter ein Liebesleben gehabt haben könnte. Seit Dad und sie auseinander waren, hatte Mom sich kaum mit jemandem verabredet.

Doch der entsprechende Moment war vergangen und jetzt lag eine gewisse Spannung in der Luft. Delilah sah leicht gekränkt aus, als sie ihren Arm von Moms Schulter löste und ihre Sonnenbrille wieder aufsetzte. »Ich muss sowieso noch mein Kleid abholen«, sagte sie verschnupft und betrachte missbilligend unser Putz-Outfit: Mom und ich trugen alte, abgeschnittene Jeans, ausgeleierte T-Shirts und Sneakers. »Ich sehe die Damen dann später.« Sie deutete mit ihren Fingern ein Winken an, fügte jedoch vor ihrem Abgang noch frotzelnd hinzu: »Und es gibt sicher noch ein paar andere, die sich freuen werden, dich zu sehen, Amelia.«

Ich wollte Mom fragen, was Delilah gemeint hatte – und auch, wie die beiden jemals so eng befreundet gewesen sein konnten –, fühlte mich jedoch leicht benommen von diesem Hurrikan in Menschengestalt, der gerade über uns hinweggefegt war.

»Wirklich erstaunlich«, sagte Mom, als Delilah außer Hörweite war. Ihr Gesicht hatte wieder seine normale Farbe angenommen. »Diese Frau hat sich nicht ein bisschen geändert. Ich bin schon erschöpft, wenn ich nur daran denke, dass ich mich auf der Erben-Party mit ihr beschäftigen muss.«

»Wollen wir das Fest auslassen?«, fragte ich widerstrebend. Delilah machte einen wahnsinnig, doch ich fragte mich, was sie wohl sonst noch über meine Mutter oder womöglich Isadora wusste.

»Du solltest hingehen, mein Liebling«, erwiderte Mom und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Doch ich fürchte, ich werde im passenden Moment Kopfschmerzen bekommen.«

***

Nach zwei Stunden Putzerei und Rasenmähen war Mom dann allerdings doch in der Laune, ein wenig auszugehen. So wie ich. Als wir den Alten Seemann verließen, frisch geduscht und umgezogen – Mom in einem Hemdkleid aus Leinen und Griechischen Sandalen, ich in meinem roten Hüftrock und schwarzem Tanktop –, verspürte ich eine aufgeregte Anspannung in der Magengegend. Der Nachmittag roch nach frisch gemähtem Gras und Blumen, und alle erdenklichen Möglichkeiten schwebten zusammen mit den Seemöwen in der Luft.

Mom führte mich durch den Ort, der aus einem Delikatessen-Supermarkt, einer Boutique für Badekleidung, einem ausschließlich auf Hüte spezialisierten Laden sowie einem Schönheitssalon bestand. Alles drängte sich um einen üppig bewachsenen, grünen Platz mit einem Brunnen in der Mitte. Während Mom und ich den Platz überquerten, kamen wir an zwei Frauen in langen bunten Röcken vorbei, die vor den Augen einer kleinen Menschentraube Weidenkörbe flochten. Als wir schließlich die hölzerne Uferpromenade betraten, die sich am Strand entlangzog, hatte ich das Gefühl, mit den Gegebenheiten der Insel mehr oder weniger vertraut zu sein.

Die Uferpromenade verfügte über einen Eisstand und einen Laden namens Selkie Sandbar, in dessen Schaufenster Piraten mit Wackelköpfen und haifischförmige Surfbretter ausgestellt waren – exakt die Art von Souvenirladen, die ich mir auf der Fähre vorgestellt hatte. Dann gab es noch ein Muschellokal, THE FISH TALE, und das Restaurant The Crabby Hook samt aufblasbarem roten Krebs auf dem Dach. Das Restaurant war unser Ziel, doch bevor wir hineingingen, drückte Mom fest meine Hand – etwas, was sie, soweit ich mich erinnern konnte, noch nie zuvor getan hatte.

Eine ziemlich große Menschenmenge füllte den weiten, luftigen Raum, alle redeten durcheinander und tauschten Begrüßungsküsschen aus. Silberfarbene Girlanden und blaue Luftballons kitzelten unsere Köpfe, und aus der offenen Küche drangen das brutzelnde Geräusch und der köstliche Duft von frisch gebratenem Essen. An der einen Wand stand ein mit gegrillten Hähnchen, Hummerschwänzen und Kochbananen überladenes Buffet, auf der anderen Seite gab es eine Bar. Diejenigen Gäste, die sich bereits mit Getränken und Tellern voller Essen versorgt hatten, bahnten sich ihren Weg nach draußen auf die hintere Sonnenterrasse, wo eine Swing-Band im Stil der 40er-Jahre Musik spielte.

