Ich wachte auf und war fest entschlossen.
Es war Freitag. Die Sonne drang durch die rosafarbenen Vorhänge und ich würde ohne Umwege direkt zum Research Center gehen und Leo treffen.
Ich musste nur warten, bis das Meereskundezentrum mittags aufmachte. Aber als ich auf meinen Wecker neben dem Bett sah, stellte ich fest, dass es halb eins war.
Abrupt setzte ich mich auf. Ich war überrascht: So lange hatte ich seit Gregs Schulabschlussparty im Mai nicht mehr geschlafen. Die Feuerwerke und meine Offenbarung der letzten Nacht hatten mich sichtlich geschlaucht.
Als ich nach dem Haarband an meinem Handgelenk fasste, berührte ich stattdessen das kühle Metall von CeeCees Armband. Richtig. Obwohl ich CeeCees Kleid noch ausgezogen hatte, bevor ich ins Bett gefallen war, hatte ich vergessen, den Schmuck abzunehmen. Jetzt wirkten die glänzenden Anhänger wie Mahnzeichen. Ich erinnerte mich, wie Bobbys Boot anscheinend eine halbe Ewigkeit über das Wasser gedümpelt war und wie dann, als wir schließlich angelegt hatten, alle entweder nackt im Wasser schwimmen oder in Bobbys Haus Bier trinken wollten. Ich hatte beides abgelehnt und mich fix von einem verwirrt dreinschauenden T. J., einer bestürzt wirkenden CeeCee, einer triumphierend lächelnden Virginia und den anderen verabschiedet, bevor ich zum Alten Seemann zurückgelaufen war.
Ich nahm das Armband ab, schlüpfte in meiner mit blauen Walen bedruckten Pyjamahose und dem weißen Tanktop aus dem Bett und lief in den Flur. Die typischen Geräusche von Moms lärmender Geschäftigkeit unten fehlten. Auf der anderen Straßenseite mähte irgendjemand den Rasen, doch im Alten Seemann war es ganz still.
Ich spähte über das Geländer in die leere Vorhalle nach unten. Mom war vielleicht losgegangen, um Erledigungen zu machen, doch meine Intuition führte mich zu ihrer Schlafzimmertür, die halb offen stand. Auf Zehenspitzen beugte ich mich vor, spähte mit angehaltenem Atem ins Zimmer und entdeckte meine Mutter schlafend in dem grünen Himmelbett. Mit ihrem über die Kissen gebreiteten Haar und ihren entspannten Zügen sah sie erstaunlich verletzlich und jung aus. Fast wie das kleine Mädchen auf dem Foto unten.
Leicht geschockt zog ich mich zurück. Wenn Verschlafen schon seltsam bei mir war, so war es bei Mom noch viel merkwürdiger. Ich hatte gestern Abend meinen Ersatzschlüssel benutzt, um ins Haus zu kommen, und war somit nicht sicher, um welche Zeit sie zurückgekommen war. Was hatte sie bloß gemacht?
Ich wollte nicht darüber nachdenken. Also stürzte ich ins Badezimmer, um mich zu waschen. Ich drehte den Wasserhahn auf – mittlerweile kam sauberes Wasser heraus – und erschrak beim Anblick in den goldgerahmten Spiegel. Meine Haare hatten sich durch den Schlaf verknotet und standen wild ab, mein Augen-Make-up war verschmiert und rauchgrau und meine Lippen leuchteten noch immer in munterem Rot. Ich schüttelte den Kopf; bevor ich mich im Meereskundezentrum sehen lassen konnte, wäre wohl eine Dusche nötig.
Aber was würde ich eigentlich zu Leo sagen, wenn ich ihn dort träfe? Während ich mir die Zähne putzte, stellte ich mir vor, wie er im Aquarienraum stand und Maurice, den Alligator, in der Hand hielt. Würde ich sagen, dass es mir wegen des Abends neulich leidtat? Dass ich nicht aufhören konnte, an ihn zu denken? Oder würde ich ihn einfach nur küssen? Mein Magen geriet in Aufruhr. Das wäre vielleicht nicht angemessen, wenn sich Kinder in der Nähe aufhielten. Aber vielleicht würde Leo mir ja auch klar machen, dass er gar kein Interesse mehr hatte, mich zu küssen? Angesichts unserer letzten Begegnung war dies durchaus möglich.
Voller Zweifel drehte ich das Wasser ab und griff nach einem Handtuch, als ich unten ein Klopfen hörte – offensichtlich stand ein Besucher vor der Tür. Mom hatte recht: Auf Selkie kamen die Leute ständig unangemeldet vorbei. Ich warf einen kritischen Blick in den Spiegel und kam zu dem Schluss, dass es wahrscheinlich bloß CeeCee war, die mich wegen meines komischen Verhaltens am Abend zuvor ins Kreuzverhör nehmen wollte. Hoffentlich waren es nicht T. J. oder Mr. Illingworth! Um auf der sicheren Seite zu sein, ging ich kurz in mein Zimmer und zog mir zumindest flauschige weiße Pantoffeln über die Füße.
Als ich die Treppe hinunterlief, klopfte es erneut. »Okay, okay«, rief ich lachend und schloss die Tür auf. »Nur eine Min…«
Und dann verlor ich die Fähigkeit zu sprechen.
»Hey«, sagte Leo.
Mein Herz schoss mir von der Brust in die Kehle.
Es schien mir völlig unmöglich, dass er wirklich gekommen war, dass er jetzt in einem T-Shirt, Shorts und Flip-Flops auf der Veranda des Alten Seemanns stand. Die nachmittägliche Brise blies ihm die goldenen Haare in die Stirn. Er hielt einen Strauß roter Rosen in der Hand.
»Es sind zwar keine Seefedern«, sagte er mit diesem schiefen Lächeln, das mich fast schmelzen ließ, »aber das Beste, was ich so kurzfristig beschaffen konnte.« Er hielt mir die Rosen hin, aber ich schien auch die Fähigkeit zur Bewegung verloren zu haben.
»Woher … woher wusstest du, dass ich hier wohne?«, fragte ich und war erleichtert, dass ich nicht auch noch mit Stummheit geschlagen war. Meine Beine fühlten sich an wie Pudding, und ich hielt mich am Türrahmen fest, als sei er ein rettendes Floß.
