Du hast es also geschafft!«, rief Mom, als ich gleich hinter dem kleinen Jungen und seinen Eltern von der Fähre stieg.
»Da bin ich«, gab ich, selbst etwas ungläubig, zurück. Überall standen hohe Sägepalmen mit spitzen Blättern und verliehen dem Hafen ein subtropisches Flair. Die dunstige Luft war dicht von Meersalz durchsetzt.
Obwohl meine Mutter und ich uns meistens etwas reserviert verhielten, umarmten wir uns, und ich atmete ihren üblichen Duft ein: Franzbranntwein und Feuchtigkeitscreme. Als Mom sich schließlich aus unserer Umarmung löste und mir meinen Seesack abnahm, wurde mir klar, wieso ich sie nicht vom Boot aus hatte erkennen können. Sie sah … anders aus.
Die Mom, die ich kannte, die geschäftige Chirurgin, hatte immer zerknitterte grüne OP-Kittel an, trug ihr Haar zurückgekämmt, und unter ihren großen grauen Augen zeichneten sich dunkle Ringe ab. Diese Mom war in eine orangefarbene Tunika über einem langen, fließenden Rock gehüllt. Ihre weichen, hellbraunen Locken fielen ihr auf die Schultern herab, und ihr Gesicht – ovalförmig und hübsch, ein Gesicht, das manche Leute denken ließ, ich sei adoptiert – strahlte in gesundem Glanz.
»Was ist denn mit dir passiert?«, platzte ich heraus. Ich hatte die geheime Befürchtung, dass ich, wenn ich erst aufs College ginge und dann in den Ferien nach Hause käme, meine Mutter weißhaarig und gebeugt vorfinden würde – plötzlich gealtert. Sie jedoch jetzt so zu sehen, war eine völlig gegenteilige Erfahrung. Seit ihrer Abreise aus New York war Mom jünger geworden.
Sie kicherte. »Du hast mich eben noch nie mit richtiger Sonnenbräune gesehen. Die Sonne ist mir anscheinend gewogen. Glaub mir, ich hatte noch überhaupt keine Zeit, an den Strand zu gehen.« Sie legte eine Hand um mein Kinn und sah mich liebevoll an. »Dafür habe ich dir gestern eimerweise Sonnencreme gekauft, Hauttyp Alabaster – Lichtschutzfaktor 40.«
Dem munteren Rhythmus ihrer sonst immer so geschäftsmäßig klingenden Stimme konnte ich entnehmen, wie sehr Mom sich freute, dass ich jetzt bei ihr war.
Vor zwei Tagen hatte sie mich aus Savannah angerufen, wohin sie geflogen war, um der Beerdigung meiner Großmutter, ihrer Mutter, Isadora Hawkins, beizuwohnen. Bei diesem Anlass hatte Mom von ihrer Erbschaft erfahren: das Sommerhaus auf Selkie.
Moms Geschwister, Tante Coral und Onkel Jim, die beide in Isadoras Nähe in Savannah lebten, waren empört gewesen. Mom und Isadora hatten fast dreißig Jahre nicht miteinander gesprochen. Als Mom jünger war, hatten sie sich bezüglich einer Sache, deren Einzelheiten mir undurchsichtig geblieben waren, zerstritten – irgendetwas, das Moms Heirat mit meinem Vater betraf, einem armen Yankee aus Brooklyn. Niemand konnte glauben, dass Isadora meiner Mutter solch ein Vermächtnis hinterlassen hatte. Mom hatte sowohl erstaunt als auch, hauptsächlich, gereizt reagiert, weil sie nun ihre Arbeit im Stich lassen, nach Selkie hinausfahren und versuchen musste, das alte Haus zu verkaufen.
