Neuanfang
Veronika Bicker
»Was tust du?«
Cassie schreckte auf und wirbelte herum.
Max stand hinter ihr, den Kopf schief gelegt, und sah sie aus großen Augen an. Der Regen hatte sein dunkles Haar eng an den Schädel geklebt und Wasser rann ihm wie Tränen die Wangen hinunter. Natürlich hatte er seine Kapuze nicht aufgesetzt.
Trotz seiner vierzehn Jahre wirkte er so kindlich, dass Cassie das Herz wehtat.
»Nichts«, antwortete sie nach kurzem Zögern. »Ich sehe mir nur den Fluss an.«
»Es regnet«, erwiderte er und trat neben sie, um ebenfalls den Hang hinunter auf die Wasseroberfläche zu sehen. Das Wasser, das dort vorbeistrudelte, war dunkelbraun und schlammig vom tagelangen Regen. Alles Mögliche trieb darin: Äste, Kinderspielzeug, ab und zu ein totes Tier.
Wieder wurde Cassies Blick gegen ihren Willen von der Wasseroberfläche gefangen genommen. Sie beobachtete, wie eine tote Möwe langsam an ihnen vorbeitrieb, ein kleines grau-weißes Etwas in all dem Braun. Cassie konnte ihre Augen nicht sehen, auch wenn sie gerne gewusst hätte, wie sie aussahen.
»Warum siehst du dir den Fluss an?«, wollte Max wissen. Seine Hand stahl sich beinahe unbemerkt in ihre. »Ich dachte, du wolltest nach etwas zu Essen suchen. Du hast es uns versprochen.«
Cassie drückte sanft seine Finger und wandte sich ihm zu. Sie zwang ein Lächeln auf ihre Lippen.
Ich sehe mir den Fluss an, weil er ... anders ist als sonst, wollte sie sagen, doch selbst in ihren eigenen Ohren hörte sich das seltsam an, als wäre sie nicht ganz richtig im Kopf.
Ich sehe mir den Fluss an, weil er den Tod bringt – nein, das waren ganz sicher auch nicht die richtigen Worte, um einen etwas zurückgebliebenen Vierzehnjährigen zu beruhigen.
»Ich dachte, vielleicht finde ich hier etwas zu Essen«, erwiderte sie stattdessen. »Du weißt schon, Fische und so etwas.«
»Du hast aber doch gar keine Angel. Mein Pa hat immer geangelt, aber er hatte eine große Ausrüstung. Mit einem Kasten für Köder und einem anderen mit so falschen Insekten und Rollen und so etwas.« Er musterte Cassie. »Du hast nicht einmal einen Stock mit Schnur.«
»Du hast ja so recht«, erwiderte Cassie. »Ich bin heute ein bisschen dumm, tut mir leid. Wie wäre es, wenn du zu den anderen zurückgehst, und ich suche wirklich etwas zu essen.«
Max zögerte. Er warf einen Blick zurück über seine Schulter, wo durch den schleierartigen Regen eben noch die Silhouette der halbverfallenen Scheune zu erkennen war. Cassie merkte, dass der Junge Angst hatte. Er war allein hierhergekommen, aber nur, weil er vermutlich auf ihren Schutz gezählt hatte, wenn er einmal da war. Jetzt sollte er zurück durch die Dunkelheit und den Regen, nur um dort eine Handvoll Kinder zu treffen, die noch viel mehr Angst hatten als er selbst.
In der Ferne grollte Donner und Max zuckte zusammen.
»Die anderen brauchen dich«, sagte Cassie aufmunternd. »Sie sind noch so klein. Du musst ihnen Mut machen. Du bist doch der Mann im Haus, nicht wahr?«
Es war ein plumper Trick, aber einer, der bei Max immer half. Cassie vermutete, dass dieser Spruch »vom Mann im Haus« vielleicht schon von seinen Eltern angewendet worden war, um ihn zu irgendetwas zu bewegen.
Er straffte seine schmalen Schultern und strich sich die regennassen Haarsträhnen aus der Stirn.
»Ich werde auf sie aufpassen«, versprach er eifrig. Doch sein Tonfall wurde gleich wieder ängstlich. »Wann bist du zurück?«
»Sobald ich etwas zu Essen gefunden habe«, versprach Cassie. »Das kann nicht zu lange dauern, wirklich. Ich habe dort hinten ein Haus gesehen. Ich werde mal sehen, was in der Küche zurückgeblieben ist, ja?«
Max nickte. Widerstrebend löste er seine Hand aus der ihren und drehte sich um. Cassie sah ihm nach, als er langsam im strömenden Regen verschwand, die Schultern gebeugt und immer wieder zu ihr zurückblickend. Sie blieb so lange stehen, bis sie ihn nicht mehr sehen konnte, dann wandte sie sich wieder dem Fluss zu.
Es ist nur ein Fluss, verdammt, und du bist hergekommen, weil du hier nach Essbarem suchen wolltest. Wer weiß, vielleicht gibt es ein totes Reh oder so etwas. Oder vielleicht irgendwelche anderen Lebensmittel, aus einem Haus fortgespült.
Sie ließ nicht zu, dass das aufgewühlte, braune Wasser wieder ihre Gedanken und Phantasien gefangen nahm. Die Kleinen brauchten etwas zu Essen, keine Schauergeschichten.
Cassie starrte noch einmal in den trägen Strom, dann stopfte sie die Hände in die Taschen ihrer Parka und machte sich daran, am Fluss entlang zu stapfen. Natürlich gab es kein Haus, das sie plündern konnte. Aber vielleicht fand sie eine Stelle, wo der Fluss langsamer floss und sie nach Treibgut suchen konnte.
*
Schritte.
Schritte auf dem Damm.
Zweige brachen unter der Belastung von Füßen. Die ganze Konstruktion wankte und bebte, als wollte sie gleich zusammenbrechen. Navins erster Gedanke war, sich noch weiter in die Zweige zurückzuziehen und zu warten, bis der Eindringling draußen vorbei gegangen war. Doch dann hielten die Schritte direkt vor seinem Versteck inne und Navin wusste nicht, ob er bereits entdeckt worden war. Und außerdem - er konnte doch nicht ewig wie ein Stück Treibgut hier im Gezweig hängen. Irgendwann würde er erfrieren. Seine Kleidung war noch immer vollkommen durchnässt von Flusswasser und Regen und er konnte seine Zehen schon nicht mehr richtig spüren. Vielleicht war dies der Zeitpunkt, um Hilfe zu bitten.
Entweder das. Oder der Zeitpunkt, zu sterben.
Immerhin konnte das da draußen einer von den skrupellosesten Plünderern sein. Was wusste er denn schon davon? Navin atmete tief durch und lauschte. Von draußen war nichts zu vernehmen. Der Jemand war nicht weitergegangen. Nicht einmal zu bewegen schien er sich. Seltsam. Ob er sich die Schritte nur eingebildet hatte?
»He, du da draußen?«
Er hatte rufen wollen, aber alles was sein geschundener Körper zustande brachte, war ein heiseres Wispern, kaum lauter als das allgegenwärtige Knacken der Zweige im ewigen Wasserstrom.
Zuerst glaubte er, sein Besucher hätte ihn überhaupt nicht gehört, so leise waren seine Worte gewesen. Und zuerst kam auch überhaupt keine Reaktion von draußen. Dann jedoch, gerade als Navin zum zweiten Mal auf sich aufmerksam machen wollte, knisterten die dünnen Zweige um ihn herum und auf einmal verdunkelte sich sein Ausgang zu Licht und Wasser. Eine Gestalt blickte zu ihm herein.
Navin konnte im Dämmerlicht keine Gesichtszüge ausmachen, aber die Gestalt wirkte gegen den helleren Hintergrund nicht sehr groß und kräftig.
»Ist hier jemand drin?«
Die Stimme eines Mädchens. Oder bestenfalls einer jungen Frau.
Navin atmete auf und versuchte, ein Stück aus seinem Versteck hinauszukrabbeln, seine Arme und Beine wollten ihm jedoch nicht recht gehorchen. Wahrscheinlich hatte er zu lange in der gleichen Position dagelegen. Jedenfalls fühlte es sich jetzt so an als liefe eine ganze Armee aus Ameisen durch seine Adern und seine Muskeln wollten ihm nicht mehr gehorchen. Seine Gliedmaßen waren totes Fleisch, das irgendjemand an seinen Körper gehängt hatte.
»Ich ...«, krächzte er schließlich als Antwort. »Ich bin hier drin.«
»Wer ist 'ich'?«, wollte das Mädchen wissen. Navin erkannte, dass sie ihre Augen mit der Hand beschattete, um besser sehen zu können. »Sind Sie ein Soldat?«
Navin hätte am liebsten gelacht, aber er wusste nicht mehr, wie man das machte. Seine Lachmuskeln schienen genauso einrostet zu sein, wie die Muskeln in seinen Armen und Beinen.
»Mein Name ist Navin«, sagte er, »und es ist lange her, dass ich eine Waffe getragen habe. Der Fluss ... hat mich hierher gebracht. Ich lebe hier.« Besser gesagt, ich sterbe hier, dachte er. Denn das würde er sicher tun, wenn er noch ein, zwei Tage hier lag und sich nicht bewegte. »Kannst du mir heraus helfen? Ich fürchte ... ich bin ein wenig verkrampft.«
Die Gestalt verschwand abrupt aus der Öffnung und Navin konnte wieder das blasse Tageslicht sehen, verschleiert durch den ständigen Regen. Hatte er das Mädchen verschreckt? Das war nicht seine Absicht gewesen. Aber wahrscheinlich hatte auch sie gelernt, in dieser Welt misstrauisch zu sein. Wer das nicht war, starb früher oder später. Aber Navin hatte gehofft, dass noch ein wenig Menschlichkeit irgendwo übrig geblieben war. Und er hatte geglaubt, sie in der Stimme dieses Mädchens zu hören. Offensichtlich hatte er sich getäuscht.