Leo legte den Kopf schief; seine hellen grünen Augen blickten mich an. »Du hast es mir erzählt, weißt du noch? Auf der Insel ist allgemein bekannt, wo sich der Alte Seemann befindet.« Er senkte den Kopf und sah mich mit leicht gerötetem Gesicht wieder an. »Ich wollte schon früher vorbeikommen, aber ich dachte, dass du mich vielleicht nicht sehen möchtest.«
»Ich wollte gerade losgehen, um dich zu treffen«, platzte ich heraus; mein Herz klopfte heftig. Obwohl ich mich riesig freute, ihn zu sehen, war ich ein wenig frustriert, dass Leo mir zuvorgekommen war. »Ich … ich meine, natürlich nicht so«, stammelte ich, deutete auf meine Pyjamahose und kämpfte gegen das Rotwerden an.
Leos Augen funkelten. »Ich mag deine Hose. Bist du gerade erst aufgewacht?«
»Nein«, log ich und versuchte beleidigt zu klingen, wenngleich ich ihn doch am liebsten sofort umarmt hätte. »Wieso arbeitest du nicht?«, konterte ich. Er hatte das LEO-M.-Schild an seinem T-Shirt festgemacht.
»Ich hab ’ne frühe Mittagspause eingelegt«, erwiderte er grinsend. Ich spürte dieselbe Energie wie schon zuvor zwischen uns knistern. Eigentlich fühlte es sich völlig verkehrt an, dass wir nicht dichter zusammenstanden und uns küssten.
Als ob er meine Gedanken gelesen hätte, trat Leo einen Schritt vor, berührte mich aber nicht. »Kann ich … reinkommen?«, fragte er zögernd.
Ich nickte, wurde wieder klar im Kopf und schob die Tür weiter auf. »Danke für die Rosen«, sagte ich und nahm schließlich den Blumenstrauß entgegen. Ich vergrub meine Nase in den taufeuchten, süß duftenden Blüten. Noch nie zuvor hatte ein Junge mir Blumen geschenkt. Vielleicht war es ja Leo und nicht T. J., der sich als der wahre Gentleman entpuppte.
Als Leo hereinkam, blickte er sich in der Vorhalle um, schien aber angesichts des Hauses nicht so überwältigt, wie T. J. es gewesen war. »Nett hier«, sagte er schlicht und lächelte mich an. Dann fiel sein Blick auf die rote Kapuzenjacke, die immer noch auf dem klauenbeinigen Stuhl lag. Mom hatte sie dort als stille Aufforderung, ich möge selbst aufräumen, liegengelassen.
»Oh«, sagte ich, schnappte mir das Sweatshirt und reichte es ihm. »Bist du deswegen gekommen?«
Leo schüttelte lächelnd den Kopf, nahm die Kapuzenjacke jedoch an und stopfte sie sich unter den Arm.
Besorgt blickte ich nach oben. Ich hoffte, dass Mom noch ein Weilchen weiterschlief; sie würde es sicher nicht begrüßen, einen fremden Jungen in unserem Haus anzutreffen. Flüsternd sagte ich Leo, dass er auf der hinteren Veranda auf mich warten sollte, und eilte in die Küche. Mit zitternden Fingern stellte ich Leos Rosen in eine Kristallvase und goss uns beiden etwas Eiswasser ein. Dann schlich ich mich durchs Wohnzimmer.
Auf der Veranda schloss ich die Terrassentüren hinter mir, setzte mich neben Leo auf die gepolsterte Bank und reichte ihm ein Glas Wasser. Wir saßen so dicht nebeneinander, dass ich seinen salzig-sandigen Duft einatmen konnte. Erst jetzt wurde mir vollends klar, wie sehr ich ihn vermisst hatte. Ich musste mich sehr zurückhalten, ihn nicht einfach zu berühren, widerstand diesem Drang jedoch. Noch immer wusste ich nicht, weshalb Leo gekommen war. War er hier, um alles wieder gutzumachen – oder um mir zu sagen, wieso es mit uns nicht funktionieren könnte?
»Wie geht’s denn Maurice?«, fragte ich und nahm einen Schluck Wasser.
Leos Augen waren voller Unruhe, als er sein Glas nahm. »So lala. Er fragt ständig nach diesem schlauen Mädchen mit den dunklen Haaren und den dunklen Augen. Kann dich anscheinend nicht vergessen.«
»Ich weiß, wie sich das anfühlt«, sagte ich leise und hielt das kühle Glas fest in den Händen.
Für einen langen Moment waren wir still, tranken unser Wasser und betrachteten die glänzende Sonne über dem Meer.
Dann fing Leo an zu sprechen, seine Stimme klang tief und gedankenvoll. »Komisch«, sagte er und stellte sein leeres Glas auf den Boden der Veranda. »Der Ausblick von unseren Häusern ist gar nicht so verschieden, oder? Wir schauen beide auf dasselbe Meer.«
Wie so oft schien eine versteckte Bedeutung hinter seinen Worten zu liegen. Beinahe so, als spräche er in Rätseln. Während ich ihn von der Seite ansah, spürte ich mein Herz fast zerspringen. Ich musste wieder an unsere Auseinandersetzung zurückdenken, als ich ihm gesagt hatte, ich würde einen Fehler machen. Ich wusste, dass ich jetzt etwas sagen musste, um die Dinge geradezurücken, ungeachtet dessen, was er auch erwidern mochte.
»Leo, es tut mir so leid …«, setzte ich an, doch er schüttelte den Kopf.
»Nein, mir tut es leid«, sagte er mit fester Stimme und sah mich an. Seine grünen Augen brannten förmlich. »Du hattest recht, Miranda. Wir sind einfach zu weit gegangen.«
»Aber ich war nicht fair zu dir«, erwiderte ich. Die Emotion in meiner Stimme klang mir fremd in den Ohren. »Ich glaube, ich bin in diesem Moment einfach ausgeflippt, weil ich, äh, dachte …« Ich hielt inne, war mir immer noch nicht sicher, ob oder wie ich meine verrückte Meermann-Theorie formulieren sollte. Abgesehen davon kam mir Leo, wie er jetzt so neben mir saß, völlig normal vor. So menschlich.