»Ich könnte deine Hilfe wirklich gut gebrauchen«, hatte Mom am Telefon gesagt. »Ich möchte so schnell wie möglich Isadoras persönliche Sachen durchsehen, und du, mein Schatz, hast großes Talent, wenn’s ums Organisieren geht.«
Ich hatte mich leicht geschmeichelt gefühlt, während ich draußen vor meiner High School stand, wo ich eben eine katastrophale Abschlussprüfung in Englisch hingelegt hatte. Ich war neugierig auf die unbekannten Stränge meines Erbguts, die mich mit den Südstaaten verbanden. Und obwohl ich mein Praktikum antreten wollte, hatte sich ein Teil von mir danach gesehnt, dem sich anscheinend glanzlos und einsam abzeichnenden Sommer zu entkommen. Mein neunzehnjähriger Bruder Wade war bei unserem Vater in Los Angeles. Irgendwie gefiel mir die Vorstellung, dass die Geschlechter nun über die entgegengesetzten Landesteile verstreut waren – fast wie die Union und die Konföderierten im Bürgerkrieg.
Nach mehreren E-Mails ans Museum war mein Praktikumsbeginn auf den 15. Juli verschoben worden, und ich hatte die Reisetickets gekauft.
»Wie ist es denn bis jetzt gelaufen?«, fragte ich Mom, als wir uns nun unter dem blauen Himmel gegenüberstanden. Das rhythmische Klatschen des Wassers gegen die Anlegestelle wirkte beruhigend.
Sie stöhnte und legte eine Hand an die Stirn. »Frag bloß nicht. Tante Carol ruft mich ständig an und brüllt herum, dass ihr das Haus eigentlich zusteht, und …« Mom hielt schlagartig inne. Ihre Kinnlade fiel herunter, als ihr Blick auf irgendetwas hinter mir fiel. Unter der Sonnenbräune wurde ihr Gesicht bleich, und für eine verrückte Sekunde fragte ich mich, ob sie womöglich den Kraken sich aus dem Ozean herausmanövrieren sah.
Ich blickte über meine Schulter und entdeckte Matrosenmütze, der Gepäck auf einen Wagen lud. Der Mann mit den grau melierten Haaren, der auf der Fähre gewesen war, stand neben ihm, nickte und reichte ihm ein paar zusammengefaltete Dollarscheine. Der dunkelhaarige Sohn des Mannes kam eben von der Fähre gelaufen, den Kopf noch immer über sein iPhone gebeugt. Ein paar Hafenarbeiter liefen um sie herum und bereiteten die Princess of the Deep auf die Rückreise vor.
»Wen siehst du denn da?«, fragte ich neugierig, als ich mich wieder zu meiner Mutter drehte.
»Niemanden«, erwiderte Mom und griff nach meinem Arm. »Komm, du bist bestimmt am Verhungern, und wir müssen noch ein Stück laufen. Autos sind hier auf der Insel nicht erlaubt.«
Ich warf einen letzten Blick zurück auf die Fähre und eilte dann meiner Mutter nach. Wir verließen den Hafen, bahnten uns einen Weg durch kratziges gelbes Gras und liefen einen Kieselweg hinauf, der sich vom Ufer fortschlängelte.
Ich hatte noch weitere Fragen auf der Zunge liegen; auf dem sicheren Landstrich von ›Frage-Antwort‹ fühlte ich mich am wohlsten. Ich wollte Mom nach Einzelheiten zum Begräbnis meiner Großmutter ausfragen, einer offenbar pompösen Feierlichkeit. Anscheinend war ein Berg von Magnolien zu einem Abbild Isadoras geformt worden und ein Gospelchor hatte ›Michael, Row Your Boat Ashore‹ gesungen. Ich wollte auch, dass Mom sich eingehender über das Drama mit Tante Carol ausließ. Doch als wir uns schließlich auf einer gepflasterten Straße mit dem Namen Triton’s Pass wiederfanden, verschlug mir die fremde Schönheit unserer Umgebung die Sprache.
Riesige Eichen säumten die Straße. Ihre grünen Blätter bildeten einen Baldachin über unseren Köpfen, und an feine Spitzen erinnerndes blassgrünes Louisianamoos wehte von den Ästen der Bäume herab und erzeugte einen gespenstischen Effekt. Schmalere Bäume mit weißen Stämmen – »Kreppmyrte«, erklärte Mom im Vorbeigehen – waren mit leuchtend lilafarbenen Blüten übersät, die die Luft mit ihrer reifen Süße durchtränkten. Ein glänzendes, pummeliges Gürteltier tapste direkt hinter uns umher.