Etwas fiel neben ihm in die Zweige. Navin starrte darauf, ohne zu erkennen, was es war. Eine Schlange, dachte er und zuckte schwach zurück. Doch dann erkannte er ein Seil. Das Ende eines leuchtend blauen Kletterseils. Es war so kräftig gefärbt, dass es Navin in den Augen schmerzte, es anzusehen.
Wieder verdunkelte sich die Öffnung und das Mädchen sah zu ihm herein. »Ich komm' nicht an Sie heran«, sagte sie. »Meine Arme sind zu kurz. Aber Sie können sich am Seil festhalten. Wenn ich ziehe und Sie ... mitarbeiten, bekomme ich Sie vielleicht da raus.«
Immer noch starrte Navin das Seil an. Dann bewegte er langsam seine Finger darauf zu. Wie eine weiße Spinne sah seine Hand aus, als sie sich dem Seil näherte. Als seine Fingerspitzen das blaue Material streiften, wäre er beinahe wieder zurückgezuckt. Es fühlte sich seltsam an. Unwirklich. Wie etwas aus einer anderen Welt. Aus der Welt vor dem Wasser, dem Regen, der Seuche, dem Krieg, den Plünderern.
Zögernd schloss er erst eine Hand um das Seil, dann die andere. Er versuchte, seine Muskeln besonders fest anzuspannen, doch dabei begannen seine Hände sofort unkontrolliert zu zittern. »Wir können es versuchen«, sagte er. »Ich versuche es jedenfalls. Ich hoffe nur, ich kann mich festhalten.«
»Das schaffen Sie«, klang die aufmunternde Stimme des Mädchens herein. Dann verschwand sie wieder aus der Öffnung und kurz darauf begann das Seil zwischen Navins Fingern zu zucken.
Zweimal glitt es ihm aus der Hand und das Mädchen musste es ihm erneut zuwerfen, bevor er daran dachte, sich das Seilende einfach um die Handgelenke zu wickeln und das Ende zwischen seinen Fingern zu halten. Zwar schnürte es so das Blut ab, als das Mädchen wieder zu ziehen begann, doch immerhin forderte es ihm weniger Kraft ab. Irgendwann brachte er auch seine Beine dazu, sich zu strecken, seinen schweren, lahmen Körper durch den Gang aus Zweigen, Erde und Müll voranzutreiben, dem fernen Licht entgegen.
Dann prasselte Regen auf seinen Körper. Kaltes Wasser, das unangenehm in seine Haut stach wie Nadeln. Navin begann sofort zu frieren. Er schwankte, versuchte, sich von Händen und Knien aus aufzurichten, doch ihm wurde sofort schwindelig und er musste sich wieder hinsetzen, den Eingang zu seinem Nest aus Zweigen im Rücken, den Regen im Gesicht. Er blinzelte, um das Wasser loszuwerden, das in seinen Wimpern hängenblieb und ihm die Sicht verschleierte. Er wollte das Mädchen sehen, doch alles was er erkennen konnte, war ein dunkler, sperriger Schatten vor dem helleren Hintergrund des Himmels.
»Sie sind ja in einem Zustand«, stellte das Mädchen fest. Etwas raschelte und knisterte und dann spürte Navin, wie etwas Klebriges in seine nasse Hand gedrückt wurde. Er starrte darauf, blinzelte mehrfach und versuchte eine ganze Weile Sinn in den Gegenstand zu bringen, bis er erkannte, dass es sich um einen halben Schokoriegel handelte.
»War eigentlich für die Kleinen«, sagte das Mädchen. »Und besonders appetitlich sieht es auch nicht mehr aus, weil ich es aus dem Fluss gefischt habe. Aber ich glaube, Sie brauchen den Zucker.«
Noch immer starrte Navin auf den Riegel und fragte sich, was er damit machen sollte. Sein Hirn schien nicht mehr richtig zu arbeiten.
»Essen!«, wies das Mädchen ihn streng an. Doch als Navin gehorsam versuchte, das klebrige Ding zum Mund zu heben, fiel sein Arm auf einmal wieder schlaff herab. Es war, als sei die Anstrengung, aus diesem Loch zu kriechen, schon zu viel für seinen Körper gewesen.
Das Mädchen seufzte, kauerte sich neben ihn und nahm ihm den Riegel wieder ab. Gleich darauf spürte Navin, wie etwas gegen seine Lippen stieß. Wie ein kleines Kind, das zum ersten Mal gefüttert wird, öffnete er zögernd den Mund und das Mädchen stopfte den Schokoriegel hinein.
»Kauen«, wies es ihn nun an und Navin bemerkte zu seiner Freude, dass er diesem Befehl problemlos Folge leisten konnte. Offensichtlich hatte sein Körper noch nicht alles vergessen, was zum Überleben gehörte. Er kaute, schmeckte die süße, etwas muffige Schokolade auf seiner Zunge und schluckte. Es war ein ungewohntes Gefühl, so lange hatte er nichts mehr gegessen, doch als der Bissen einmal unten war, spürte Navin, wie sein Körper gierig nach mehr verlangte.
Dieses Mal gelang es ihm, selbst die Hand zu heben und den Rest des Schokoladenriegels in seinen Mund zu schieben. Er konnte beinahe spüren, wie der Zucker sich in seinem Körper ausbreitete und seine Lebensgeister zurückkehrten. Allmählich klärte sich auch sein Blick und zum ersten Mal war er in der Lage, das Mädchen, das ihn gerettet hatte, in Augenschein zu nehmen.
Sie war nicht so jung, wie er ihrer Stimme nach geglaubt hatte. Vielleicht nicht einmal mehr ein richtiges Mädchen, schon eher eine junge Frau, vielleicht neunzehn oder zwanzig Jahre alt. Sie wirkte hager, aber das war nichts Besonderes in diesen Zeiten der Not, trug eine vom Regen durchtränkte dunkle Trekkinghose und eine weite Parka mit heruntergeschlagener Kapuze. Offensichtlich machte es ihr nicht das Geringste aus, dass der strömende Regen ihr kurzes blondes Haar durchnässte und in langen Spuren über ihr schmales Gesicht rann. Sie hatte dunkle Augen, groß und beinahe schwarz. Ihr Gesicht erinnerte Navin ein wenig an einen Totenschädel. Mit etwas mehr auf den Rippen, und einem weniger wachsamen Blick, hätte sie hübsch sein können. So war sie einfach nur ein Mädchen, ein hungerndes Wesen, genau wie er, und wahrscheinlich halb wild.
Sie beobachtete Navin misstrauisch, die Hände in die Jackentaschen gestopft, den ganzen Körper angespannt wie eine Triebfeder. Vermutlich hatte sie mindestens ein Schnappmesser in der Tasche, wenn nicht sogar eine Schusswaffe.
»Danke«, würgte Navin hervor. »Das hättest du nicht tun müssen.«
Sie hob die Schultern ein wenig. Wirkte unschlüssig, was sie jetzt tun sollte.
»Wie heißt du?« Nun, heraus aus dem Loch, ein wenig Essen im Magen, hatte Navin auf einmal das wilde Bedürfnis nach einen Gespräch. Irgendetwas, dass den Alltag von vor der Katastrophe zurückbrachte.
»Cassie«, erwiderte sie. »Kannst du gehen? Wir haben ein Stück den Fluss hinunter eine Scheune, da kannst du dich trocknen und ausruhen.«
»Wir?«
Wieder hob sie die Schultern. »Musst keine Angst haben, wir tun niemandem etwas.« Sie versuchte sich an einem schiefen Lächeln, das ihr Gesicht beinahe hübsch aussehen ließ, und Navin spürte, wie seine eigenen Mundwinkel ebenfalls zuckten.
*
Cassie hatte Schwierigkeiten, dem Mann - Navin - auf die Füße zu helfen. Immer wieder gaben seine Beine nach und als er schließlich stand, musste er sich schwer auf sie stützen. Er atmete keuchend und Cassie musste die Zähne zusammenbeißen, um nicht aufzustöhnen. Schwer atmend machte sie sich daran, Navin durch den immer noch anhaltenden Regen zur Scheune zu bringen.
Eigentlich hatte sie den Kleinen ja etwas ganz anderes mitbringen wollen, als noch ein Maul, das sie stopfen mussten. Aber immerhin hatte sie die Umhängetasche; vollgepackt mit aufgeweichten Schokoriegeln, die sie am Flussufer gefunden hatte. Gesundes Essen war etwas anderes, aber immerhin war es Fett und Zucker und würde den gröbsten Hunger stillen. Sie konnte immer noch losziehen und neues Essen besorgen - wenn sie Navin in Sicherheit gebracht, und sich selbst ein wenig ausgeruht hatte.
Schon ein ganzes Stück vom Schuppen entfernt konnte sie die aufgeregten Stimmen hören. Cassie seufzte. Wie oft hatte sie den Kleinen beizubringen versucht, nicht so laut zu sein! Jeder konnte sie hören. Selbst Navin, der in den letzten fünf Minuten in einen tranceähnlichen Zustand verfallen war, sah nun auf.
»Kinder«, murmelte er und machte dabei ein so glückliches Gesicht, dass Cassie ein wenig verwundert war. Sie hätte ihn nicht für einen besonderen Kinderfreund gehalten. Aber wer war heute schon das, wonach er aussah?
»Max, die Tür!«, rief sie und trat mit dem Fuß gegen das wackelige Konstrukt, sodass es beinahe aus den Angeln brach. Sofort hörte das Geplapper von drinnen auf. Allein der Regen rauschte noch eintönig. Dann - vorsichtig - wurde die Tür ein Stück aufgeschoben und Max steckte seinen Kopf durch den Spalt. Er sah Cassie und ein Lächeln begann sich auf seinem Gesicht auszubreiten. Doch dann fiel sein Blick auf Navin und sofort wich er einen Schritt zurück.