Mom und ich hatten vielleicht gerade mal zwei Schritte auf das Buffet zu gemacht, als ich jemanden: »Da ist sie!«, sagen hörte, und schon waren wir von einem Schwarm von Menschen umgeben. Delilah führte die Truppe an; sie hing am Arm eines dicklichen, schnauzbärtigen Mannes, der unheimliche Ähnlichkeit mit einem Walross aufwies – Mr. Cooper, wie ich vermutete. Eine überschwängliche Frau mit einem Diamantencollier um den Hals umarmte Mom, wobei die goldbraune Flüssigkeit in ihrem Glas fast auf mir landete, und ein älterer Mann mit einem Panamahut versuchte, meine Mutter in die Wange zu kneifen. Am Rande des Pulks stand der grauhaarige Mann von der Fähre, nun elegant in schicker Hose und mit Jackett. Er betrachte Mom mit einer Wehmut, die mir nicht behagte.

Ich wollte Mom gerade dezent auf ihn aufmerksam machen, als mich jemand an der Schulter fasste. »Miranda?«, fragte die unbekannte Stimme aufgeregt.

Ich drehte mich um und sah mich einem nicht sehr großen, hübschen Mädchen gegenüber, das ein weiß gepunktetes Strandkleid und Espadrilles mit Keilabsätzen trug. Seine langen roten Locken, die großen blauen Augen und die über seine Nase versprenkelten Sommersprossen ließen unschwer erkennen, dass das Mädchen Delilahs Tochter sein musste. Ich zögerte. »CeeCee?«, fragte ich dann vorsichtig.

»Oh mein Gott, Mama hat mir alles von dir erzählt!«, rief CeeCee und klatschte in die Hände. Das Glücksarmband an ihrem Handgelenk klimperte. »Du wirst es nicht verstehen, aber ich habe das Gefühl, wir sind Schwestern oder so was!« Und damit zog sie mich in eine überraschend feste Umarmung.

Ich versuchte, nicht an CeeCees üppigem Haar oder dem Duft ihres blumigen Parfums zu ersticken, und fragte mich, ob Mom wohl gerade Zeugin dieser Begegnung war. CeeCee hatte recht: Ich verstand es nicht. Die Tatsache, dass unsere Mütter in einem anderen Leben einmal befreundet gewesen waren – was meine Mutter heute zu bedauern schien –, machte uns nicht im Entferntesten zu Verwandten.

»Ich wollte immer eine Schwester«, seufzte CeeCee und löste sich schließlich von mir. »Bist du auch Einzelkind?«

»Ich hab einen älteren Bruder, aber er ist den Sommer über in Kalifornien«, schaffte ich zu erwidern und glättete dabei meinen Pferdeschwanz. Ich war etwas aus dem Konzept gebracht, musste mir aber eingestehen, dass CeeCees menschliche Wärme etwas sehr Erfrischendes hatte.

»Uhh, ist er süß?«, fragte CeeCee mit quiekender Stimme und leuchtenden Augen. »Ich wette, er ist total süß.«

»Er ist in Ordnung«, gab ich zurück und dachte, dass Wade – unbekümmert, witzig und in Yale bestimmt ein Schürzenjäger, mit anderen Worten: Dad 2.0 – einem Mädchen wie CeeCee bestimmt gefallen hätte.

Mein Bruder und ich hätten unterschiedlicher nicht sein können. Während Wade sich in der High School immer mehr freigeschwommen hatte, folgte ich immer schön den Regeln. Ich hätte nicht mal daran gedacht, sie zu brechen.

»Echt Klasse, dass du aus New York kommst«, blubberte CeeCee. Sie betonte York sehr melodisch und machte zwei Silben aus dem o. »Ich bin nur einmal dort gewesen und konnte nicht aufhören zu shoppen! Dad musste Mom und mich förmlich aus dem Henri-Bendel-Geschäft herauszerren, damit wir nicht noch mehr Handtaschen kaufen. Wie bekommst du es überhaupt hin, irgendwas anderes zu machen?«, fragte sie. Doch ihr leicht kritischer Blick, den sie über mein Outfit wandern ließ, schien ihre Frage bereits zu beantworten.