Obwohl die Flora und Fauna der Insel wild und unberührt aussah, fühlte es sich an, als ob Mom und ich über eine elegante, altmodische Promenade spazierten. Hinter den Bäumen lagen säulenverzierte Häuser, und Männer tippten an ihre Hüte, während sie an uns vorbeigingen. Zwei Mädchen in weißen Kleidern kamen auf Fahrrädern angesegelt und riefen uns ein fröhliches »Guten Tag!« zu. Hätte ich an Zeitreisen geglaubt, wäre ich wohl zu dem Schluss gekommen, dass mich die Fähre in die Vergangenheit transportiert hatte.
»Da sind wir«, sagte Mom, als wir um eine Ecke bogen und vor einer großen Rasenfläche stehen blieben. Das Haus – das größte, das ich bis jetzt gesehen hatte – war blassblau angestrichen, verfügte über vier Säulen und eine umlaufende, schmiedeeiserne Veranda. Der Rasen war mit Unkraut übersät und viel zu lang, und die Fliegengitter der Erkerfenster waren zerrissen. Doch es war ganz klar, dass das Haus, ähnlich einer feinen älteren Dame, einst eine echte Attraktion gewesen war.
»Unmöglich«, erwiderte ich mechanisch. Mein Hirn konnte die Fakten nicht verarbeiten. Ich spähte umher und erwartete beinahe, irgendwo den Lauf eines Gewehrs zu entdecken, der angesichts unseres unerlaubten Betretens auf uns gerichtet war.
Ganz realistisch betrachtet: Auf welche Weise konnten Mom und ich auch nur annähernd mit diesem … Anwesen in Verbindung stehen? Ein Anwesen, das vielleicht als Drehort für einen Film über den Bürgerkrieg hätte dienen können, aber nicht als Wohnort für normale Menschen wie Mom und mich.
»Sieh mal«, sagte Mom und führte mich zu dem verrosteten Briefkasten. In abgesplitterter weißer Farbe standen folgende Worte darauf geschrieben:
Der Alte Seemann
Mr. and Mrs. Jeremiah Hawkins
10 Glaucus Way
Selkie Island, Georgia 31558
Schlagartig kehrte meine Erinnerung zurück. Jeremiah Hawkins war mein Großvater, der gestorben war, als meine Mutter noch zur High School ging. Aber …
»Wer ist ›Der Alte Seemann‹?«, fragte ich und reckte meinen Kopf, um den Schriftzug genauer untersuchen zu können.
Mom gab ein kleines Lachen von sich. »Ach, das war deine angeberische Großmutter. Sie benannte das Haus nach ihrem Lieblingsgedicht, ›Die Ballade vom Alten Seemann‹.« Als ich sie fragend anblickte, fügte sie hinzu: »Na, du weißt doch, ›Wasser, Wasser überall, und nirgends ein Tropfen zu trinken.‹? Samuel Taylor Coleridge? Der Albatross?« Ich schüttelte den Kopf, und sie gab mir einen kleinen Stups. »Oh, Miranda. Du solltest wenigstens ab und zu etwas anderes lesen als deine Biologiebücher.«
Ich seufzte und folgte ihr den gewundenen Pfad zum Haus hinauf. Irgendwie fand Mom zwischen ihren Operationen und medizinischen Konferenzen immer noch die Zeit, Romane oder Gedichtsammlungen zu lesen. Ich hingegen fand so etwas wie Prosaliteratur einfach viel zu … prosaisch.
Wir kletterten die zerbröckelten Verandastufen herauf, und als Mom in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel kramte, betrachtete ich den blau-weißen, trotz seines Alters unvergilbten Rettungsring, der wie ein Kranz an der Tür hing.