»Ich verstehe«, sagte Leo sanft. »Dir ist klar geworden, wie verschieden wir sind.«
»Aber das sind wir gar nicht!«, rief ich. Ich stellte ebenfalls mein Glas ab und legte dann, meinem Bedürfnis nachgebend, die Hand auf seinen warmen Arm. »Das hast du doch vor ein paar Sekunden selbst gesagt. Wir sehen die Welt auf die gleiche Weise. Wir lieben beide die Wissenschaften, und wir bringen uns gegenseitig zum Lachen, und …«
»Wir sind verschieden, Miranda«, unterbrach mich Leo wieder. Diesmal wirkten seine Augen etwas traurig. »Unsere Leben sind so verschieden, dass du es dir nicht mal vorstellen kannst.«
»Was meinst du damit?«, flüsterte ich. Mein Puls raste, als ich ihn ansah
»Nur dass …« Leo fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Wie immer, wenn er sich zu ärgern schien, bewegte sich der Muskel in seiner Wange. »Sieh mal, wir haben uns noch nicht mal richtig vorgestellt. Wir sind uns am Strand begegnet – dem großen Gleichmacher. Am Strand ist alles ganz einfach. Auf dem Rest der Insel haben die Unterschiede eine Bedeutung.«
»Okay.« Ich setzte mich ganz gerade auf, nahm meine Hand von seinem Arm und streckte sie, bereit für einen Handschlag, aus. »Dann stellen wir uns eben einander vor. Und fangen noch mal von vorn an.«
Ein Lächeln schlich sich auf Leos Gesicht. »In Ordnung«, sagte er und legte seine Hand in meine. Wie immer, wenn wir uns berührten, schien sich elektrischer Strom in mir auszubreiten. »Mein Name ist Leomaris Macleod und ich habe mein ganzes Leben auf Selkie Island gewohnt. Meine Familie ist hier seit Gründung des Orts ansässig. Ich gehe auf die High School in Fisherman’s Village. Ich stehe auf Wissenschaften, mag aber auch Bücher und Musik. Ich glaube, dass ich eines Tages einen Roman schreiben möchte.«
Als ich in Leos ernste, leuchtende Augen blickte, schnürte sich mir die Kehle zu. Er ist brillant, erkannte ich. Er verfügte über eine Brillanz, die Noten oder Testergebnisse überflüssig machte. Er war anders als jeder Junge, der mir bisher begegnet war.
»Jetzt bist du an der Reihe«, forderte Leo mich auf; sein Tonfall schwang zwischen spielerisch und ernst.
»Miranda Merchant«, sagte ich und schüttelte nachdrücklich seine Hand. »Ich bin aus New York, aber die Familie meiner Mutter kommt schon seit Ewigkeiten nach Selkie. Ich dachte, dass ich genau wüsste, was ich mit meinem Leben machen will.« Ich machte eine Pause und biss mir auf die Lippe. »Aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher.« Wieder hielt ich inne, sah Leo an und fragte mich, ob ich den Mut aufbrächte, das zu sagen, was mir auf der Zunge lag.
Und dann, ganz plötzlich, tat ich es.
»Mit Ausnahme von dir«, sagte ich. »Deiner bin ich mir sicher.«
Es gab einen gefährlichen, stillen Augenblick, in dem keiner atmete oder sprach und wir uns nur ansahen.
Dann rückte Leo näher und legte seine Hände um mein Gesicht. »Wäre es in Ordnung, wenn ich dich jetzt küsse?«, fragte er ruhig.
Ich grinste, fasste nach seinen Schultern und zog ihn an mich. Ich küsste ihn. Ich küsste ihn mit all der Leidenschaft, die ich weder bei Greg noch bei T. J. je verspürt hatte. Ich küsste ihn so, wie es ein braves Mädchen niemals gewagt hätte. Leo erwiderte meinen Kuss, hielt dann inne, hatte aber immer noch seine Hände um mein Gesicht gelegt. Ich schnappte nach Luft und war besorgt, dass er vielleicht immer noch sauer war.
»Da gibt es etwas, das ich dir erzählen möchte«, sagte er nüchtern.
Ich wurde ziemlich neugierig. Was würde Leo mir beichten?
»Es gibt keine anderen Mädchen«, sagte er. »Nicht in diesem Sommer. Wie sollte das möglich sein? Jede andere wäre völlig lächerlich. Unmöglich.«
»Oh!«, rief ich und spürte, dass ich lächeln musste. Ich befürchtete schon, dass mein erhitztes Gesicht seine Handflächen versengen könnte. In diesem Moment wurde mir klar, dass es Leo egal war, ob ich in einem Pyjama herumlief, ob ich mein Haar frisierte oder nicht, oder ob ich Makeup trug. Es war in seinen Augen deutlich zu erkennen. Er ließ mein Gesicht los, und wir verschränkten unsere Finger.
»Für mich gibt es auch niemand anderen«, sagte ich. »Ich meine, also, es gab da einen, für kurze Zeit, und alle fanden, dass ich mit ihm gehen sollte, aber …« Ich schüttelte den Kopf, als ich mir T. J. an dem Abend zuvor in Erinnerung rief. »Er war nicht der Richtige für mich.«
»Ich weiß.« Leo grinste teuflisch. »Adretter Junge mit glattem schwarzen Haar?«
Mein Magen schnürte sich zusammen. Irritiert runzelte ich die Stirn. »Warte mal … woher weißt du …«
Leo zuckte mit den Achseln. Sein Blick schien zu tanzen. »Ich kann sehen.«
Mein Herz setzte fast aus und ich verdrehte die Augen. Ich dachte an das goldene Scheibchen, das ich im Meer gesehen hatte, als ich auf Bobbys Boot war. »Du liebst es wohl, mysteriös zu klingen, oder?«
»Ich?«, neckte mich Leo. »Wie dem auch sei, ich glaube nicht, dass dieser Kerl eine ernsthafte Bedrohung war. Er ist überhaupt nicht dein Typ.«
Ich bemühte mich, ihm Verdruss vorzuspielen, konnte aber nicht aufhören zu lächeln. »Und, wer ist dann mein Typ?«
Leo grinste immer noch schelmisch. »Soll ich raten? Jemand … der fleißig ist?«
Ohne es zu wollen, musste ich an Greg denken – er war fleißig, das stimmte, aber er war auch nicht mein Typ gewesen. Mein Typ, wenn es so etwas überhaupt gab, saß direkt neben mir.
»Woran denkst du?«, fragte Leo und sah mich besorgt an.