»Ach, irgendwie geht das schon«, gab ich nüchtern zurück. Wenn ich shoppen ging, dann meistens in Vintage-Läden, wo Linda und ich wie echte Profis immer billige Jeans und Strickpullis fanden. Und während Linda und ich einkauften, unterhielten wir uns – führten lange, verschachtelte Gespräche über die Geschlechter, familiäre Rangordnungen und Astronomie. Linda war unbestreitbar brillant, mit einem wissbegierigen Kopf. CeeCees Kopf hingegen schien durch und durch von Fendi-Brunnen und Lancôme-Strömen verwässert zu sein. Der Gedanke, sie als Busenfreundin auf Selkie zu haben, erfüllte mich mit einer gewissen Leere.

Auch wenn CeeCee meine Zurückhaltung vielleicht nicht entgangen war, ließ sie sich nichts anmerken. Stattdessen fragte sie fröhlich nach meiner Handynummer und verkündete dann, Mom begrüßen zu wollen, die immer noch von ein paar Verehrern umringt wurde.

Während CeeCee meine Mutter umarmte, begrüßte ich Mr. Cooper, das Walross (CeeCee war dieser genetischen Kugel offenbar ausgewichen), und Delilah hörte einfach nicht auf, CeeCee und mir zuzuwinken, als ob sie ein erfolgreiches Blind Date arrangiert hätte. Schließlich schlug CeeCee vor, dass wir beide auf die Terrasse umziehen sollten, wo ich ihre Freunde kennenlernen könnte.

Ich war hin- und hergerissen. Obwohl es sicher eine Erleichterung gewesen wäre, der dichten, schwitzenden Menge im Restaurant zu entkommen, vermutete ich, dass CeeCees Freundinnen Kopien der Mädchen von der Princess of the Deep waren – coole Kreationen weiblicher Perfektion. Darüber hinaus wollte ich Mom nicht im Stich lassen; sie lauschte momentan einer älteren Dame mit gestylter Haarpracht, die etwas über Austernpreise faselte. Doch als ich meine Mutter fragend anblickte, beugte sie sich dicht zu mir, flüsterte: »Wir verschwinden hier in zehn Minuten«, und entließ mich mit einem Wink.

Nachdem wir uns an der Bar ein paar Softdrinks geholt hatten, bahnten CeeCee und ich uns einen Weg nach draußen auf die zum Strand ausgerichtete Terrasse, wo es nach Sonnencreme und Bier roch. Ich sah die gestreiften Sonnenschirme, den feinen Sand, die wie schlanke Seehunde in der Brandung segelnden Gestalten – und spürte einen Anflug von Neid. Vielleicht könnte ich ja später etwas schwimmen gehen.

CeeCee führte mich an der Band und den Swing tanzenden Paaren vorbei zu zwei Mädchen, die Softdrinks schlürften und an deren Handgelenken (auch) Glücksarmbänder baumelten. Die eine war eine kurvenreiche Blondine in einem mit kleinen Kirschen bedruckten, schulterfreien Kleid, die andere war dünn wie ein Model, hatte kakaofarbene Haut und trug ein kurzes gelbes Kleid mit einem Gürtel. Wie CeeCee schienen die beiden aus einer Doppelseite der TEEN VOGUE ausgeschnitten zu sein.

Sie kennen nicht die Eigenschaften von Helium, sagte ich mir. Sie wissen nicht, was die Newtonsche Mechanik ist oder wer das Penicillin entdeckt hat. Du wirst dich durch sie nicht verunsichern lassen. Gleichwohl fummelte ich, in der Hoffnung, dass das Loch nicht zu sehen war, am Saum meines Rocks herum.

Mein Unbehagen ignorierend stellte uns CeeCee einander vor: Die Blonde hieß Virginia, die Brünette Jacqueline. Letztere lächelte und hakte sich bei mir ein. »Delilah hat schon von dir geschwärmt«, sagte sie mit sanfter Stimme.

»Jackie ist meine beste Freundin und kommt aus Atlanta«, erklärte CeeCee und ergriff meinen freien Arm. »Seit drei Sommern kommt sie hierher und verbringt mit uns die Ferien.«

Als ich so zwischen CeeCee und Jacqueline eingekeilt dastand, war ich überrascht, dass mich ein warmes Gefühl des Dazugehörens überkam. Ich hatte vergessen, wie tröstlich die unkomplizierte Vertrautheit war, die zwischen Mädchen bestehen konnte.