»Wann hat hier zuletzt jemand gewohnt?«, fragte ich. Mom selbst war erst gestern angekommen.
»Vor ungefähr zwei Jahren«, erwiderte Mom und schloss die Tür auf. »Als ich etwa in deinem Alter war, nachdem mein Vater starb«, sie räusperte sich, »entschied Isadora, dass die Familie die Sommer hier nicht länger verbringen sollte. Sie kam ab und an hierher. Doch als ihre Gesundheit sie im Stich ließ, schloss sie den Alten Seemann ab und blieb ein für allemal in Savannah.«
***
Eine Duftmischung aus Schimmel, Staub und Möbelpolitur schlug uns entgegen, als wir in die große Vorhalle traten. Ich spürte leichte Aufregung in mir hochsteigen. Dann blieb die Spitze meines Turnschuhs an einem losen Dielenbrett hängen und ich stolperte. Seebeine, fiel mir ein. Um mein Gleichgewicht zu halten, griff ich nach einem flachen Stück Karton, das gegen die Wand gelehnt war und darauf wartete, zu einer Schachtel gefaltet zu werden.
»Das Haus ist ein Wrack«, warnte Mom und schloss die Tür. »Alles ist uralt und fällt auseinander. Es gibt keinen Fernseher, kein Internet, und es grenzt schon an ein Wunder, dass wir überhaupt Handyempfang haben.« Als sie meinen Seesack auf einen Stuhl mit klauenförmigen Beinen legte, setzte sie eine missbilligende Miene auf. »Ein Geschenk!«
Normalerweise teilte ich Moms Vorliebe für elegantes, modernes Design – unsere Wohnung in Riverdale war mit viel Glas und stahlgrauen Möbeln eingerichtet –, doch die dunkle Holzvertäfelung in der Vorhalle und die zerfransten Spitzenvorhänge an den Fenstern sahen irgendwie sehr hübsch aus. Goldgerahmte Meerlandschaften hingen an einer Wand, eine andere war mit einer abblätternden blauen Tapete bedeckt, die mit winzigen Seepferdchen gemustert war. Jeder Winkel des Hauses schien Geschichte zu verströmen, von der gewundenen Holztreppe bis hin zu dem kristallenen Kronleuchter.
Es erinnerte mich daran, wie ich mich oft fühlte, wenn ich meine High School betrat. Über dem Eingang hing eine riesige farbige Wandmalerei, auf der die Wissenschaftler der verschiedenen Jahrhunderte abgebildet waren: Galileo, Kopernikus, Marie Curie. Schulgerüchte besagten, dass das Geld für diese Wandmalerei ursprünglich für einen Swimmingpool vorgesehen war. Ich hätte es geliebt, jeden Tag schwimmen zu können, doch die Wandmalerei mochte ich lieber. Sie gab mir das Gefühl, Teil eines größeren Ganzen zu sein, einer langen, traditionsreichen Reihe von Erfindern, die das Wissen ihrer Vorgänger geerbt hatten.
»Willkommen im Alten Seemann, Miranda«, sagte Mom sanft, als sie einen Schalter betätigte, um die Deckenventilatoren anzustellen. Ihr Blick ruhte auf mir, und ich fragte mich, ob sie vielleicht ein wenig erstaunt war, mich dort stehen zu sehen – ihr neues Leben plötzlich in ihr altes eingefügt.
Und während ich auf einen Garderobenständer zuging, der wie ein Anker geformt war, überkam mich ein Gefühl des Erstaunens. War dies wirklich das Haus, in dem Mom geschlafen und gegessen hatte, als sie noch Amalia Blue Hawkins war und nicht meine Mutter? War meine heranwachsende Mom durch diese Vorhalle spaziert, hatten ihre Sandalen den auf den Fußboden gemalten, verblichenen grünen Kompass berührt?