Greg. Ich spürte, wie ich schlucken musste. Vielleicht hatte Mom in gewisser Weise recht gehabt, vielleicht hatten mich die Erlebnisse mit Greg weitaus mehr berührt, als ich mir selbst eingestehen wollte. Ich sah Leo an und versuchte zu entscheiden, ob ich bereit war, ihm zu gestehen, was schon so lange in mir gebrodelt hatte – seit Mai. Ich nahm einen tiefen Atemzug und spürte meine Nervosität.
»Leo«, sagte ich. Ich sprach leise, obwohl nur wir beide und das Meer anwesend waren. »Erinnerst du dich, als ich vor deinem Haus gesagt habe, dass alle Typen widerlich seien?« Er nickte, wurde ernst. »Damit meinte ich nicht dich«, sagte ich mit ruhiger Stimme. »Natürlich nicht. Ich … ich glaube, ich hab über jemand anderen gesprochen.«
»Über wen denn?«, fragte Leo und drückte meine Hand.
»Im letzten Schuljahr hatte ich … einen Freund.« Ich zögerte, doch Leo nickte bloß und ich fuhr fort. »Mein erster Freund überhaupt. Greg. Er war in der Oberstufe. Ich gebe anderen auf der Schule Nachhilfe in Physik, und er war einer meiner Schüler. Als wir anfingen, miteinander auszugehen, war es überhaupt nicht wie auf einer Achterbahn oder wie bei einem Feuerwerk. Es war nicht mal … ich weiß nicht … ein schwaches Flämmchen.« Leo kicherte, und ich spürte, wie meine Angst langsam nachließ. »Aber es war so … nett, mit jemandem zusammen zu sein, der mich küssen und Zeit mit mir verbringen wollte.« Ich wurde knallrot, musste aber fortfahren. Jetzt, wo ich bereit war, mein Geheimnis zu verraten, konnte mich nichts mehr stoppen. Als hätte man einen Wasserhahn aufgedreht. »Ich schätze, dass er an irgendeinem Punkt … du weißt schon … den nächsten Schritt machen wollte.« Ich räusperte mich. »Aber ich war noch nicht so weit.«
Leo nickte wieder und sah mich aufmerksam an.
»Wir haben uns ein bisschen deswegen gestritten.« In Gedanken kehrte ich in das letzte Schuljahr zurück, dachte an dieses unbehagliche Gefühl, das ich im Frühjahr bekommen hatte. »Ich wollte kein großes Drama daraus machen … wollte nicht so ein Mädchen sein, dass wegen eines Typen ausflippt.«
»Selbst wenn du es getan hättest, wärst du nicht diese Art von Mädchen«, warf Leo ein und hatte wieder sein schiefes Grinsen aufgesetzt.
Ich drückte seine Hand und erzählte weiter. »Dann gab es eines Abends im Mai Gregs Abschlussparty. Seine Eltern hatten ihm für das Wochenende die Wohnung überlassen. Im Laufe des Tages hatten wir eine kleine Meinungsverschiedenheit. Er hatte seine Physikprüfung nicht sonderlich gut bestanden und gab mir die Schuld daran.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich fragte ihn, wieso ihm das so wichtig sei, wo er doch ohnehin schon im College angenommen war. Aber offensichtlich ging es überhaupt nicht um die Prüfung. Das fand ich später heraus. Auf der Party gingen wir uns aus dem Weg. Greg hatte die halbe Oberstufe eingeladen – meine High School ist ziemlich groß – und dazu auch ein paar Freunde aus meiner Stufe. Einschließlich meiner besten Freundin Linda.«
»Oh«, machte Leo.
Ich nickte.
»Ich war in der Küche«, erzählte ich weiter und erinnerte mich an die ganzen Leute, den Geruch von Bier und Zigaretten, den hämmernden Beat des Hip-Hops aus dem Wohnzimmer. »Irgendwer brauchte Hilfe, um die Coronas aufzukriegen, und Linda konnte Bierflaschen sehr gut öffnen; das war irgendwie ihr Ding. Sie war immer viel cooler und selbstbewusster als ich, mit ihren roten Haarsträhnchen und dem Eyeliner.« Ich spürte, wie sich ein Kloß in meinem Hals bildete – ganz klein und unauffällig. Kleiner als eine Schwimmgarnele. »Ich sagte, ich würde losgehen und Linda suchen. Als ich den Flur entlang in Richtung der Schlafzimmer lief, fiel mir auf, dass ich auch Greg schon eine Weile nicht gesehen hatte. Und obwohl ich immer ziemlich gut in Mathe war, hab ich da einfach nicht zwei und zwei zusammenzählen können.«
»Wieso hättest du auch?«, bestätigte Leo stirnrunzelnd.
Ich erinnerte mich, wie ich die Tür zu Gregs Zimmer mit den Schachbrettern und den Yankee-Postern geöffnet hatte, und ich erinnerte mich an das Bett. Das Bett, auf dem Greg gesagt hatte: »Na, komm schon, warum ziehst du nicht einfach deine Socken aus?« Eine Frage, in der eine andere mitschwang: Warum ich nicht einfach mit ihm schlafen wollte?
»Ich bin noch nicht dazu bereit«, hatte ich geantwortet.
Dann hatte Greg ein Mädchen gefunden, das bereit war.
Ich erinnerte mich, wie sich Eiseskälte in meinen Eingeweiden ausgebreitet hatte, als die Tür aufging. Jetzt spürte ich sie wieder, diese stechende Kälte. Als ob ich in einen eisigen Swimmingpool getaucht wäre.
»Ich hab Linda in Gregs Zimmer gefunden«, erzählte ich Leo. »Sie war mit Greg zusammen.« Ich schluckte und versuchte, den anwachsenden Kloß in meinem Hals zu unterdrücken.
Leo nickte und runzelte die Stirn. »Haben sie …?«
»Nicht ganz, aber sie waren kurz davor«, sagte ich. Mir wurde warm im Gesicht. »Ich hab’s nicht mal richtig gesehen. Sie lagen auf seinem Bett und hatten definitiv nicht mehr alle Klamotten an. Aber ich musste gar nicht mehr als das sehen. Ich hatte den Kern der Sache begriffen, verstehst du?« Ich hörte meine Stimme krächzen.
»Was hast du dann getan?«, fragte Leo und lehnte sich an mich.