»Und Virginia ist aus Charleston«, fügte CeeCee hinzu und nickte in Virginias Richtung. »Sie war schon meine beste Selkie-Freundin, als wir noch Babies waren. Stimmt’s, Gin?«

»Ah-hah«, gab Virginia zurück. Der verschmitzte Blick ihrer haselnussbraunen Augen war woandershin gerichtet – auf eine Gruppe attraktiver Jungs, die ein paar Meter entfernt standen.

»Hast du schon den Brunnen auf dem Marktplatz gesehen?«, fragte mich CeeCee. Als ich nickte, fuhr sie in stolzem Ton fort: »Er wurde in einem Sommer von Virginias Urgroßvater gebaut, Colonel Cunningham.«

»Das ist … toll«, erwiderte ich zögernd. Es war schon lustig, dass auf Selkie die Geschichte jeder Familie irgendwie mit der Insel verbunden schien. Plötzlich kam mir Llewellyn Thorpes Buch wieder in den Sinn, doch ich schob den Gedanken beiseite.

»Er hat ihn natürlich nicht selbst gebaut«, betonte Jacqueline mit einem wissenden Grinsen. »Ich bin sicher, dass es jemand für ihn erledigt hat.«

»Blablabla«, sagte CeeCee, woraufhin Jacqueline ihr die Zunge herausstreckte.

»Hört auf, euch zu streiten, Mädels!«, kommandierte Virginia. Ihr Südstaatenakzent war noch ausgeprägter als CeeCees. »Können wir uns bitte mal konzentrieren? Wir müssen noch entscheiden, auf wen unsere Wahl in diesem Sommer fällt.«

»Wahl?«, wiederholte ich ziemlich belämmert. Dann folgte ich Virginias Blick zu den Jungs hinüber, die lachten und herumalberten und anscheinend die Aufmerksamkeit gar nicht bemerkten, die sie ihnen zukommen ließ. Mein Halsansatz wurde leicht rot. Oh.

»Eine Tradition, die wir vorletzten Sommer eingeführt haben«, erklärte CeeCee mir, während die Menge um uns herum in Applaus für die Band ausbrach. »Da bemerkten wir nämlich, dass die Jungs, die hier schon seit Ewigkeiten ihre Ferien verbrachten, plötzlich … scharf wurden.«

»Es muss irgendwas im Wasser sein«, bemerkte Virginia, grinste schelmisch und ließ eine blonde Locke um ihren Finger kreisen.

»Vielleicht«, gab ich zurück. Tatsächlich jedoch stammte die Schönheit und Anmut all derer, die sich auf der Terrasse versammelt hatten und lachten, von über Generationen verfolgter, sorgfältig kontrollierter Fortpflanzung.

»Ich denke, ich entscheide mich für Macon«, murmelte Jacqueline und deutete auf einen stämmigen, rotgesichtigen Jungen mit Bürstenschnitt.

»Wisst ihr noch, wie heftig er mit mir im letzten Sommer geflirtet hat, kurz bevor er wieder nach Chapel Hill in die Schule zurückging?«

»Nicht so heftig, wie Rick mit mir geflirtet hat«, konterte Virginia und machte mit ihrem Glas eine Bewegung in Richtung eines Jungen mit kurzgeschnittenen dunklen Locken, der eine Weste über einem blauen Hemd mit Button-down-Kragen trug. Er blickte in ihre Richtung, und sie lächelte und senkte die langen Wimpern.

»Ich kann mich nicht zwischen Lyndon und Bobby entscheiden.« CeeCee seufzte dramatisch, als handelte es sich um eine lebenswichtige Entscheidung, und deutete auf die beiden Jungen, die praktisch kaum voneinander zu unterscheiden waren: Beide hatten längeres, weißblondes Haar und trugen Krawatten. »Ich vermute, ich muss es wohl mal mit beiden probieren, um rauszufinden, welcher mir besser gefällt.« An dieser Stelle brachen sie, Jacqueline und Virginia in schallendes Gelächter aus.