Ich bekam eine Gänsehaut. Beschwor ich etwa Phantome herauf? Normalerweise ließ ich meiner Fantasie niemals so freien Lauf. Als Mom meinen Rücken berührte, fuhr ich erschrocken zusammen und sie fing an zu lachen. »Ach du meine Güte! Ich wollte dich nur fragen, ob frischer Fisch zum Abendessen genehm ist. Ich hab auf dem Markt Zackenbarsch bekommen und wollte ihn zusammen mit Maiskolben grillen.«
»Klingt hervorragend«, erwiderte ich wahrheitsgemäß; mir knurrte der Magen. Ich war erstaunt, dass Mom kochen wollte. Zu Hause holten wir das Essen meist von einem thailändischen Imbiss.
»Und in der Zwischenzeit mache ich uns etwas süßen Tee«, sagte Mom. »Ruh dich doch auf der hinteren Veranda ein bisschen aus und ich komme dann nach.«
Ich nickte. ›Süßer Tee‹ war Moms Bezeichnung für Eistee mit zwei gehäuften Löffeln Zucker, eins der wenigen Überbleibsel ihres alten Südstaatendialekts. Die meiste Zeit klang Mom wie eine waschechte Bewohnerin aus dem Nordosten; nach ihrer eigenen Aussage hatte sie ihren Georgia-Akzent abgeworfen, sobald sie als Studentin in Yale angekommen war, wo sie dann meinen Vater getroffen hatte.
Mom dirigierte mich ins Wohnzimmer, wo eine doppelte Terrassentür auf den Ozean hinauswies, und verschwand dann in Richtung Küche, die hinter der Treppe lag.
Ich trottete durchs Wohnzimmer, vorbei an antiken Sofas, deren Füllung auf der Rückseite herausquoll. Ich spürte, dass ich anfing, mich nach dem anstrengenden Tag zu entspannen. Ich trat auf den marmornen Kaminsims zu und betrachtete die beiden gerahmten Fotografien, die dort aufgestellt waren.
Das erste Bild zeigte eine Familie, die sich draußen vor dem Alten Seemann versammelt hatte: eine wohlproportionierte Frau mit braunem Haar (Isadora), ein distinguiert aussehender Mann mit Glatze (Jeremiah), zwei Mädchen und ein Junge. Mein Herz schlug schneller, als mir klar wurde, dass das jüngere Mädchen in gestärktem rosafarbenen Kleid, das einen Sonnenschirm über ihr leicht gebräuntes Gesicht hielt und finster dreinblickte, niemand anderer als Mom war. Was bedeutete, dass es sich bei dem anderen Mädchen, grinsend und mit gekräuseltem Haar, um Tante Carol, und bei dem Jungen, der mit schielenden Augen in die Kamera blickte, um Onkel Jim handelte.
Obwohl Mom und ich niemals nach Savannah fuhren, um sie zu treffen, hatten meine Tante und mein Onkel uns in New York besucht. Tante Carol mit ihrer platinblonden Bubikopffrisur und ihren tausend Kundenkarten hatte sich über die verschmutzte U-Bahn beschwert. Onkel Jim, eine exakte Kopie seines Vaters, wie ich jetzt sah, hatte sich über die schreckliche Qualität des ›Grits‹ beschwert – einer auf geriebenem Mais basierenden Speise, die besonders in den Südstaaten gegessen wird. Nachdem ihre Geschwister abgereist waren, hatte Mom sich über sie beschwert.
Als ich mich dem anderen Bild zuwandte, stockte mir der Atem. Es war ein Foto von Isadora, das wohl aufgenommen worden war, als sie kaum älter war als ich jetzt. Ich hatte noch nie ein Bild meiner Großmutter in so jungen Jahren gesehen. Auf den wenigen Fotos, die Mom von Isadora zu Hause hatte, war meine Großmutter mittleren Alters. Auf diesem Bild hatte sich die jugendliche Isadora auf einer Gartenschaukel zurückgelehnt, ihre koketten dunklen Augen funkelten unter dem Rand eines schleifenverzierten Huts hervor. Sie trug ein trägerloses pfirsichfarbenes Strandkleid, ihre pechschwarzen Locken fielen auf die wie Porzellan wirkenden Schultern herab, ihre rubinroten Lippen hatten sich zu einem Lächeln geöffnet.