»Mann ...«, wisperte er erschrocken und riss die Augen auf. »Ein Mann. Ein Erwachsener.«
Wieder wurden die Stimmen der Kleinen laut, aber dieses Mal klangen sie ängstlich und verwirrt. Max hatte sie angesteckt.
»Er tut euch nichts. Er ist kein Soldat«, rief Cassie so laut, dass es auch das letzte Kind im Schuppen verstehen musste. »Lasst uns rein, ihm geht es nicht gut.«
Nichts. Max war von der Tür verschwunden. Cassie versuchte, sie mit der Stiefelspitze noch ein Stück weiter aufzuschieben, doch offensichtlich stand drinnen noch die Kiste vor der Tür, so wie Cassie es den Kindern geraten hatte. Sie bewegte sich kein Stück.
»Deine Freunde haben Angst vor mir«, flüsterte Navin.
»Sie haben vor allen Erwachsenen Angst«, erwiderte Cassie. »Rona! Mach die Tür auf. Ich bin es nur!«
»Du bist auch erwachsen«, flüsterte Navin. Er war inzwischen so sehr in sich zusammengesackt, dass sich sein Mund direkt neben ihrem Ohr befand. Cassie konnte seinen Atem spüren und schauderte.
»Nicht erwachsen genug«, antwortete sie. »Rona, zum Teufel!«
Etwas wurde drinnen über den Boden geschleift und gleich darauf schwang die Tür ein Stück weiter auf. Rona - mit elf Jahren die Zweitälteste - stand darin und blickte zu ihnen auf. Strähniges braunes Haar, ein noch rundliches Kindergesicht, durch eine Narbe auf ihrer Wange entstellt. Seltsam erwachsene, dunkle, wachsame Augen. Rona schien eine gute Anführerin, wenn Cassie einmal ausfallen sollte.
»Schwöre, dass du uns nichts tust!«, sagte sie zu Navin, ohne Cassie auch nur eines Blickes zu würdigen und ohne den Anflug eines Lächelns.
»Ich schwöre ... kleine Rona«, flüsterte Navin und versuchte offensichtlich, selbst freundlich zu lächeln. Sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse und das Mädchen wich vor ihm zurück.
»Komm schon ...«, knurrte Cassie und schleifte ihn ins Innere der alten Scheune.
Die Kinder hatten das Feuer in Gang gehalten und die Decken und Schlafsäcke gleichmäßig verteilt. Jemand – vermutlich eher Rona als Max – hatte die Kleinen dazu gebracht, ihre nassen Kleider auszuziehen und über die innenliegenden Stützbalken der Scheune zu hängen. Außerdem hatten sie die Stapel mit nassem Stroh vor den verfallenen Teil der Scheune geschoben, sodass sie wenigstens einen schwachen Schutz vor Wind und Regen von dieser Seite hatten. Es war beinahe gemütlich zu nennen. Cassie erinnerte sich, wie sie früher draußen gecampt hatten, in warmen Sommern. Manchmal hatten sie auch in Scheunen geschlafen; sie, ihre Schwester und ihr Bruder, im warmen, duftenden Stroh, mit Grashalmen im Haar und Staub in der Nase.
Sie schüttelte die Erinnerung ab und schleppte Navin zu einem der Lager aus Stroh und alten Pferdedecken, die sie in der Scheune gefunden hatten. Dort ließ sie ihn stöhnend auf den Boden gleiten. Er versuchte einen Moment lang aufrecht sitzen zu bleiben, dann jedoch kippte er beinahe zur Seite und blieb auf dem Lager liegen wie eine tote Puppe.
»Rona, in meiner Umhängetasche ist Schokolade. Gib jedem einen Riegel, Lennart zwei, dann sehen wir, wie viel übrig bleibt. Es sind auch noch zwei Fische drin, die rührst du nicht an, verstanden? Ich muss erst sehen, ob die noch gut sind.« Sie hatte die toten Fische am Ufer gefunden und beschlossen, diese erst einmal mitzunehmen. Gebraten war fast alles genießbar. Aber sie musste nicht die Kleinen auch noch vergiften, wenn sie sowieso schon am Verhungern waren. Sie hatte genug am Hals.
Cassie beugte sich über Navin, der mit halb geschlossenen Augen auf der Seite lag. »Alles in Ordnung?« Sie spürte, wie Rona an ihrer Tasche nestelte und die Schokolade herausholte. Auffordernd streckte sie dem Mädchen die Hand hin, und nach kurzem Zögern legte diese einen Riegel hinein. Cassie riss mit den Zähnen das Papier auf – ihre Finger waren viel zu nass und rutschig – und schob es so weit zurück, dass die Schokolade hinaussah. Dann hielt sie den Riegel vor Navins Nase.
»Du musst noch was essen«, sagte sie, »sonst kommst du nie auf die Beine.«
»Du hörst dich an wie meine Mutter.«
Obwohl seine Stimme vorwurfsvoll klang, lächelte er. Mit Mühe gelang es ihm, sich in eine sitzende Position zu bringen und Cassie den Riegel aus der Hand zu nehmen. Cassie selbst nahm sich ebenfalls einen und ließ sich dann neben Navin auf das Lager plumpsen. Während sie den Riegel in sich hineinstopfte – immer darauf bedacht, nicht zu schnell zu essen – beobachtete sie, wie Rona gewissenhaft die restliche Schokolade verteilte. Lennart war zu schwach, um seinen Anteil anzunehmen, also setzte sich Rona nach ihrer Runde zu ihm, packte die Schokoriegel aus und begann, den kleinen Jungen zu füttern.
»Deine Schwester?« Navins Stimme schreckte Cassie auf. Sie klang schon viel stärker als zuvor. Was so ein bisschen Zucker ausmachte.
Sie schüttelte den Kopf. »Keines von ihnen ist mit mir verwandt«, sagte sie. Beinahe liebevoll ließ sie ihren Blick über die elf Kinder schweifen. »Sie scheinen sich nur irgendwie in meiner Nähe zu sammeln. Vor ein paar Wochen war ich noch alleine unterwegs.«
»Du sorgst gut für sie.«
In seiner Stimme lag Anerkennung, doch Cassie zuckte nur mit den Schultern.
»Ich sorge dafür, dass sie nicht ganz so schnell sterben. Ich weiß nicht, ob ich ihnen damit wirklich einen Gefallen tue. Das wird sich wohl noch zeigen.« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung, um seinen Einwand bereits zu unterdrücken, bevor er ihn gemacht hatte. Stattdessen wandte sie sich von den Kindern ab und Navin zu.
Jetzt, wo er saß und nicht mehr ganz so schwach aussah, war zu erkennen, dass er noch gar nicht so alt war, wie sie zuerst geglaubt hatte. Sein schmutziges Haar war unter der Dreckschicht nicht etwa grau oder weiß, sondern von einem sehr hellen Blond. Und wenn man sich die eingefallenen Wangen und die ganzen Falten wegdachte, die Wind und Wetter gegraben hatten, war er vielleicht Mitte Zwanzig – nicht viel älter jedenfalls. Und nett. Ja, er hatte ein nettes, freundliches Gesicht; etwas, das in eine Vergangenheit gehörte, die nicht wiederkommen würde.
»Du hast gesagt, du bist kein Soldat«, sagte sie. »Was bist du dann?« Sie wollte ihn nicht fragen, wie ein netter Junge wie er dazu kam, in einem Loch im Damm zu liegen und vor sich hin zu sterben.
Navin lachte. Es hörte sich wie ein Husten an, aber es war dennoch ein gutes Geräusch. »Ich bin Matrose«, sagte er.
»Matrose?«
Sie runzelte die Stirn und automatisch wanderte ihr Blick in Richtung Scheunentür, hinter der sich nur ein paar Meter weiter irgendwo der Fluss verbarg. Sie konnte ihn rauschen hören.
»So was in der Art. Ich habe früher einen Touristendampfer gefahren. Den Fluss rauf und runter. Also, ich habe ausgeholfen und manchmal auch gelenkt, Kapitän war ich nie. Später ... später habe ich die Lastkähne flussaufwärts gebracht, auf denen sich die Flüchtlinge versammelt hatten.« Sein Blick wurde seltsam leer. »Es waren so viele Menschen. Und sie haben gar nicht alle an Bord gepasst. Bestimmt ein Dutzend Male bin ich gefahren und es gab niemanden außer mir, der den Kahn lenken konnte. Irgendwann sind wir aufgelaufen. Später hatte sich das Boot losgerissen und war gekentert. Da hatten wir schon so lange nichts mehr gegessen, dass ich mich einfach ins Wasser hab fallen lassen. Ich dachte, der Fluss würde mich umbringen, und das war auch ganz gut so, aber stattdessen hat er mich an diesen Damm gespült. Und da habe ich die Höhle gefunden.«
Cassie schwieg. Sie wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Sie wünschte sich, sie hätte es an Bord eines dieser Schiffe geschafft. Man sagte, flussaufwärts habe es ein Lager gegeben, von dem aus Schiffe ins All starteten, die die Menschen, die fliehen wollten, wegbrachten. Aber Cassie hatte es nie in dieses Lager geschafft und inzwischen gab es auch niemanden mehr, der diese Geschichten erzählte. Alles, was noch da war, war eine Handvoll Menschen, die versuchten, sich in der zerstörten Umwelt zurechtzufinden. Zu überleben. Vom All redete man nicht mehr. Es war genauso weit entfernt und unerreichbar wie jedes andere Paradies.
»Du wolltest sterben«, sagte sie schließlich, als Navin zu lange schwieg und sie das Gefühl hatte, selbst reden zu müssen, bevor das Schweigen unerträglich wurde.
Die Kinder futterten inzwischen ihre zweite Runde Schokoriegel. Die meisten sahen glücklich aus. Ein paar von ihnen setzten sich zusammen, um mit ihren lumpigen Puppen und abgewetzten Stofftieren zu spielen. So etwas wie Alltag kehrte in der Scheune ein.