Ich war komplett sprachlos. Gingen manche Mädchen etwa so mit Jungs um? Wählten sie die Typen aus, als wären sie nicht mehr als Fische, die man in ein Glas sperrt? Ich war besonders über Jacqueline erstaunt, die ich als zurückhaltenden Charakter eingeschätzt hatte. Ich wünschte, ich hätte das Selbstvertrauen gehabt, diese Art Kontrolle über mein eigenes romantisches Schicksal zu erlangen – die Tatsache, dass es in letzter Zeit nichts Romantisches in meinem Leben gegeben hatte, mal außer Acht gelassen.

»Wartet mal!«, sagte CeeCee atemlos und schien ernsthaft alarmiert. »Ich hab was vergessen!«

Virginia prustete los und warf Jacqueline einen Blick zu. »CeeCee, du würdest dein hübsches kleines Hinterteil vergessen, wenn es nicht an dir befestigt wäre«, höhnte sie.

»Oh, halt die Klappe«, gab CeeCee kichernd zurück. »Ich hab Miranda vergessen!« Sie sah mich an, ihre riesigen Augen funkelten. »Wir brauchen auch einen Jungen für dich!«

Die Röte zog sich jetzt an meinem Hals hinauf. Dieser Irrsinn musste im Keim erstickt werden. »Hör mal, CeeCee«, sagte ich nachdrücklich und benutzte einen ähnlichen Tonfall wie bei Matrosenmütze auf der Fähre. »Danke für das Angebot, aber ich brauche keinen Sommerflirt, das kann ich dir schwören.«

»Warum nicht? Hast du etwa einen Verehrer zu Hause?«, fragte CeeCee. Ich konnte förmlich spüren, wie sie, Jacqueline und Virginia den Atem anhielten und mich ungläubig anstarrten. Miranda? Hat einen Freund?

»Ah, nein«, stotterte ich. »Ich meine, doch, ich hatte, aber …« Ich biss mir auf die Lippen und befahl mir, weder an Greg zu denken noch über ihn zu sprechen. Mit CeeCee und ihrer Kohorte in solch persönliches Fahrwasser vorzudringen, war das Letzte, was ich wollte. »Nein«, schloss ich wenig überzeugend ab.

»Was hältst du denn dann von Archer Oglethorpe?«, schlug Jacqueline vor und zuckte mit ihren schlanken Schultern. »Er ist süß und Single …«

»Vergeben!«, warf Virginia ein, bevor ich sagen konnte, dass allein der Name des Jungen mich abschreckte. »Kay McAndrews und er haben vor zwei Tagen auf der Fähre förmlich aneinander geklebt, was ich übrigens ziemlich geschmacklos finde.«

»Aber es war gar nicht geschmacklos, als du beim Feuerwerk im letzten Sommer deine Zunge in T. J. s Hals gesteckt hast?«, frotzelte Jacqueline, woraufhin Virginia ihr den Finger zeigte und die Sonne dabei sehr hübsch auf ihrem dunklen Nagellack blitzte. Ich war fassungslos, wie gewandt diese Mädchen zwischen Freundlichkeit und Brutalität wechselten. Zwischen mir und Linda war es nie so gewesen, zumindest nicht bis …

»Wartet mal, ich hab’s!«, rief CeeCee. »T. J. Illingworth.« Sie senkte ihre Stimme und flüsterte mir ins Ohr. »Er steht da neben Macon. In dem gestreiften T-Shirt. Siehst du ihn?«

Das tat ich, und mir wurde klar, dass T. J. Illingworth der dunkelhaarige Junge von der Fähre war. Der Sohn des Mannes mit den grau melierten Haaren, der vorhin im Restaurant Mom angestarrt hatte. Bei dem Gedanken an Mom sah ich mich suchend auf der Terrasse um, ob sie vielleicht rausgekommen war, um mich abzuholen, doch in der tanzenden und trinkenden Menge konnte ich sie nicht entdecken.

»Ist er nicht traumhaft?«, fragte CeeCee, und ich drehte mich um, um T. J. in Augenschein zu nehmen. »Seine Familie ist stinkreich«, flüsterte sie verschwörerisch. »Die Illingworths haben das Meiste hier auf der Uferpromenade finanziert.

»Ja, wie zum Beispiel das Research Center – das neue Zentrum für Meereskunde, mit dem T. J.s Vater gestern Abend beim Dinner angegeben hat«, warf Virginia stöhnend ein.