»Ich sagte, es täte mir leid, sie zu stören. Dann hab ich mich umgedreht und bin weggegangen. Oder eigentlich weggerannt – ich glaube, ich schaffe es immer ganz gut, vor schwierigen Dingen wegzulaufen. Greg holte mich ein, bevor ich die Wohnung verlassen konnte. Er entschuldigte sich und hoffte, dass ich ihn jetzt nicht hassen würde. Ich glaube, er hat gedacht, dass ich anfangen würde zu heulen …« Bei diesem unseligen Wort versagte mir wieder die Stimme. »… und hysterisch werden würde, aber das ist nicht meine Art. Ich sagte ihm, ich würde verstehen, und dass ich hoffte, die beiden wären zusammen glücklich.«
Jetzt bahnten sich die Tränen ihren Weg, kamen genauso zwingend wie die Strömung.
»Miranda …« Leo streckte seine andere Hand aus, um mein Gesicht zu berühren, doch ich sah auf den Boden hinunter.
»Und ich habe nicht geweint, auch nicht, als ich mit dem Fahrstuhl nach unten gefahren und dann zur U-Bahn gelaufen bin. Ich hab nicht auf dem Heimweg geweint und nicht, als ich zu Hause ankam und meiner Mutter erklärte, ich hätte die Party wegen Magenschmerzen früher verlassen. Ich habe nicht geweint, als Linda mich auf meinem Handy anrief, und auch nicht, als sie schließlich heulte und mich bat, ihr zu vergeben.«
»Was hast du zu ihr gesagt?«, fragte Leo behutsam. Ich hätte ihm gerne dafür gedankt, dass er so ein guter Zuhörer war – ich wusste gar nicht, dass Jungs so aufmerksam zuhören konnten –, aber ich hatte noch immer Angst, ihn anzublicken.
»Ich sagte zu ihr, dass ich mir wie eine Idiotin vorkäme«, antwortete ich, während die erste Träne an meinem Gesicht hinunterlief. Die ganze Scham, der Schmerz und die Wut, die ich hinuntergestopft hatte, brachen an die Oberfläche. »Ich sagte zu ihr, dass ich wütend auf mich selbst sei, weil ich ihr vertraut hatte, weil ich an so alberne Dinge wie Freundschaft und Loyalität geglaubt hatte. Und ich sagte ihr, dass ich nie wieder mit ihr sprechen wollte.« Vergebens wischte ich mir über die tränenden Augen und zog die Nase hoch.
»Und das hast du auch nicht?«, wollte Leo wissen.
Ich schüttelte den Kopf, spürte, wie mir die Tränen über die Wange liefen und auf meinen Lippen landeten; sie schmeckten salzig wie Meerwasser. »An folgenden Montag in der Schule bin ich nicht nur Greg und Linda aus dem Weg gegangen, sondern allen unseren Freunden. Ich hab mich total verschlossen. Ich hatte furchtbare Angst zu zeigen, wie verletzt ich war.« Ich erinnerte mich wieder an die Kälte und die Einsamkeit jener Wochen. Wie ich durch die Gänge gelaufen war, die Bücher an meine Brust gedrückt, und die Blicke der Leute vermieden hatte. Die stumme, wortlose Miranda.
»Und weißt du was?«, sagte ich und blickte schließlich auf.
Leo zog die Augenbrauen hoch, seine schönen Augen waren voller Mitgefühl.
»Ich habe die ganze Zeit nicht geweint.«
Dann geschah das Unmögliche. Mit zitternden Schultern fing ich richtig an zu weinen. Ich weinte, als ob ich all diese heruntergeschluckten Schluchzer nachholen müsste. Ich weinte wegen all der Nächte, in denen ich mich beherrscht und meinen Geist gezwungen hatte, an etwas anderes zu denken. Und so sehr ich es auch verabscheute, vor anderen Leuten die Kontrolle zu verlieren, so wusste ich doch, dass ich bei Leo weinen könnte. Er würde mich nicht verurteilen oder anders von mir denken.
Daher wehrte ich mich nicht, als er mich dicht an sich heranzog und festhielt. »Ist schon gut.« Seine Stimme war sanft und seine Lippen berührten mein Haar. »Alles wird gut.«
»Ich mache dein T-Shirt ganz nass«, schluchzte ich und zog meinen Kopf ein Stück herum, damit sich meine Wange nicht gegen sein Leo-M.-Schild drückte.
»Pssss«, sagte er mit einem kleinen Lachen und hielt mich noch fester.
Ich war nicht sicher, wie lange wir so dasaßen, Leos Arm um mich gelegt und ich heulend an seiner breiten Brust. Doch nach und nach wurden meine Schluchzer schwächer und kamen in größeren Abständen, und meine Augen fühlten sich langsam trockener an.
Als der Sturm vorübergezogen war, löste ich mich aus Leos Umarmung.
»Besser?«, fragte er.
»Besser«, gab ich zurück und tupfte mit dem Handrücken über meine Augen. Ich fühlte mich völlig ausgelaugt von dieser Heulattacke, aber irgendwie auch erleichtert. Frei.
»Weißt du«, sagte Leo ruhig und streckte die Hand aus, um mein Gesicht zu streicheln, »es ist völlig in Ordnung, Gefühle zuzulassen. Auch wenn sie manchmal ganz schön erschreckend sein können.«
Ich nickte und lächelte ihn dankbar an. »Ich schätze, ich lerne das gerade.« Ich nahm seine Hand und hielt sie an meine Wange. »Ich hätte nicht gedacht, dass ich diese Geschichte mal jemandem erzähle. Aber ich bin froh, dass ich sie dir erzählt habe.«
»Das bin ich auch«, erwiderte Leo. »Es tut mir so leid, was dir passiert ist. Dieser Typ – Greg – hat dich nicht ansatzweise verdient.« Leo lächelte mich an und seine Grübchen tauchten auf. »Miranda, dir sollte klar sein, dass dich nicht jeder verletzen wird. Ich meine, hoffentlich kannst du anderen Leuten noch immer … vertrauen.«
Mein Herz schien zu bersten. »Ich vertraue dir«, sagte ich und meinte es auch so. »Ich vertraue dir.« Auch wenn ich dich nicht ganz verstehe.
Leo beugte sich vor und küsste mich. Einmal, zweimal, sein Mund war warm und einladend. Wir legten die Arme umeinander und vertieften unseren Kuss.
»Was ist denn hier los?«
Moms Stimme schnitt durch die Luft. Erschrocken ließ ich Leo los, drehte mich um und sah Mom in der Terrassentür stehen. Sie trug einen Bademantel, ihr Ausdruck war streng.