»Zuerst nicht«, sagte Navin. »Ich lag auf dem Damm und dachte, jemand würde schon kommen und mich retten. Oder mir ein neues Schiff geben. Stattdessen kamen die ... die Anderen.«
Cassie presste die Lippen aufeinander. Die Anderen. Auch Navin hatte also kein Wort für die Wesen, die unvermittelt in ihren Alltag eingedrungen waren. Rona nannte sie »Monster«. Und das war das, was der Wahrheit am Nächsten kam. Auch wenn sie überhaupt nicht monströs aussahen, sondern wie Menschen, nur auch wieder anders.
Navin schüttelte den Kopf, als wolle er einen lästigen Gedanken verscheuchen. »Ich weiß nicht, warum sie mir nichts getan haben. Vielleicht haben sie geglaubt, ich wäre schon tot. Sie sind über den Damm gegangen, ganz dicht an mir vorbei. Und mit ihnen kam die Kälte und ... der Regen. Seither hat es hier nur geregnet. Ich bin in die Höhle gekrochen und hab mich dort vor dem Regen versteckt. Und vor Ihnen. Seitdem bin ich nicht mehr herausgekommen. Sie ... sie haben mir den Mut zum Überleben irgendwie genommen.«
Cassie nickte. Sie selbst war Ihnen nur einmal begegnet. Und dabei waren diese Wesen glücklicherweise weit von ihr entfernt gewesen. Aber sie hatte die Kälte gespürt. Die Kälte und den Winter, den sie brachten. Sie konnte sich nicht erklären, wie das möglich war, aber die Wesen schienen tatsächlich nicht nur Angst und Schrecken zu verbreiten, sondern auch das Wetter zu beeinflussen. Niemand hatte das verstanden. Und wer war Cassie schon, dass sie hinter dieses Geheimnis kommen konnte.
»Du musst dich ein bisschen ausruhen«, sagte sie zu Navin. Sie stand auf und sah sich in der Scheune um, bis sie eine alte Militärdecke fand, die noch niemand für sich beansprucht hatte. Die trug sie zu Navin hinüber und reichte sie ihm. »Und du solltest aus den nassen Sachen raus«, meinte sie und spürte gleich darauf, wie sie rot wurde. Rasch wandte sie das Gesicht ab und starrte die Wand an, als ob sie dort etwas außergewöhnlich Interessantes entdeckt hatte. Navin räusperte sich und als Cassie einen kurzen Blick auf ihn riskierte, merkte sie, dass er mindestens genauso verlegen geworden war wie sie selbst.
»Ich werde mich auch hinlegen«, sagte sie hastig und deutete auf ihre Lagerstätte auf der anderen Seite des Feuers. »Ich bin müde. Und morgen muss ich mich wieder auf die Suche nach etwas Essbarem machen. Es ist nicht einfach, all diese Mäuler zu stopfen.«
Sie merkte, dass sie plapperte und wurde noch roter. Bevor sie sich ganz in Teufels Küche bringen konnte, stand sie auf, ging um das Feuer herum und begann, demonstrativ ihre Kleidung abzulegen. Sie musste sich anstrengen, dabei nicht immerfort einen Blick auf Navin zu werfen. Es war lächerlich. Sie hatte sich schon dutzende Male vor den Kindern ausgezogen. Hier gab es keine Scheu, das war genauso unsinnig wie falscher Heldenmut. Doch kaum war ein erwachsener Mann da, benahm sich Cassie wie eine alberne Zicke.
Schluss damit!
Ruckartig riss sie ihren Pullover über den Kopf, dann das dünne T-Shirt, das genauso durchweicht war wie der Rest ihrer Kleidung und das ohnehin nicht viel verborgen hatte. Dennoch kam sie sich furchtbar nackt und verletzlich vor, als sie sich nach ihrem Handtuch bückte, um sich abzutrocknen. Sie erledigte es so schnell wie möglich und schlüpfte gleich darauf in Jogginghose und ein trockenes Shirt, hing die nassen Sachen über einen Balken und verkroch sich, ohne noch einmal nach Navin zu sehen, in ihrem Schlafsack.
Bei all dem Bemühen einzuschlafen, vergaß Cassie vollkommen, dass sie noch nichts gegessen hatte und dass in ihrer Umhängetasche zwei Fische auf ihre Zubereitung warteten.
*
Er konnte nicht anders - er musste sie ansehen.
Navin hatte keine Menschen mehr zu Gesicht bekommen, seit er die letzte Fuhre im Fluss verloren hatte. Wie lange war das her gewesen? Tage? Wochen? Monate gar? Er hatte keine Ahnung. Und dann noch ein nacktes Mädchen!
Nicht, dass Cassie eine Schönheit war. Sie war hager, ihre bloße Haut von Kratzern und blauen Flecken entstellt, die sie sich vermutlich auf der einen oder anderen Plündertour geholt hatte. Aber sie war unzweifelhaft menschlich. Und unzweifelhaft weiblich.
Navin spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht stieg, aber es gelang ihm erst seinen Blick abzuwenden, als Cassie in ihren Schlafsack gekrochen war. Als er endlich den Kopf drehte, sah er das kleine Mädchen - Rona? - neben sich sitzen und mit großen Augen anstarren. Navin meinte, den Vorwurf darin nur zu gut zu erkennen, und wieder wurde ihm ganz heiß im Gesicht.
»Na?«, fragte er in dem bemüht heiteren Tonfall, den er früher schon für kleine Kinder reserviert hatte und der ihm jetzt noch mehr fehl am Platz vorkam als damals.
»Seid ihr satt geworden?«
Das Mädchen schüttelte langsam und bedächtig den Kopf. Der Vorwurf war noch nicht aus ihrem Gesicht verschwunden.
»Ich kann ja ... Cassie morgen helfen, neues Essen zu holen«, sagte Navin in dem Versuch, freundlich und kommunikativ zu sein. »Ich meine, wenn ihr mich schon hier aufgenommen habt ...«
Das Mädchen zuckte mit den Achseln.
»Darf ich ... darf ich meine nassen Sachen ans Feuer hängen?« Irgendwie musste die Göre doch zum Sprechen zu bewegen sein.
Achselzucken.
Navin seufzte, drehte sich halb von dem Mädchen weg, und begann, die nassen Kleider abzulegen. Er hatte ohnehin das Gefühl, sie müssten ihm demnächst vom Körper faulen, so klebrig und rissig waren Jeans und Sweatshirt. Sie rochen nach dem Flusswasser und außerdem klebte etwas an ihnen, dass Navin nur als »den Gestank der Anderen« bezeichnen konnte. Es war ein Geruch, der ihnen folgte wie Kälte und Regen, und der mit nichts vergleichbar war, was Navin in seinem alten Leben gerochen hatte.
Im Grunde, dachte er, will ich das Zeug gar nicht mehr anziehen. Aber von den Kindern hier wird sicher keines Ersatzkleidung für einen ausgewachsenen Mann bei sich haben.
Er schüttelte das Regenwasser aus den Kleidern und hängte sie ungeschickt über einen der Balken. Er meinte, den Gestank der Wesen noch intensiver zu riechen, jetzt, da das Wasser in der Hitze des Feuers zu verdampfen begann. Unter den immer noch vorwurfsvollen Blicken des kleinen Mädchens entledigte er sich auch noch der Unterwäsche und wickelte sich rasch in die Militärdecke. Sie war aus schwarzweißem Webstoff und duftete angenehm nach Heu und Staub; erfreulich normale Gerüche nach dem Gestank draußen.
Als er sich auf das Lager fallen ließ, das nur aus ein paar Strohbündeln und einem alten Sack bestand, bemerkte er, dass das Mädchen ihm etwas hinhielt. Verwundert blinzelte er, um das bräunliche Ding zwischen ihren Fingern richtig in Fokus zu bringen. Es war ein weiterer Schokoladenriegel.
»Danke«, sagte er heiser. »Aber ich habe wirklich genug gegessen. Warum isst du ihn nicht selbst? Du siehst aus, als könntest du noch Hunger haben.«
Das Mädchen schüttelte so heftig den Kopf, dass die kurzen Haarsträhnen flogen. »Nicht für dich oder mich«, zischte sie leise. »Für Lennart!«
»Lennart?«
Das Mädchen zeigte in den hinteren Teil der Scheune, wo der kleine Junge, den sie liebevoll gefüttert hatte, zusammengerollt unter einer Decke lag und vor sich hin zitterte. Ein zweites Kind breitete gerade fürsorglich einen weiteren alten Sack über ihn.
»Lennart«, wiederholte das Mädchen und nickte.
Vorsichtig nahm Navin den Riegel aus ihrer Hand und betrachtete ihn. Er verstand nicht, was er damit machen sollte. Den Kleinen füttern? Es sah nicht so aus, als wäre er ansprechbar oder als könne er etwas zu sich nehmen.
Doch das Mädchen schien zufrieden, dass er den Riegel an sich genommen hatte. Es wandte sich ab und hüpfte in einer sonderbaren Kleine-Mädchen-Art zu den anderen Kindern zurück, um mit ihnen bunte Sammelkarten zu tauschen.
Navin schob den Schokoladenriegel unter das Stroh seines Lagers. Er würde sich morgen Gedanken darüber machen, was er damit anfangen sollte. Vielleicht konnte er ja Cassie fragen.
Cassie ...
Als er die Augen schloss, konnte er noch immer ihren hageren Körper im rötlichen Schein der Glut vor sich sehen. Du hast zu lange keine Frau mehr gehabt, Navin, sagte er sich und drehte sich entschlossen mit dem Rücken zur Feuerstelle, um nicht mehr zu dem Bündel hinübersehen zu müssen, das das junge Mädchen war.