Ich spitzte die Ohren. »Was ist denn das für ein Research Center?«, fragte ich, mehr an dieser neuen Entwicklung als an einem Sommerflirt interessiert. »Wo liegt das genau?«

Aber niemand hörte mich, denn CeeCee war mit ihren Lobpreisungen über T. J. fortgefahren. »Er ist total süß«, sagte sie. »Und so was wie ein Golf-Champion. Oh, und im Herbst fängt er in Duke mit dem Studium an. Er ist perfekt.«

»Jetzt wartet mal«, sagte ich misstrauisch und machte mich von ihr und Jacqueline los. »Wenn er so fantastisch ist, wieso ist er dann nicht dein Sommerflirt, CeeCee? Oder eurer?«, fügte ich in Richtung Virginia und Jacqueline hinzu.

»Ganz einfach«, erwiderte Jacqueline und befeuchtete mit der Zunge ihre Unterlippe. »Wir drei haben einen Pakt geschlossen: Wir teilen uns keine Jungs. Das ist viel zu inzestuös.«

»Ich hab mich letzten Sommer öfter mit T. J. getroffen«, erklärte Virginia und verdrehte die Augen. Sie sagte letzten Sommer so abfällig, wie ich Grundschule gesagt hätte. »Aber mach dir keine Sorgen, Miranda. Meinen Segen hast du. Ich verliere das Interesse an Jungs, sobald ich Sex mit ihnen habe. Es ist wie Zauberei! Wir tun es, und puff! Sie langweilen mich.« Sie lächelte seelenruhig.

»Ich beneide sie darum«, seufzte Jacqueline. »Ich werde immer total anhänglich.«

»Ich auch«, bestätigte CeeCee.

Ich räusperte mich, die Röte war mir vollends ins Gesicht gestiegen. Zu dieser Diskussion hatte ich nichts beizutragen. Ich blickte auf meine schwarzen Schuhe hinunter.

»Also, worauf warten wir?«, fragte Virginia. »Wollen wir rübergehen?«

Oh Gott. Wo war Mom bloß abgeblieben? Waren mittlerweile nicht schon zehn Minuten vergangen?

»Warte mal«, sagte CeeCee und begann, an meinem Pferdeschwanz herumzufummeln. »Miranda, willst du nicht erst mal dein Haar offen tragen?«

Energisch schüttelte ich den Kopf. »Ist noch zu feucht«, erwiderte ich. Mein Haar ist von Natur aus gelockt, aber ich bürste es immer nach hinten und stecke es hoch, so dass es sich nicht kräuselt. Außerdem war mir klar, dass das hier ziemlich riskant war: Wenn ich CeeCee in diesem Punkt erst mal nachgäbe, hätte sie sich bestimmt Sekunden später mit Mascarastiften und Make-up-Foundation auf mich gestürzt.

»Na dann.« CeeCee zog einen Schmollmund. Sie musste meine Bereitschaft zur Blockade gespürt haben, denn sie fasste wieder nach meinem Arm.

Seite an Seite überquerten CeeCee, Virginia, Jacqueline und ich die unerforschte Meerenge, die uns von den Jungs trennte. Meine Handflächen wurden bei jedem Schritt feuchter. Ich war seit einem Monat nicht mehr unter Leuten gewesen; was war, wenn ich nicht mehr wusste, wie man eine lockere Unterhaltung führte?

Die jungen Herren von Selkie Island standen mit unbekümmertem Lächeln und den Händen in den Hosentaschen vor dem Strandpanorama. Als wir zu ihnen kamen, grinste Macon und stieß Rich in die Seite, Lyndon und Bobby schmunzelten, T. J. nickte uns feierlich zu. Mit seinem gepflegten, zurückgekämmten dunklen Haar, in khakifarbenen Hosen und einem marineblauen Blazer, der seine breiten Schultern betonte, sah er auf klassische Weise elegant und noch viel besser als auf der Fähre aus. War CeeCee total übergeschnappt? In welchem Paralleluniversum bewegte sich dieser Junge, gemessen an meiner Liga?

»Die Damen«, sagte er, in einem tiefen, erwachsen klingenden Tonfall. »Schöner Nachmittag, nicht wahr?«

Mal ernsthaft?! Ich verschluckte ein Lachen. Ich kannte keinen einzigen Jungen in meinem Alter, der so sprach.

Doch CeeCee und Co. schienen von T. J.s Worten entzückt, lächelten ihn an, schwangen ihre Hüften und fuhren sich durch ihr Haar. Ich biss mir in die Unterlippe und wünschte, ich könnte woanders sein, irgendwo, wo ich mich sicherer gefühlt hätte.