»Ich dachte, du schläfst«, japste ich.
Mom verschränkte die Arme vor der Brust. »Das kann ich sehen«, sagte sie kurz angebunden und warf Leo einen unmissverständlichen Blick zu.
»Mom!« Ich wischte mir die letzten Tränen von der Wange. »Wir haben bloß …«
Leo erhob sich, sein Gesicht war rot angelaufen. Er streckte seine Hand aus, wollte offenbar eine andere Art von Vorstellung einleiten, als es bei uns der Fall gewesen war.
»Hallo, Ma’am. Leo Macleod. Ich bin ein Freund von Miranda. Tut mir leid, dass …«
Mom ignorierte seine Hand. Stattdessen musterte sie Leo von oben bis unten. Ihre Missbilligung hätte deutlicher nicht ausfallen können. »Ich glaube, wir sind uns schon begegnet. Am Siren Beach?«
»Das stimmt!«, rief Leo und versuchte weiterhin, positiv zu klingen. Ich verschränkte die Hände ineinander und hatte das Gefühl, mich gleich übergeben zu müssen.
»Leo ist bloß vorbeigekommen, um, äh … sein Sweatshirt zu holen«, improvisierte ich und stand ebenfalls auf. In der gleichen Sekunde wurde mir klar, dass ich eben meine Lüge von neulich abends aufgedeckt hatte. Mom sah mich durchdringend an.
»Ich sollte jetzt mal zurück zur Arbeit gehen«, sagte Leo und ging mit seinem Sweatshirt unter dem Arm rückwärts auf die Verandastufen zu.
»Ein kluger Einfall«, erwiderte Mom und brachte Leo dazu, seinen Blick abzuwenden.
»Leo arbeitet im Meereskundezentrum«, erklärte ich Mom, als ob das die Wogen glätten könnte.
»Alles in Ordnung?«, fragte mich Leo, während er rückwärts die Stufen hinunterlief. Ich wusste, dass er gern zu mir gekommen wäre und mich geküsst hätte, doch so dumm war er nicht.
Ich nickte und lief ihm dann, kurzentschlossen und meine Mutter nicht weiter zu beachtend, über die Stufen hinterher und nahm seine Hand.
»Miranda!«, blaffte Mom.
»Wir sehen uns«, flüsterte ich. »Sobald ich kann.« Er musste einfach wissen, dass ich mich von Mom nicht aufhalten ließ.
Leo nickte. »Der Strand«, gab er flüsternd zurück. »Heute Abend. Ich gehe mit meinem Vater am Wochenende auf Fischfang, also …«
»Heute Abend«, versicherte ich. Ich würde es möglich machen. »Um welche Zeit?«
»Zu jeder Zeit«, erwiderte Leo lächelnd.
Das war zuviel. Ich konnte mein Staunen kaum unterdrücken. »Wie soll das gehen?!«, flüsterte ich. »Wie willst du wissen, dass ich da bin?«
»Ich weiß es einfach«, sagte Leo und hielt meinem Blick stand. Ich wusste nicht, ob er es ernst meinte oder einen Witz machte. Doch bevor ich ihn fragen konnte, berührte er kurz meine Wange, sah zu Mom hinüber und war verschwunden.
Ich dachte, ich müsste platzen. Wenn ich Leo doch bloß gesagt hätte, was ich mir vorstellte – Meermann, sagte ich wieder zu mir selbst. Obwohl ich wusste, dass sich alles nur in meinem Kopf abspielte, wollte ich doch eine Erklärung.
Doch jetzt musste ich mich einem größeren Problem stellen. Meiner Mutter.
Seufzend drehte ich mich um und stieg die Verandastufen hoch. Mom beobachtete mich, während ich die leeren Wassergläser einsammelte, dann ins Haus trat und dabei die Terrassentüren offen ließ. Der Wind blies herein, als wir uns gegenüberstanden.
»Lass mich raten«, sagte sie eisig. »Er hat dich neulich abends nach Fisherman’s Village begleitet?« Jedes ihrer Worte war von Geringschätzung untermalt.
Ich nickte und hielt die Gläser so fest, dass ich schon glaubte, sie würden zerbrechen. Ich blickte auf meine flauschigen Pantoffeln hinunter, die sich unpassend fröhlich von dem dunklen Holzfußboden abhoben. Ob Mom an meinem Gesicht erkennen konnte, dass ich geweint hatte?
»Miranda«, sagte Mom und ihre Stimme klang plötzlich sanft. Ihr Südstaatenakzent war während der letzten Tage immer stärker hervorgetreten. Hoffnungsvoll sah ich sie an. »Sag mir«, fuhr sie fort, wobei sich ihre Stirn in Falten legte, »was machst du mit so einem Jungen?«
Unvermittelt kochte heißer Zorn in mir hoch und drängte meine vorherige Traurigkeit in den Hintergrund. Ich war sicher, dass meine Augen Feuer sprühten, während ich meine Mutter anstarrte. »Ich kann es nicht glauben«, sagte ich. So hatte ich noch nie mit meiner Mutter gesprochen, war aber entschieden, kein Feigling zu sein. »Du bist genau wie all die anderen – wie Delilah und T. J. und diese ganzen Sommergäste, von denen du gesagt hast, du wolltest nichts mit ihnen zu tun haben. Du hast mir nie beigebracht, über solche Dinge wie Klassenunterschiede, Geld oder Status nachzudenken. Du hast dir nie Gedanken gemacht, wer oder was passend für mich wäre. Und jetzt denkst du an nichts anderes mehr.« Zitternd atmete ich aus.
Mom kniff die Augen zusammen, offensichtlich überrascht angesichts meiner Schimpftirade. »Ich will nur das Beste für dich, Miranda«, erwiderte sie. »Sieh mal, deine Aussichten mit diesem Jungen sind unmöglich. Denk doch mal logisch. Wir fahren hier Sonntagmorgen wieder …«
»Wirklich?«, fragte ich wie betäubt. Ich hatte jedes Zeitgefühl völlig verloren. Es war der fünfte Juli, das wusste ich, aber … »Diesen Sonntag?«
Mom nickte, und ich spürte, wie sich mein Magen verkrampfte. Ich wusste natürlich, dass unsere Abreise bevorstand. Aber Mom hatte in den letzten Tagen nichts davon gesagt. Wir mussten noch so viel Sachen im Haus aufräumen … und …
Und Leo. Leo.