*
Der Traum überfiel ihn ganz plötzlich und ohne, dass sich Navin überhaupt bewusst gewesen war, eingeschlafen zu sein. Unvermittelt fand er sich in einer fremdartigen Umgebung wieder. Eine dunkle Höhle oder vielleicht auch ein unterirdischer Gang; er konnte nicht weit genug sehen, um das beurteilen zu können. Unter seinen Füßen spürte er glatten Steinboden, nass und ein wenig rutschig, doch Navin wusste – mit dieser seltsamen Gewissheit, die einen in Träumen bisweilen überkommt –, dass es nicht der Regen gewesen war, der diesen Boden benetzt hatte. Er war hier in einer Gegend, wohin der Regen nicht kam. Niemals. Wenn es einmal geschehen sollte, dass das Höhlendach einstürzte und Licht und Wetter diesen Boden erreichten, dann ... ja was dann? Navin hatte das Gefühl, es müsste das Ende der Welt bedeuten, doch er konnte sich nicht erklären, warum.
Es war kühl hier, aber nicht unangenehm. Es war eine frische Kühle, die Navin mit einem Frühjahrsmorgen am Fluss verband, zu einer Zeit, als der Fluss noch nicht ein einziges Schlammmonster geworden war, das den »Anderen« ihre Opfer vor die Füße warf. Dies hier war der Geruch nach einem gesunden Fluss.
Navin streckte vorsichtig seine Hand zur Seite aus und tastete nach der Wand, von der er wusste, dass sie sich neben ihm befinden musste. Glatter, kühler, feuchter Stein unter seinen Fingerspitzen, eine Oberfläche wie Glas, schwarz wie die Nacht. Es fühlte sich an wie zu Hause.
Nein, nicht ganz wie zu Hause. Navin musste den Fluss finden. Zeit seines Lebens war das Wasser sein zu Hause gewesen und daran würde sich jetzt sicher nichts ändern.
Zögerlich begann er, einen Schritt vor den anderen zu setzen. Er war barfuß, denn er konnte den glatten Boden unter seinen Sohlen spüren und den Atem des Windes an seinen bloßen Knöcheln. Doch ansonsten ... Navin sah an sich herab und bemerkte, dass er in eine Art Robe gehüllt war, die jemand aus der schwarzweißen Militärdecke geschneidert hatte. Der Stoff fühlte sich schwer und rau auf seiner Haut an, doch auf eine seltsame Weise auch richtig, als habe er sich immer schon in eine solche Robe gekleidet. Und trotz des beständigen Windes und der feuchten Kälte, die vom Boden aufstieg, fror Navin nicht.
Er ging, ohne darauf zu achten, wohin er seine Schritte setzte. Er musste nicht nachdenken. Es war, als übernähme sein Körper die Führung ganz von alleine. Erst als er einige Minuten durch die beständige Schwärze gewandert war, bemerkte er das Rauschen. Eigentlich – so erkannte er – war es schon die ganze Zeit da gewesen; ein Rauschen und Plätschern und Tosen von wildem Wasser, das durch eine Enge schoss. Zuerst dachte er tatsächlich an einen Wasserfall, doch bald schon wurde ihm klar, dass es ein Fluss sein musste. Ein Fluss, dessen Gischt bis hinauf in die Höhle gestoben war und Wände und Boden benetzt hatte. Navin leckte sich die Lippen und spürte kleine klare Tröpfchen darauf, frisch und süß wie Bergquellwasser.
Er freute sich darauf, den Fluss zu sehen.
Die Dunkelheit lichtete sich ein wenig und Navin konnte einen steilen Abbruch erkennen. Die Uferkante eines unterirdischen, wilden Flusses. Doch er sah keine weiße Gischt über die Kante schäumen, keine dunklen Wellen, die über das Ufer schwappten und seine bloßen Füße benetzen würden, wenn er ihnen zu nahe kam.
Stattdessen sah er Cassie.
Das Mädchen stand direkt vor der Kante, seltsam einsam und verlassen in der Dunkelheit. Sie war nackt und selbst in seinem Traum hatte Navin so viel Anstand, seine Phantasie zu verfluchen. Aber nur für einen Moment. Im nächsten Augenblick schon wurde ihm klar, dass Cassie gar nicht anders konnte, als nackt zu sein, und dass das nichts mit seinen Wünschen und Träumen zu tun hatte. Er fühlte sich nicht einmal erregt.
Ganz ruhig stand sie da. Sie schien nicht zu frieren, aber ihre helle Haut leuchtete beinahe in der Dunkelheit. Vielleicht war das der Grund, weshalb Navin sie so gut erkennen konnte und zuerst gar keine Augen für die sehr viel kleinere Gestalt an ihrer Seite hatte. Cassies Leuchten schien alles zu übertünchen.
Navin blinzelte ein paar Mal, bis seine Augen sich an die plötzliche Helligkeit gewöhnt hatten. Dann sah er, dass Cassie einen kleinen Jungen an der Hand hielt. Den kleinen, kranken Jungen aus der Scheune. Wie war sein Name noch einmal gewesen? Lennart? Er trug immer noch die Lumpen, in denen Navin ihn das letzte Mal gesehen hatte, aber seine Augen waren jetzt nicht vom Fieber verschleiert, sondern klar und wach und vertrauensvoll. Er hielt Cassies Hand umklammert wie einen Rettungsanker, und sah zu Navin auf, als erwarte er ein ganz besonderes Geschenk.
Navin trat auf die beiden zu. Jetzt sah auch Cassie auf, direkt in sein Gesicht. »Ich habe ihn zu dir gebracht«, sagte sie. »Der Rest ist deine Sache. Ich habe meine Aufgabe getan. Der Übergang. Du weißt ...«
Im Traum wusste Navin, was sie meinte und nickte. Dann streckte er die Hand aus und griff nach der des Jungen. Die kleinen Finger waren seltsam warm in seinem Griff, wie etwas, das nicht in diese kühle, feuchte Welt gehörte.
Der Junge sah zu ihm auf und wieder war da dieser hoffnungsvolle Blick.
»Du wirst mir doch nicht wehtun?«
Navin schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht.« Und dann, weil es einfach dazu gehörte. »Wo ist deine Bezahlung?«
Lennart wirkte einen Augenblick verwirrt, dann streckte er seine freie Hand aus und deutete auf Navin selbst. »Du hast ihn schon bekommen. Erinnerst du dich nicht?«
In Navins freier Hand tauchte der klebrige Schokoladenriegel auf, den ihm das kleine Mädchen - Rona - gegeben hatte.
Navin nickte und wusste, dass der Junge Recht hatte.
Alles war gut.
Alles war, wie es sein sollte.
Er umschloss die kleine, warme Hand ein wenig fester und drückte die Finger besänftigend, als wolle er dem Jungen die Angst nehmen. Als er wieder zum Flussufer aufblickte, war Cassie verschwunden. Stattdessen strömte weißes, schäumendes Wasser durch den engen Flusslauf.
Auf den tosenden Wogen lag ein kleines Schiff. Ein flacher Kahn wie der, den Navin in den letzten Wochen der Menschheit den Fluss hinaufgelenkt hatte. Nur der Motor fehlte, statt dessen gab es am Heck eine lange Stange, die durch eine Metallöse lief. Das Boot schwamm vollkommen ruhig, auch wenn das Wasser unter ihm tobte und nach seinen Seiten griff. Beinahe schien es, als schwebe es über dem unruhigen Fluss.
Navin führte den kleinen Jungen zu dem Boot und hob ihn hinein. Das Kind zeigte keinerlei Angst, beugte sich sogar über die Reling, um in das schäumende Wasser zu blicken, wie es jedes Kind an Bord eines Schiffes tun würde. Navin sprang hinter ihm ins Boot und spürte das Holz unter seinen Füßen beben. Der Fluss stieß ein wütendes Tosen auf und eine große Welle schlug über die Reling, durchnässte Navin von oben bis unten, drang sogar durch seine dicke Robe und ließ ihn erschaudern.
Der Fluss will nicht, dass ich den Jungen fortbringe, dachte er, während er zum Heck ging, um das Seil zu lösen, welches das Boot an Ort und Stelle hielt. Er hat das Kind zu lange gehütet. Er ist eifersüchtig.
Kaum hatte er das Tau gelöst und die Stange zur Hand genommen, packten die eisigen Fluten das kleine Boot und rissen es mit sich. Vorbei war es mit der Ruhe. Wie ein verlorenes Blatt tanzte das Boot auf den Wellen, wurde hierhin und dorthin geworfen, trieb haltlos durch die Dunkelheit.
Navin stemmte sich gegen die Stange und versuchte verzweifelt, das Boot wieder in Gleichgewicht zu bringen. Doch das Flusswasser riss an dem Holz und hätte es ihm aus der Hand gewunden, wenn es nicht in der Öse gesteckt hätte. Navin fluchte und schimpfte, doch das Wasser ließ sich davon nicht beeindrucken. Eisige Wellen schwappten wieder und wieder über die Bootswand, durnässten ihn und den Jungen, füllten den Boden des Bootes mit Wasser und drohten, es zum Kentern zu bringen. Navin spürte, wie die kalten Tropfen auf seiner Haut zu winzigen Eiskügelchen erstarrten und schauderte. Vorhin noch hatte die Kälte ihm nichts anhaben können, doch jetzt ... wenn er nicht achtgab, würde der Fluss ihn umbringen.
»Ich tue nur meine Pflicht«, rief er in das Brausen der Wellen hinein. »Ich bin nur der Fährmann. Ich bin es nicht, der entscheidet, wer geht und wer bleibt.« Doch das Wasser hörte nicht auf ihn. Im Gegenteil. Das Rauschen nahm noch zu und eine große Welle hob die Seite des Bootes an, so dass es gefährlich kippte und weiteres kaltes Wasser an Bord schwappte. Navin glaubte inzwischen, Gesichter und Augen in den Wellen zu erkennen. Große, dunkle Augen, die ihn an einen Totenkopf erinnerten.