»Wer ist denn die Neue?«, wollte Rick wissen und deutete mit dem Kinn auf mich, während sich Virginia betont lässig zu ihm gesellte. Jacqueline hatte sich inzwischen ihren Weg zu Macon gebahnt, der sie so heftig umarmte, dass ihre Füße von der Promenade gehoben wurden.

»Das ist Miranda«, sagte CeeCee betont und gab mir einen Stoß in den Rücken, der mich nach vorne stolpern ließ. »Besuch aus New York, aber sie hat ihre Wurzeln in Savannah. Hey, genau wie du, T. J.!«, blubberte sie in gespielter Überraschung.

CeeCees Fröhlichkeit, mit der sie hier die Kupplerin spielte, ließ in mir irgendwie den Wunsch aufkeimen, sie kräftig in den Hintern zu treten. Sollte sie nicht damit beschäftigt sein, ihre Wahl zwischen Lyndon und Bobby zu treffen?

»Faszinierend«, sagte T. J. und heftete seine braunen Augen auf mich, was mich noch mehr erröten ließ. Helle Haut zu haben, ist echt ein Fluch.

»Wie ist dein Nachname?«

»Merchant«, erwiderte ich automatisch, bevor mir klar wurde, dass T. J. den Familienstrang meines Vaters, der aus dem ganz und gar nicht glamourösen Brooklyn stammte, weder kennen noch sich um ihn scheren würde. »Hawkins«, berichtigte ich, während CeeCee ihren Platz wechselte, um mit Lyndon oder vielleicht auch Bobby zu reden.

Beeindruckt breitete sich ein Lächeln über T. J.s kantiges Gesicht. »Natürlich«, erwiderte er. »Ich habe seit meiner Kindheit ständig was über die Familie Hawkins gehört! Meine Mutter würde förmlich niederknien, wenn sie dir begegnete – sie sagt, dass jede Lady aus den Südstaaten versuchen sollte, wie Isadora Hawkins zu sein.«

»Glaub mir, ein Hofknicks wäre bei mir völlig fehl am Platz«, sagte ich lachend und versuchte mich an den Gedanken zu gewöhnen, dass ich mich tatsächlich mit diesem Jungen unterhielt. Obwohl mein Gesicht noch immer glühte, schlug mein Herz nicht schneller; T. J.s tadellose Manieren ließen mich definitiv Ruhe bewahren. Als ich so mitten in dieser Gruppe stand – die zwischen den Jungs und Mädels hin- und herflatternden Flirts schienen die Luft zum Knistern zu bringen –, überkam mich plötzlich eine gewisse Erregung. Konnte es wirklich sein, dass ich hier hineinpasste?

»Das wage ich zu bezweifeln«, erwiderte T. J. sanft, und mein Magen machte einen Satz. Ich konnte nicht sagen, ob sein offenkundiges Interesse an mir nur an unserer gemeinsamen Verbindung mit Savannah lag oder ob CeeCees Einsatz als Amor tatsächlich, und erschreckenderweise, Früchte trug. »So oder so«, fuhr er fort, »meine Mutter ist nicht hier. Sie verbringt den Sommer mit meiner Schwester auf Tybee Island, jetzt, wo meine Eltern … geschieden sind.« Er senkte die Stimme, so als ob seine letzte Bemerkung irgendwie schmutzig geklungen hätte.

»Meine Eltern sind auch geschieden«, platzte ich heraus, davon überrascht, dass T. J. und ich noch etwas Weiteres gemeinsam hatten.

»Das tut mir leid«, gab T. J. zurück und klopfte mit seinen hellbraunen Slippern einen kurzen Takt auf den Boden. »Ich glaube, Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute kommt wohl nur noch im Märchen vor.«

»Ich habe eh noch nie an so etwas geglaubt«, erwiderte ich wahrheitsgemäß, und T. J. blickte mich aus zusammengekniffenen Augen an, als hätte ich eine fremde Sprache gesprochen.

»Hey, ihr Mädels kommt gerade rechtzeitig«, sagte einer der Jungs. Ich wandte mich von T. J. ab und sah einen lächelnden Lyndon (oder Bobby), der seinen Arm um CeeCees Taille gelegt hatte. »T. J. wollte gerade sein Päckchen aufmachen«, fügte er hinzu.