Sie und Mom hatten nicht die geringste Ähnlichkeit miteinander.
»Du siehst aus wie sie.«
Ich wirbelte herum und sah Mom in der Türöffnung stehen; sie hielt ein silbernes Tablett mit zwei Gläsern und einem Krug Eistee in den Händen. Sie schenkte mir ein kleines Lächeln und deutete mit dem Kopf auf das Foto. »Findest du nicht?«
»Machst du Witze, Mom?« Leicht benommen schüttelte ich den Kopf. Ich hatte vielleicht Isadoras Haarfarbe geerbt, aber ihre Schönheitsgene hatten mich eindeutig übergangen, so wie ein Stein über das Wasser hüpft.
»Du hast noch ausreichend Gelegenheit, dir Isadoras Bild anzusehen, während du hier bist.« Mit diesen Worten schob Mom mich durch die Doppeltür auf die Veranda hinaus. Die kühler werdende Luft, den Geruch des Meeres mit sich tragend, glitt über uns. Ich ließ mich auf der gepolsterten Bank nieder und genoss die atemberaubende Aussicht. Schäumende Wellen rauschten gegen das Ufer und verscheuchten zwitschernde Strandläufer; das abgeschwächte Sonnenlicht verwandelte das Wasser in glitzernde Diamanten.
»In erster Linie hat sie den Alten Seemann zu einer Art Gedenkstätte ihrer selbst gemacht«, fuhr Mom fort, als sie den Krug anhob. Ein Wasserfall bernsteinfarbener Flüssigkeit ergoss sich zusammen mit einer Kaskade aus Zitronenscheiben und Minzblättern in mein Glas. »Gott, was war diese Frau für ein Monster«, schloss sie seufzend.
Ich schreckte zurück, während ich das Getränk entgegennahm. Mom hatte sich viele Jahre ganz ähnlich über Isadora geäußert, aber nun fühlte es sich nicht richtig an, schlecht über die Toten zu sprechen. Außerdem konnte ich mir die leuchtende Gestalt auf dem Foto nur schwer als Monster vorstellen.
Doch auf der anderen Seite – was wusste ich schon über meine Großmutter? Als ich aufwuchs, hatten Wade und ich gelegentlich Weihnachts- oder Geburtstagskarten von ihr erhalten, die sie in stilisierter, verschlungener Schrift mit Isadora Beauregard Hawkins unterschrieben hatte. Ich war immer leicht erstaunt gewesen, dass sie überhaupt von unserer Existenz Kenntnis hatte.
Während Mom sich neben mich setzte, blickte ich sie von der Seite an und fragte mich, wie sie wohl dahin gekommen war, so über ihre Mutter zu sprechen. Als Tante Carol uns vor einer Woche am Telefon von Isadoras Tod informiert hatte, war Moms Gesicht tränenüberströmt und mit einem Mal komplett von roten Flecken übersät gewesen. Ihr Anblick hatte mir einen Schock versetzt; Mom weinte niemals. Doch als ich sie über die Todesursache ausfragte – ich liebe Diagnosen –, war Mom wieder in ihren üblichen lakonischen Modus verfallen. Sie hatte sich die Nase geschnäuzt und geantwortet, dass der Umstand, achtzig Jahre alt zu sein und jeden Tag Pfirsichlikör zu trinken, offenbar zu Komplikationen geführt hatte, die Isadora den Rest gegeben hatten.
»Was ist los, mein Schatz?«, fragte Mom jetzt und riss mich aus meinen Gedanken. Sie goss sich Eistee in ihr Glas und sah mich mit zusammengezogenen Augenbrauen an. »Ich weiß, dass du immer sehr nachdenklich bist, aber in letzter Zeit scheinst du …« Sie hielt inne und biss sich auf die Lippe.
Ich erstarrte. Mom konnte kaum entgangen sein, dass ich mich im Laufe des letzten Monats von der Welt zurückgezogen hatte, so wie sich ein Einsiedlerkrebs im Sand einbuddelt.