Lennart klammerte sich an eine Seite des Bootes. Er stand bereits knietief im Wasser und war vollkommen durchnässt. Seine Zähne klapperten und auf seinem Gesicht zeichnete sich nun doch Angst ab. Er starrte auf die Wasseroberfläche, als könne er dort irgendwelche Monster entdecken. Vielleicht waren dort auch welche. Navin sah Hände aus weißem Schaum, die sich in die Bootswand krallten und damit begannen, Splitter aus dem Holz zu brechen. Etwas knirschte und knackte, als das Boot gegen einen in der Dunkelheit unsichtbaren Stein geworfen wurde. Ein Ruck durchlief das ganze Gefährt. Navin wurde von den Füßen gerissen, schwankte und verlor die Stange aus der Hand. Das raue Holz riss ihm die Haut auf, ein langer Splitter bohrte sich in seine Handfläche und Navin konnte Blut sehen, das hinunterlief und auf seine Robe tropfte. Eine Welle schlug über den Bootsrand und brach sich direkt über ihm. Das Wasser war seltsam weiß und mischte sich mit seinem Blut. Dunkle Schlieren auf milchweißem Untergrund. Navin konnte die Eisklümpchen spüren, die sich um seine Beine herum sammelten.
Das Boot ruhte auf dem Fels, nur ab und zu durchgeschüttelt von der Gewalt des Wassers, wie ein unruhiges Tier, das sich losreißen wollte.
»Cassie«, flüsterte der Junge. Seltsamerweise konnte Navin ihn klar verstehen, auch wenn seine Stimme so leise war, dass sie sich über das Brüllen des Stroms eigentlich nicht hätte durchsetzen können. »Cassie, lass mich gehen. Ich möchte es. Du hast mich doch hierher gebracht.«
Navin rappelte sich auf und wankte in Richtung der Stange. Er hoffte, dass sie nicht gebrochen war. Ohne die Stange hatte er keine Möglichkeit das Boot zu lenken. Noch weniger, als er es sowieso schon hatte. Der Fluss schien sich ein wenig beruhigt zu haben, zog hier und da an dem rissigen, brüchigen Holz, machte aber keine Anstalten, das Schiff loszureißen. Vermutlich war er glücklich, dass er das Gefährt hierlassen konnte; auf halbem Weg zwischen dem einen und dem anderen Ufer, zwischen Leben und Tod.
Navin griff nach der Stange, packte sie fest mit beiden Händen und senkte sie wieder ins Wasser. Er tastete nach dem Grund, konnte aber keinen Widerstand spüren. Kälte kroch an dem Holz empor. Navin konnte die Frostschicht sehen, die sich darauf bildete. Er sah zu dem Jungen und bemerkte, dass auch sein Gesicht von einer Eisschicht überzogen war. Weiße Kristalle wie Schneeflocken hingen in seinen Wimpern. Dennoch schien er nicht zu frieren, zitterte nicht einmal. Er saß nur da und blickte auf das weiße, schäumende Wasser, als habe es ihn hypnotisiert.
»Lass uns gehen«, murmelte Navin und suchte weiter mit der Stange nach Grund.
»Niemals«, flüsterte das Wasser zurück. Eisschollen klebten an Bug und Heck und setzten das Boot fest.
*
Der Traum endete so plötzlich, wie er begonnen hatte. Navin hatte die Stimme des Wassers noch in den Ohren, als er aus dem Schlaf emporfuhr. Seine Haut fühlte sich eiskalt und klamm an und er erwartete beinahe, eine Eisschicht darauf zu sehen, als er an sich herunterblickte. Doch stattdessen bemerkte er, dass er von kaltem Schweiß bedeckt war; ein dünner, glänzender Film, der seinen ganzen Körper zu überziehen schien.
Navin blinzelte und blickte sich verwirrt um.
Die Scheune war so dunkel wie zuvor. Vielleicht sogar noch ein bisschen dunkler, jetzt, wo das Feuer endgültig heruntergebrannt war und nur noch einige Kohlen glühten, wie die Augen eines Tieres in der Dunkelheit. Er brauchte eine Weile, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, die so anders war als die Helligkeit des Wassers aus seinem Traum. Endlich schälten sich nach und nach die schlafenden Gestalten der Kinder aus dem Dämmerlicht, in den Ecken der Scheune zusammengekauert, alle gemeinsam, als könnten sie in der Gruppe gegen die Dunkelheit ankämpfen. Wenn er sich besonders anstrengte, konnte Navin sogar Lennart ausmachen, der zwischen den anderen schlief.
Der Junge lag ungewöhnlich still da und Navin meinte sehen zu können, dass sich die kleine Brust unregelmäßig hob und senkte. Aber ganz sicher war er sich nicht. Das Licht in der Scheune reichte einfach nicht aus, um ein gutes Urteil darüber fällen zu können.
Navin wandte den Kopf wieder zur Seite und sah zu der Feuerstelle. Das Lager, auf dem Cassie geschlafen hatte, war leer. Ein zusammengeknüllter Schlafsack lag unordentlich auf dem Strohlager und Cassies Umhängetasche direkt daneben. Ihre Kleider und die Parka waren jedoch verschwunden.
»Cassie?«
Die leise Stimme schreckte Navin auf. Ein Schemen schälte sich aus der Dämmerung. Das kleine Mädchen mit dem Schokoladenriegel trat in den blassen Schein der Glut und starrte auf das verlassene Schlaflager hinunter.
»Cassie?«, wiederholte sie und in ihrer Stimme schwang Angst mit. Sie hörte sich jetzt viel mehr wie ein kleines Kind an als noch am Abend zuvor. Langsam drehte sie sich um und sah zu Navin hinüber. Auf ihrem Gesicht tanzten rote und schwarze Schatten von der Glut.
»Du hast sie vertrieben«, flüsterte sie. »Wie sollen wir jetzt den Weg finden.«
»Ich habe sie nicht vertrieben«, flüsterte Navin zurück und erhob sich ebenfalls langsam von seinem Lager. »Sie muss selbst beschlossen haben, zu gehen. Aber ich werde nach ihr suchen. Bleibt ihr hier.«
»Und wenn sie nicht gefunden werden will?«
Rona trat ein Stück näher an Navin heran. In ihren Augen lag ein fremdartiger Ausdruck. Und war da nicht ein kühler Hauch, der das kleine Mädchen umgab? Oder waren das nur die Nachwehen von seinem Traum.
»Ich werde sie finden«, erwiderte Navin und sammelte seine eigenen Kleider vom Balken. Sie waren noch nicht vollkommen getrocknet und lagen klamm und übelriechend in seinen Händen. Es fühlte sich an als griffe eine kalte, nasse Hand nach seinen Beinen, als er die Hose überstreifte. »Sie hat mich auch gefunden. Wenn es jemanden gibt, der es kann, dann ich.«
Das kleine Mädchen trat noch näher an ihn heran. Navin hatte sich nicht geirrt. Von ihrer Haut ging eine klamme Kälte aus, die gar nichts gemeinsam hatte mit der Wärme, die einen Menschen normalerweise umgeben sollte. Navin hielt in seinen Bewegungen inne. Sein Sweatshirt hing schlaff in seinen halb erhobenen Händen.
»Du bist eine von Ihnen«, sagte er leise. »Eine von den Anderen.«
Rona legte den Kopf schief und lächelte ihn von unten herauf an. »Ich bin nicht anders«, sagte sie. »Ich bin nur älter.«
Navin runzelte die Stirn und sah das kleine Mädchen – wenn es das war – fragend an, doch sie lieferte keine weitere Erklärung.
»Du musst sie finden«, sagte sie, »damit alles seinen Weg gehen kann, wie wir uns das gedacht haben.«
»Warum tut ihr uns das an? Was haben wir euch getan?«
Sie zuckte nur mit den Schultern. »Sie sind schon sehr lange hier und das weißt du auch. Du gehörst genauso wenig zu ihnen wie ich«, antwortete sie, bevor sie sich abwendete und zurück zu den Kindern ging.
Navin konnte sehen, wie sie sich über das Lager des kranken Lennart beugte und ihm mit einer zarten Geste das Haar aus der Stirn strich. Sie sah sanft und mitfühlend dabei aus, nicht so unheimlich wie die übrigen ihrer Art, die erschreckend und fremdartig gewesen waren. Aber vielleicht hatten die »Anderen« sich auch nur angepasst.
Sei es, wie es mochte. Er musste Cassie finden. Ob er sie danach hierher zurückbrachte - wer konnte das schon wissen? Die Scheune war zu einem unheimlichen Ort geworden, aber Cassie und er waren im Grunde auch unheimliche Menschen. Wenn sie überhaupt Menschen waren.
*
Der Fluss rauschte beständig neben ihr her. Es hatte aufgehört zu regnen, doch noch immer verdeckte eine dicke Wolkenschicht die Sicht auf den Sternenhimmel. Cassie konnte die Sterne jedoch spüren, ihre glänzenden kalten Augen hinter den grauen Schlieren der Wolken. Sie fragte sich, ob die »Anderen« auch von den Sternen gekommen waren, aus dem Himmel. Kamen Götter nicht aus dem Himmel? Oder waren das nur die guten Götter?
Das Tosen des Flusses beruhigte sie. Es schien ihr fast wie ein Chor von Stimmen, die sich lautstark unterhielten und auch ihr immer wieder das eine oder andere Wort zuriefen. Bei der Dunkelheit konnte sie nicht sehen, welche Farbe das Wasser hatte, doch vermutlich war es immer noch braun vom Schlamm und voller toter Gegenstände.
Nicht weiß.
Nicht leuchtend in der Dunkelheit.
Nicht so eiskalt, dass das Wasser gefror.
Aber dann war dieser Fluss auch nicht der, von dem sie geträumt hatte. Immer wieder, seit Nächten, seit Wochen, seit Monaten. Der leuchtende, kalte Fluss, der zu ihr sprach, nein, der ihrem Herzen entsprang und ihr ganzes Wesen ausfüllte. Der Fluss, der ihre innere Stimme war.