Mein Herz setzte für einen Schlag aus. »Äh, was?«, fragte ich und blickte T. J. an, der in sich hineingrinste.

»Keine Erben-Party ist ohne das Päckchen perfekt«, verkündete T. J. Offensichtlich spielte er auf eine Tradition ähnlich der Sommerflirts an. Dann klappte er eine Seite seines Blazers auf und enthüllte zwei silberne Fläschchen, die in seiner Innentasche steckten. Die anderen heulten jubelnd auf, und ein paar der Partygäste blickten amüsiert in unsere Richtung.

»Theodore Illingworth Junior«, verkündete Virginia, während sie sich von Rick abwandte und die Hände in die Hüften stemmte. »Du weißt wirklich immer, was angesagt ist.« Ihre Augen glänzten und ich fragte mich, ob sie T. J.s tatsächlich schon so müde geworden war, wie sie behauptet hatte.

»Treten Sie näher, meine Damen und Herren«, sagte T. J., holte eine Flasche hervor und genoss offensichtlich die ihm zuteilgewordene Aufmerksamkeit, »und probieren Sie den besten Rum nördlich von Kuba.«

Ich hielt mich im Hintergrund und kam mir wirklich albern vor, weil ich geglaubt hatte, dass diese verwöhnten Kids sich mit simplen Softdrinks zufriedengeben würden. Ich war noch nie betrunken gewesen, hatte noch nie mehr als ein oder zwei Schluck Bier getrunken – nicht einmal bei Gregs in Abwesenheit der Eltern gefeierten Schulabschlussparty. Ich war mir sicher, dass ich das Gefühl, außer Kontrolle zu geraten, bestimmt nicht gemocht hätte.

Während alle anderen, einschließlich CeeCee und ihre Freundinnen, darauf warteten, dass ihre Plastikbecher gefüllt würden, zog ich mich ein paar weitere Schritte von der aufgeregten Gruppe zurück. Ich bemerkte plötzlich, wie sich alle ähnelten: die Mädchen mit ihrem dichten Haar und die Jungs mit ihren kräftigen Kiefern. T. J. drehte eilig die Flasche auf und goss klare Flüssigkeit in einen Becher, während Jacqueline lachte und Macon auf die Wange küsste. Was hatte ich mir bloß dabei gedacht? Ja, ich war zwar technisch gesehen eine Erbin, aber ich war nicht Teil dieser Horde.

»Wo willst du hin, Miranda?«, fragte T. J. und blickte mich an, während er weiter einschenkte. Er schien beleidigt, dass ich mich in seinem größten Moment entfernte.

»Willst du nichts trinken?«, fragte Virginia mit tadelndem Unterton in ihrer Stimme.

»Ich bin gleich wieder da«, erwiderte ich nicht ganz aufrichtig, nunmehr fest entschlossen, nach Mom Ausschau zu halten. Ich wollte von ihr wissen, wieso sie noch nicht gekommen war, um mich zu retten.

Als ich mich umdrehte, hatte ich die Antwort. Mom stand nahe der Band und hielt ein Glas Weißwein in der Hand. Sie lachte, und ihr Gesicht hatte einen rosigen Teint. Und die Person, die dicht neben ihr stand und sie zum Lachen brachte, war niemand anderer als T. J.s Vater, Mr. Illingworth. Ich holte tief Luft, weil mir plötzlich einfiel, wie Mom am Tag zuvor aus dem Hafen geflüchtet war. Und dann waren da noch Delilahs neckische Bemerkungen. Gab es da etwas, was mir meine Mutter nicht erzählte?

Ich konnte diese Art von Chaos, die sich in meinem Kopf ausbreitete, nicht ertragen. Also lief ich zurück und sah an den jungen Erben vorbei zum Strand, zu den Wellen, die sich auftürmten und am Ufer brachen. Der Strand, so dachte ich, war der Ort, wo ich hingehörte – inmitten von Muscheln und Krebsen, die weder lachten, noch flirteten, noch urteilten. Wenn sich meine herumwirbelnden Gedanken erst einmal beruhigt hatten, könnte ich wieder zur Party zurückkehren.

Während der Wind meinen Rock aufbauschte, bahnte ich mir also einen Weg über die Stufen der Strandpromenade und lief über den Sand. Die Geräusche der klirrenden Gläser und Unterhaltungen der Partygäste wurden vom tosenden Brausen des Meeres verschluckt.