»Haben wir etwa schon den Alten Seemann verkauft?«, rief ich verwirrt. »Ich dachte, wir würden nicht eher abreisen, bis wir einen Käufer gefunden hätten und…«
»Ich hab einen Job, Miranda«, sagte Mom mit fester Stimme. »Weißt du eigentlich, wie viel Operationen ich weniger fähigen Kollegen überlassen musste?«
»Nein«, antwortete ich und überlegte, wie wohl Moms Kollegen reagieren würden, wenn sie gesehen hätten, wie sie heute Morgen verschlafen hatte.
»Und du hast dein Praktikum«, ermahnte mich Mom. »Du wusstest doch, dass wir nicht den ganzen Sommer auf Selkie verbringen würden.« Ich kniff die Augen zusammen und versuchte zu erkennen, ob sie sich auf unsere Abreise freute oder es bedauerte, dass wir fahren mussten; ihr Gesicht verriet nichts. »Dieser Leo …«, fuhr Mom fort, und mein Herz machte einen Satz. »Seine Welt ist hier. Aber so jemand wie T. J., jemand, mit dem du ganz andere Verbindungen …«
»Mom, ich will nicht mit T. J. zusammen sein!«, platzte ich heraus. Ich war von den Neuigkeiten viel zu aufgeregt, als dass ich meine Stimme hätte mäßigen können. »Wir haben nichts gemeinsam, nichts Echtes, aber egal. Mit ihm zusammen zu sein wäre außerdem völlig …« Ich dachte an das Wort, das Jacqueline auf der Erben-Party benutzt hatte. »Inzestuös.«
Mom zog brüskiert ihre Augenbrauen hoch. »Du und T. J., ihr seid nicht verwandt«, sagte sie steif. »Falls du das andeuten wolltest.«
Mir drehte sich der Magen um. »Nein … das habe ich nicht gemeint«, sagte ich schaudernd. »Aber ich verstehe nicht, was so falsch daran ist, jemanden zu mögen, der anders ist. Liegt das nicht in der Natur des Menschen? Ist es nicht deswegen, dass die Gattung überlebt?« Ich blickte Mom an, in der Hoffnung, dass der wissenschaftlich orientierte Teil ihres Gehirns mir folgte.
»Sieh mal«, erwiderte sie seufzend. »Es liegt auch in der Natur des Menschen, es nicht gern zu sehen, wenn die Tochter im eigenen Haus mit einem Fremden herumknutscht.«
Ich wurde wieder rot, wandte den Blick von ihr ab und sah zu den Fotos auf dem Kaminsims. Es war komisch, dass Mom sie noch nicht weggepackt hatte.
»Tut mir leid«, murmelte ich und sah wieder zu ihr. »Ich dachte bloß … auf einer bestimmten Ebene hatte ich gehofft, du wärest froh darüber, dass ein Junge, der mir gefällt, mich ebenfalls mag. Du hattest recht – ich war in letzter Zeit ziemlich einsam.« Ich atmete tief durch. Nachdem ich nun Leo mein Geheimnis verraten hatte, fühlte es sich nicht mehr so dunkel und schwer an. »Und das wegen Greg. Weil Greg … weil er mit Linda zusammen ist.«
Mom öffnete ungläubig den Mund. Ein gewisses Triumphgefühl überkam mich, nachdem es mir nun anscheinend gelungen war, sie zu schockieren. »Linda Wu?«, fragte sie. »Deine Linda?«
»Tja, das war sie früher mal«, erwiderte ich und war erleichtert, dass ich jetzt darüber lächeln konnte.
»Das ist ja schrecklich«, flüsterte Mom und runzelte die Stirn. »Warum hast du mir das nicht viel früher erzählt?«
Mit ausgestreckten Armen kam sie auf mich zu, aber ich wich ihr aus. »Ich erzähl’s dir ja jetzt«, sagte ich ruhig.
»Mein Gott«, murmelte Mom und schüttelte den Kopf. »Linda! Und Greg … er schien immer so ein netter Typ zu sein.«
»Ich weiß«, sagte ich. »Siehst du? Du hast ihn gebilligt, aber er war gar nicht so nett. Mom, Leo ist wirklich in Ordnung. Ich weiß es. Kannst du dich nicht für mich freuen?«
Zu meiner Überraschung blickte Mom ebenfalls zu den Fotos auf dem Kaminsims. Sie hatte Flecken auf dem Gesicht und einen merkwürdigen Ausdruck in den Augen – Bedauern vermischt mit Erkenntnis.
»Mom?«, fragte ich vorsichtig.
»Tut mir leid, ich habe plötzlich Kopfschmerzen.« Sie massierte sich die Schläfen. »Ich gehe nach oben und lege mich etwas hin.« Dann kam sie zu mir und drückte meinen Arm. »Miranda, ich wollte nicht gefühllos sein. Wenn du irgendwann länger über die Sache mit Greg reden möchtest, dann weißt du, dass ich für dich da bin.«
Ich nickte, hatte aber im Augenblick das Gefühl, über gar nichts mit meiner Mutter reden zu können. Ich war ziemlich entmutigt. Als Mom mir gestern den Ersatzschlüssel gegeben hatte, war ich davon ausgegangen, dass wir unsere Meinungsverschiedenheiten beigelegt hatten und uns wieder auf friedlichem Boden befanden. Jetzt schien es, als wäre alles wieder zerbrochen.
Bevor Mom das Wohnzimmer verließ, sah sie mich an und sagte: »Ich gehe davon aus, dass heute keine weiteren Fremden zu Besuch kommen und du auch keine Ausflüge nach Fisherman’s Village machst?« Ich bemerkte, dass sie versuchte, leichthin zu klingen, doch der Ton ihrer Stimme war bestimmt.
Da sie nichts von Siren Beach gesagt hatte, fühlte ich mich in der Lage zu nicken.
Während Mom nach oben ging, stellte ich die Wassergläser ins Abwaschbecken und berührte flüchtig Leos Rosen. Ich war rastlos und nervös, fast so wie am ersten Abend im Alten Seemann, nachdem ich schwimmen gegangen war. Genau wie an jenem Abend ertappte ich mich selbst dabei, wie ich durch den Flur lief und an der Treppe und am Bild des Seemanns vorkam. An der Türschwelle zum Arbeitszimmer blieb ich stehen. Ich war seit meinem Kuss mit T. J. nicht mehr hier gewesen und überrascht, dass Mom in der Zwischenzeit nicht noch weitere Bücher eingepackt hatte. Wir waren überhaupt noch nicht für die Abreise bereit!