Sie war aufgewacht in der Wärme der Scheune und hatte die Eiskristalle auf ihrem Schlafsack gesehen, die dünne Eisschicht, die sich ihre Arme hinaufzog, die Flocken, die sich in ihren Haaren verfangen hatten. Sie konnte sich an das Gefühl erinnern, wie ihre Lippen vom Frost aufeinander geklebt hatten. Kälte.
Wie die Kälte der »Anderen«.
Wer war sie?
Der Fluss rauschte, als kenne er eine Antwort auf diese Frage. Doch Cassie konnte ihn nicht verstehen. Sie sprach nicht seine Sprache – oder wollte sie nicht sprechen.
Einen Augenblick lang überlegte sie was passieren würde, wenn sie sich einfach in den Fluss stürzen würde. Die Ufer hier waren steil und das Wasser strömte mit hoher Geschwindigkeit dahin. Es wäre nicht schwer, sich von ihm mitreißen zu lassen.
Doch Cassie wusste nicht, ob sie überhaupt ertrinken konnte.
Wer bin ich?
»Cassie!«
Im ersten Moment glaubte sie, die Stimme lieferte die Antwort auf ihre unausgesprochene Frage. Dann wiederholte sich der Ruf und sie konnte Schritte im Uferschlamm hören, die sich rasch näherten. »Cassie! Komm zurück!«
Sie blieb stehen und wartete, da sie das Gefühl hatte, Navin sowieso nicht entkommen zu können. Wenn es jemanden gab, der sie finden konnte, dann er. Sie gehörten zusammen, so viel hatte sie begriffen. Das war auch das Einzige, was sie von dem Traum akzeptieren konnte.
Seine schemenhafte Gestalt schälte sich aus der Dunkelheit und kam rasch näher.
Jetzt, wo er nicht mehr wankte und auf seinen eigenen Beinen stehen konnte, kam er Cassie viel größer vor als noch am Abend zuvor. Größer und dünner. Beinahe war sie überrascht, dass er keine Robe trug. Aber als er bei ihr angekommen war, sah er aus wie ein ganz gewöhnlicher Mensch. Ein bisschen groß, ein bisschen mager, mit besorgten Augen in einem hohlwangigen Gesicht.
»Warum bist du weggelaufen?« Er blieb neben ihr stehen, schob die Hände in die Taschen seiner abgewetzten Jeans und starrte auf das Wasser des Flusses hinaus.
»Das fragst du noch?«
Sie war sich sicher, dass sie diesen Traum geteilt hatten. Es gab keinen Zweifel. Das Einzige, was sie nicht sagen konnte, war, ob es sich tatsächlich um einen Traum gehandelt hatte. Es hatte sich anders angefühlt. Mehr wie ... eine Vision. Von der Art Wahrheit durchdrungen, die sie auch in dem Rauschen des Flusses hörte.
»Ich will Lennart nicht umbringen«, sagte sie so leise, dass sie nicht sicher war, ob Navin sie überhaupt hören konnte.
Er schwieg und sah weiter auf das Wasser hinaus.
»Ich bin doch kein Fluss«, begehrte Cassie auf, als ihr sein Schweigen zu viel wurde. »Wie kann das sein, dass ich ich bin und doch dieser ... Totenfluss sein soll? Ich bin ein Mensch wie alle anderen auch. Warum soll ich dafür verantwortlich sein, dass Menschen sterben müssen?«
Navin schwieg immer noch. Allerdings zog er eine Hand aus der Hosentasche und legte den Arm um Cassies Schultern. Am liebsten hätte sie ihn weggestoßen, doch dann bemerkte sie, dass ihr die Wärme gut tat, und sie ertappte sich dabei, dass sie sogar noch ein kleines Stück näher zu ihm rückte. Es fühlte sich menschlich an hier zu stehen, so nahe bei Navin. Nur, dass sie offensichtlich nicht menschlich sein sollte.
»Wer hat mich zu dem gemacht? Ich hatte ein ganz normales Leben, bevor ... vor ... bevor die »Anderen« kamen. Ich habe mich doch nicht verändert!«
»Nicht?«
Er hatte so lange geschwiegen, dass der Klang seiner Stimme sie nun beinahe erschreckte. Sie zuckte zusammen und spürte, wie sich der Druck seines Armes um ihre Schulter ein wenig verstärkte. Er beschützt mich nicht, dachte sie bitter, er sorgt dafür, dass ich nicht noch einmal davonlaufe.
»Nein, habe ich nicht. Und ich bin sicher kein Fluss. Ich will mein Leben zurück. Und ich will, dass Lennart überlebt. Ich will, dass alle Kinder bei mir überleben. Dafür habe ich sie doch die ganze Zeit gehütet.«
Navin schwieg. Die Hand auf ihrer Schulter spielte mit den Laschen der Parka und wieder hatte Cassie das Bedürfnis, sich einfach diesem Moment hinzugeben. Das Gefühl zu genießen, dass sie zusammengehörten. Fluss und Fährmann. Styx und Charon. Cassie und Navin.
Nein!
So ein blödsinniger Gedanke!
Cassie schlüpfte unter Navins Arm hervor, so plötzlich und energisch, dass er nichts dagegen tun konnte. Er machte keine Anstalten, sie aufzuhalten. Stattdessen stellte er eine Frage. »Woran kannst du dich erinnern?«
»Wie bitte?« Cassie spürte einen unbestimmten Zorn in sich aufsteigen, als rühre diese Frage an etwas, an das sie gar nicht erst denken wollte.
»An was aus deinem alten Leben kannst du dich erinnern? Du sagst, du hast dich nicht verändert, bist nicht anders als alle anderen auch. Also frage ich dich, was du noch weißt? Wer waren deine Eltern? Hattest du Geschwister? Bist du zur Schule gegangen? Hast du eine Ausbildung gemacht? Was hast du gelernt?«
Die Fragen kamen schnell hintereinander, wie von einem Gewehr abgefeuert. Cassie konnte nicht anders, als einige Schritte vor Navin zurückzuweichen, unter dem Andrang seiner Stimme.
»Ich ... natürlich hatte ich eine Familie. Meine Eltern ...«
Sie hatte ein bestimmtes Bild vor Augen. Zwei Menschen, von denen sie glaubte, sie müssten ihre Eltern sein. Doch als sie darüber sprechen wollte, merkte sie, wie das Bild verschwommen wurde und vor ihrem inneren Auge zerfloss. Sie hätte nicht einmal sagen können, welche Haarfarbe die beiden gehabt hatten. Sie versuchte, sich an ihre Wohnung zu erinnern. Oder an das Haus, in dem sie gewohnt hatten. Oder an Haustiere. Oder an eine Schulklasse. Sie wusste, dass es so etwas gegeben haben musste, wenn sie ein ganz normales Leben geführt hätte wie die anderen jungen Frauen ihres Alters auch, doch jedes Mal, wenn sie versuchte, einen dieser Gedanken oder eines der Bilder zu fassen zu bekommen, verschwand er genauso wie das Bild ihrer Eltern. Schließlich stand sie da, mit nichts als einem leeren Kopf. Ohne jede Erinnerung an das, was sie geglaubt hatte, zu sein.
Cassie blickte zu Navin auf. Sie glaubte zuerst, es müsse wieder regnen, denn sie spürte die nassen Spuren auf ihren Wangen und sah auch etwas in seinem Gesicht glitzern. Dann erst merkte sie, dass sie weinte. Seltsam. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals geweint zu haben.
»Ich kann mich nicht erinnern«, murmelte sie.
»Ich auch nicht«, entgegnete er, trat einen Schritt auf sie zu und legte erneut seine Arme um sie. Dieses Mal ließ Cassie es zu. Sie lehnte ihr Gesicht gegen sein schmuddeliges T-Shirt und atmete den Geruch nach altem Flusswasser und Schweiß ein.
»Ich dachte, du warst Matrose«, murmelte sie in den zerschlissenen Stoff.
»Das ist aber auch alles, was ich weiß. Bevor ich die Menschen zum Raumhafen gefahren habe ... ist eine große Leere. Ich kann einfach nicht den Finger darauf legen. Ich kenne weder Namen von Kollegen noch von Schiffen, auf denen ich gefahren bin. Und man sollte doch meinen, dass ich mich an so etwas erinnern könnte, oder nicht?«
Sie schwiegen. Cassie hatte Schwierigkeiten Luft zu bekommen, doch sie wollte auch nicht ihr Gesicht aus seinem T-Shirt nehmen. Die Gedanken jagten sich in ihrem Kopf und sie versuchte, diese in eine einigermaßen sinnvolle Ordnung zu bringen.
»Du glaubst, wir haben vor der Katastrophe überhaupt nicht existiert?«, fragte sie schließlich. »Ist es das, was du mir sagen willst? Dass wir ... irgendwie vom Schicksal berufen worden sind?«
Er zuckte mit den Schultern. Cassie konnte die Bewegung spüren.
»Ich glaube, die Anderen haben uns hierher gebracht, um eine Aufgabe zu erfüllen, die getan werden muss«, sagte er. Sein Atem strich über ihr Haar.
»Was interessiert es die Anderen, was aus diesen Kindern wird? Sie haben die Erde übernommen, reicht ihnen das nicht?«
Wieder Schweigen.
Cassie atmete jetzt ruhiger. Sie konnte Navins Herzschlag an ihrer Stirn spüren. Wie konnte ein Herz, das so laut und regelmäßig schlug, nicht real sein? Keinem Menschen gehören, der schon immer auf dieser Welt umhergewandelt war? Das war doch nicht möglich.
»Ich glaube, die Anderen sind gar nicht so anders«, sagte er schließlich. Doch seine Stimme klang unsicher, als könne er seiner eigenen Theorie selbst nicht glauben. »Ich glaube, sie sind weniger anders als ... alt. Und sie haben beschlossen, dass die Welt jetzt wieder ihnen gehört.«
»Wieder?« Cassie schniefte und merkte erst jetzt, dass sie immer noch weinte.