Nach der Schule war ich meist zu meiner besten Freundin Linda Wu gegangen oder hatte Greg für ›Nachhilfestunden‹ bei uns zu Hause empfangen. Doch seit Mai war ich immer allein heim gekommen und hatte lange, entspannende Bäder genommen, bevor ich mich auf dem Sofa zusammengerollt und Discovery Channel geguckt hatte.
»Mir geht’s gut«, gab ich schnell zurück und nahm einen Schluck Eistee, doch mein Unbehagen ließ meine Wangen erröten. Ich wollte schon gerne mit Mom reden, ehrlich. Aber ich hatte ein bisschen Angst, dass ich, wenn ich erst mal zu reden anfinge, zusammenbrechen würde.
»Okay.« Mom betrachtete mich aufmerksam. »Aber hier kommen ein paar Neuigkeiten, die dich vielleicht aufmuntern: Morgen findet auf der Uferpromenade eine Party statt. Wir sollten hingehen.«
»Was für eine Party?«, fragte ich und kaute auf einem Blatt Pfefferminz herum. Mein Magen zog sich angesichts der Erinnerung an meine letzte Party zusammen.
»Sie nennt sich die Thronerben-Party«, erwiderte Mom und schluckte ihren Tee herunter.
»Tonerden?«, wiederholte ich und dachte an eine chemische Zusammensetzung. Doch dann stellte ich mir eine feierliche Zeremonie am Strand vor, mit flatternden Bannern und bauschigen Gewändern. Ich konnte mir meine Mutter – oder mich selbst – in keinster Weise bei so etwas vorstellen.
Mom neigte den Kopf und lächelte. »So wie Thron und Erben oder Erbinnen. Weißt du …« Wie um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, schüttelte sie ihr Handgelenk, was die Eiswürfel in ihrem Tee zum Klimpern brachte. »Die Nachfahren derjenigen, die seit Ewigkeiten ihre Sommer auf Selkie verbracht haben. Die Familie LeBlanc, eine der bekanntesten auf der Insel, hat diese Tradition Ende des neunzehnten Jahrhunderts eingeführt. In der letzten Juniwoche treffen sich alle Sommergäste und begießen ihren Wohlstand.« Mom verdrehte die Augen, doch die nostalgische Wehmut in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
»Dann sind wir eingeladen?«, fragte ich, leicht verblüfft angesichts des ganzen Pomps und der alten Traditionen. Ich war nicht völlig uninteressiert; nach dem letzten Monat war es vielleicht ganz nett, mal wieder ein paar Leuten zu begegnen. Nicht dass ich irgendwas Passendes zum Anziehen dabeigehabt hätte – abgesehen von meinen mitgebrachten T-Shirts und Jeans hatte ich nur eine einzige Baumwollbluse mit Kordelverschluss eingepackt, die ein Loch im Saum hatte.
»Als ich gestern Abend ankam, lag die Einladung im Briefkasten«, bestätigte Mom und schlug die Beine übereinander.
»Eigentlich für Isadora. Sie hat immer ganz automatisch eine Einladung bekommen.«
»Aber gehören wir denn hierher?«, fragte ich und trank meinen Tee aus.
»Das tun wir«, antwortete Mom ruhig und sah mich an. Mir wurde klar, dass sie schon viele Male auf dieser Party gewesen sein musste. »Ob es dir gefällt oder nicht, du bist eine Erbin, Miranda. Und ich ebenfalls.«
Meine Haut kribbelte und ich blickte wieder aufs Meer. Niemand von uns bittet je um die Dinge, die wir erben; sie werden uns aufgebürdet, wohl oder übel. So wie der Alte Seemann, das begriff ich plötzlich. Mom und ich befanden uns keineswegs auf fremdem Eigentum. Dieses Haus gehörte uns. Dieser Ausblick gehörte uns. Was mir genauso absurd und unwirklich vorkam wie das Seemannsgarn, das Matrosenmütze auf der Fähre für mich gesponnen hatte.