Während meine Gedanken von Mom zu Leo wanderten, betrat ich das Zimmer. Zumindest würde ich Leo heute Abend sehen und könnte ihm mitteilen, dass ich abreiste. Doch ich konnte nicht aufhören, an Leos Abschiedsworte oder die Tatsache zu denken, dass es ihm möglich gewesen war, mich und T. J. von einem bisher unbekannten Ort zu beobachten. Ich konnte meinen größer werdenden Verdacht nicht abschütteln. Ein Verdacht, der genauso verrückt wie unmöglich schien.
Wie jeder andere gute Schüler wusste ich, dass die Antworten auf die meisten Fragen in einem Buch gefunden werden konnten. Und es wurde langsam klar, dass meine Fragen bezüglich Leo nur von einem Buch beantwortet werden konnten. Daher trat ich auf das Regal zu, in dem Eine Einführung in die Legenden und Überlieferungen von Selkie Island stand. Ja, das Buch war, wie Virginia gesagt hatte, nicht mehr als eine Sammlung von Geschichten, die von Aberglaube durchtränkt waren. Doch dieser Aberglaube hatte sich in meinem Kopf festgesetzt, und ich hoffte ihn vielleicht bannen zu können, wenn ich zu seiner Quelle zurückkehrte.
Ich nahm das Buch vom Regal und machte es mir auf dem Stuhl mit der hohen Rückenlehne bequem. Ich achtete darauf, nicht zu viele Seiten herausfallen zu lassen, während ich bis zum richtigen Kapitel vorblätterte. Dann legte ich mir das Buch auf die Knie und fing an zu lesen.
Die Meerwesen von Selkie können für gewöhnlich an ein paar zentralen Merkmalen erkannt werden: eine üppige, sinnliche Schönheit; eine Vorliebe für die Farben Rot und Gold; Freundlichkeit gegenüber Besuchern und Forschern; Häuser nahe dem Strand. Manchmal sind sie des Nachts erkennbar, wenn sie sich zum Schwimmen in die Gewässer vor Siren Beach begeben.
Die Meerjungfrauen und Meermänner der Insel passen sich ihrer Nachbarschaft nahtlos an. Gleichwohl schmücken oftmals bestimmte maritime Kennzeichen ihre Behausungen.
Man geht im Allgemeinen davon aus, dass sich die Meerwesen von Selkie trotz ihres gemeinsamen Vorfahren, Captain William McCloud, auf zwei verschiedene Familienzweige verteilt haben. Ein Zweig trägt häufig den Familiennamen William oder Williams, während der andere Teil der Familie Variationen des Namens McCloud verwendet.
Als ob ich mich verbrüht hätte, riss ich meine Hand vom Buch weg. Gänsehaut hatte sich auf meinen Armen und Beinen ausgebreitet. Ich hörte das Blut in meinen Ohren rauschen.
Leomaris Macleod. Macleod klang wie eine Variation von McCloud, oder etwa nicht? Mein Herz klopfte wie wild. Da gab es seine großartige, sinnliche Schönheit. Seine nächtlichen Schwimmtouren. Die felsige Grotte, wo er anscheinend immer eine Badehose aufbewahrte, um sich schnell umziehen zu können.
Es passte alles zusammen. Es passte alles zusammen. Wie Teile eines Puzzles, die sich zusammenfügen.
Denk wissenschaftlich, befahl ich mir selbst und zitterte dabei. Denk an die Seekühe, die Matrosen mit einer Meerjungfrau verwechselten. Denk an die Evolution, die Reproduktion und das System der chemischen Bestandteile, aus denen der menschliche Körper besteht.
Dann wurde mir etwas klar. Etwas so Offensichtliches, dass ich unmittelbar erleichtert war. Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück und wollte anfangen zu lachen. Ich hatte vielleicht Die Kleine Meerjungfrau nicht gesehen, aber osmotisch so viel von der Popkultur aufgenommen, dass ich wusste, dass Leo kein Meermann sein konnte. Natürlich nicht! Leo war mit mir im Wasser gewesen. Wir waren zwar nicht schwimmen gegangen, aber auf dem Strandspaziergang und später im Regen waren seine Füße nass geworden. Wuchsen Meermännern und Meerjungfrauen nicht genau in dem Augenblick Fischschwänze, in dem das Wasser sie berührte?!
Ich blätterte eine oder zwei Seiten zurück, da ich mich an ein winziges Detail erinnerte, das ich beim letzten Mal gelesen hatte. Es handelte von den Nachkommen der Caya, die vollkommen in das Wasser eintauchen mussten, um sich zu verwandeln. Doch dann schlug ich das Buch zu. Ich weigerte mich einfach, diesen Pfad weiter zu verfolgen. Vergiss es! Ich legte das Buch neben das rechteckige schwarze Kästchen auf den Schreibtisch.
Sämtliche Puzzleteile waren reiner Zufall. Die Bewohner von Fisherman’s Village hatten wahrscheinlich entschieden, dass die Farben Rot und Gold gut zusammenpassten, und Llewellyn Thorpe hatte diesen Leckerbissen einfach in seine kunstvolle Prosa eingebaut. Genau so verhielt es sich mit den Nachnamen, die wahrscheinlich bloß häufig auf der Insel vorkamen. Mein erster Eindruck auf der Fähre war korrekt gewesen: Die Legenden von Selkie waren genau das – Legenden eben.
Doch immer noch fühlte ich mich unsicher und wusste, dass es nur einen Weg gab, um mich ein für alle Mal zu überzeugen. Dieser Weg hatte mit dem simpelsten Prinzip der Wissenschaft zu tun: dem Experiment. Man konnte bis in alle Ewigkeit etwas nachlesen oder über etwas nachdenken, doch nichts kam einer Erfahrung aus erster Hand gleich.
Fest entschlossen stand ich auf. Heute Abend würde ich beweisen, dass der Junge, den ich wahnsinnig gern hatte – der Junge, der mich außerdem fast in den Wahnsinn getrieben hatte –, kein Meermann war.
Ich würde Leomaris Macleod dazu bringen, mit mir schwimmen zu gehen.