»Wieder«, bestätigte Navin und zögerte nur kurz, bevor er den nächsten Satz hinzufügte. »Ich glaube, es sind Götter.«
»Götter?« Cassie versuchte zu lachen, doch es kam nur ein Schnauben heraus. Sie kam sich allmählich vor wie ein Papagei.
»Hast du nie vom Olymp gehört?«
»Ich habe doch keine Erinnerung, hast du das schon vergessen? Dein Gedächtnis muss noch schlechter sein als meines«, gab sie patzig zurück. Sie konnte gerade noch den Impuls unterdrücken, ihn von sich weg zu stoßen.
»Du weißt trotzdem darüber Bescheid«, stellte er fest, als ob es sich dabei um eine Tatsache handelte.
Und er hatte Recht.
Wenn Cassie an das Wort »Olymp« dachte, tauchten sofort allerlei Bilder vor ihrem inneren Auge auf. Bilder von Menschen – oder etwas, das aussah wie Menschen. Etwas, das irgendwie größer und fremdartiger, und gleichzeitig seltsam vertraut war.
»Die alten Götter sind zurückgekehrt und haben beschlossen, die Welt wieder an sich zu nehmen?«, murmelte sie. »Klingt wie in einem schlechten Film.«
»Wir haben beide nie einen Film gesehen«, entgegnete Navin.
»Ist mir egal.«
Cassie wurde auf einmal klar, was es bedeutete, wenn Navin Recht behielt. Wenn die »Anderen« Götter waren. Wenn diese Götter sie und Navin hierher gebracht hatten, um eine Aufgabe zu erledigen. Wenn sie Erinnerungen an den Olymp hatte, aber keine Ahnung, wie ein Kino von innen aussah.
»Ich gehöre nicht zu denen«, fauchte sie und versuchte dieses Mal wirklich, sich aus seiner Umarmung zu befreien. Doch Navins Arme hielten sie fest und ließen sie nicht entkommen. »Ich bin nicht anders, bin kein Gott. Und vor allem bin ich kein verdammter Totenfluss«, knurrte sie. Sie überlegte, ob sie ihn beißen sollte, aber vermutlich hätte ihm das nicht besonders viel ausgemacht. Außerdem war es nicht schön, jemanden zu beißen, mit dem man schon so lange zusammen arbeitete.
»Ich helfe niemandem dabei, kleine Kinder umzubringen.«
»Das musst du auch nicht.«
Warum war seine Stimme noch so ruhig? Wie konnte er so gelassen sein? Sah er denn nicht, was hier passierte? Erkannte er nicht, dass sie alle ein Spielball der Anderen, der Götter – oder was auch immer sie sein mochten – waren?
»Du musst niemanden umbringen. Du musst nur die Sterbenden und Toten zusammenhalten. Zu mir bringen. Du erleichterst ihnen ihren Weg. Sie sterben ohnehin. Aber ohne dich ... und ohne mich ... werden sie immer hier gefangen sein.«
Endlich ließ er sie los und machte eine weite Handbewegung um die ganze Umgebung zu erfassen.
Cassie entdeckte zu ihrer Überraschung, dass es hell geworden war. In der kurzen Zeit, in der sie hier am Ufer gestanden und geredet hatten, war eine blasse Sonne aufgegangen und trieb nun zwischen Wolkenschleiern am Himmel. In ihrem fahlen Licht strömte der braune Fluss dahin und trug Kadaver von Mäusen und Vögeln vorbei.
»Ist das die Welt, in der die Kinder leben sollen?«, fragte Navin.
»Es ist die Welt, die sie kennen«, knurrte Cassie. »Ich sehe nicht ein, dass sie hier nicht bleiben können. Sie haben nichts getan, was den Tod verdient hat. Ich habe genug von dieser ganzen Arbeit. Ich will nicht mehr die Toten hinübertragen in ihr Reich. Jedes Mal fragen sie sich, wie es dort drüben aussieht. Und ich kann ihnen keine Antwort geben. Ich kann ihre Ängste spüren, wenn sie ins Wasser starren, wenn sie überlegen, ob sie vielleicht besser dran wären, wenn sie über die Reling springen und sich treiben lassen. Sie fragen sich, wohin das Wasser sie bringen wird, wenn sie sich treiben lassen. Ob der Fluss der Unterwelt nicht irgendwie verbunden ist mit ihrem eigenen Bach oder Flüsschen vor der Haustür. Ob sie nicht auf diesem Weg zurückkehren können. Ob es jemanden gibt, der ihnen folgen und sie befreien wird, wie dieser dumme Junge Orpheus damals. Aber er ist der Einzige geblieben. Und die anderen ... die anderen wollen nicht sterben. Sie wollen nicht alleine sein, nicht irgendwohin gebracht werden, an einen Ort, der ihnen nicht vertraut ist, ganz alleine.«
Jetzt strömten die Tränen über ihre Wangen. Plötzlich waren die Erinnerungen wieder da, aber nicht jene, die sie sich gewünscht hätte. Da gab es keine fürsorgliche Familie, kein Leben unter den Menschen, niemanden, der sie morgens weckte und zur Schule schickte. Da gab es nur die dunklen Höhlen und feuchten Kavernen der Unterwelt und ein einsames Dasein, allein in Gesellschaft eines ebenso frustrierten Fährmanns.
Sie hatte keine Ahnung, wo diese Erinnerungen auf einmal hergekommen waren, und noch viel weniger, wo sie die ganze Zeit gewesen waren. Die Zeit, in der sie geglaubt hatte, ein Mensch zu sein.
Cassie wischte sich die Tränen mit dem Handrücken von den Wangen. Sie sah Navin nicht an.
»Ich gehe nicht mehr zurück«, murmelte sie. »Und du wolltest auch nicht mehr zurückgehen. Wir haben eine Vereinbarung getroffen, du und ich. Wir bekommen so etwas wie ein Leben. Und wir geben uns nie, nie, nie wieder mit Toten ab.«
Navin schwieg wieder.
Cassie zwang sich, weiter auf den Fluss zu starren. Sie hatte Angst, dass Navin sich verändert haben könnte, wenn sie ihn ansah. Dass er wieder seine dunkle Robe tragen könnte und den ergebenen Gesichtsausdruck, den er immer zur Schau gestellt hatte, wenn Menschen zu ihnen gekommen waren.
»Ich gehe nicht zurück«, wiederholte sie. »Niemand kann mich zwingen!«
Fröstelnd zog sie die Parka enger um sich und begann, langsam flussabwärts zu stapfen. Der nasse Boden zerrte an ihren Schuhen und versuchte, sie an Ort und Stelle festzuhalten, aber sie konnte keine weiteren Schritte hören oder sonst einen Hinweis darauf, dass Navin ihr folgte. Gut so. Sie wollte alleine sein. Sie würde niemanden mehr umbringen. Göttin oder nicht, Pflicht oder nicht, niemand konnte jahrhundertelang einen solchen Dienst verrichten und kein Herz für die Verlorenen haben.
*
Navin sah Cassie hinterher, machte aber keine Anstalten, sie aufzuhalten. Jetzt, wo sie davon gesprochen hatte, war auch ihm wieder alles eingefallen, als hätte sie mit ihren Worten einen Vorhang vor seinen Erinnerungen zurückgezogen: Die Unterwelt, die sie beide nie erreichen würden, denn ihre Aufgabe lag davor. Die dunklen Höhlen und Kammern, das ewige Rauschen des Flusses. Es hatte eine Zeit gegeben, da war auch ihm dieses Leben gehörig auf die Nerven gegangen. Er wusste nicht, wie lange das her war. Der Tag, an dem Styx und er ihre Posten verlassen und sich unter die Menschen gemischt hatten, mochte ein paar Tage oder Wochen her sein, oder auch Jahrhunderte. Navin hatte keine Erinnerungen an seine Wanderungen vor der Zeit, in der die Götter - die Anderen - ihn wieder zu seinem Dienst berufen hatten.
Er fragte sich, was mit den Menschen geschehen war, die er am Raumhafen abgeliefert hatte. War das die neue Unterwelt gewesen? Hatte er seinen Dienst schon wieder aufgenommen? War alles wieder beim Alten?
Er schüttelte den Kopf. Wenn er nur wüsste, was nun zu tun war?
Er sah Cassies Gestalt immer kleiner werden. Lennarts Bild stieg wieder vor seinem inneren Auge auf. Konnte er den kleinen Jungen ohne Cassie hinüberbringen? Oder sogar gegen ihren Widerstand? Er musste es jedenfalls versuchen. So lassen, wie es jetzt war, konnte er es auch nicht. Er musste eine Lösung finden.
Navin wandte sich von Cassie ab und ging langsam flussaufwärts.
Rona erwartete ihn am Scheunentor. Im Sonnenlicht wirkte sie auf einmal viel älter als zuvor, aber vielleicht war es auch so, dass sie allmählich ihre Tarnung aufgab. Ihre Wangen waren gerötet, ihre Augen dunkel wie tiefe Brunnen. Sie sagte nichts, als Navin ohne Cassie zurückkehrte, und machte bereitwillig Platz, als er sich unter der Tür hindurchbückte und in das Dämmerlicht der Scheune trat. Aber in ihren Augen lag ein unausgesprochener Vorwurf und eine Enttäuschung, die tiefer war, als ein Kind sie empfinden mochte.
Navin achtete nicht auf sie. Wer auch immer sie war - wahrscheinlich nur eine Botin, nicht einmal eine der großen Göttinnen - sie hatte keine Ahnung von seiner Arbeit und wie sie erledigt werden musste. Sie hatte keine Vorstellung davon, wie schwer oder leicht es sein mochte. Wahrscheinlich glaubte sie, er selbst wäre nur ein einfacher Diener und könne nichts Anderes, als Befehle zu befolgen. Sie sollte noch sehen, dass Charon durchaus ein Gott sein konnte, wenn er sich dazu entschied.
Die Kinder spielten in der Scheune unter den wachsamen Augen von Max. Dieses Mal machte der Junge keinen Aufstand, als Navin eintrat. Wahrscheinlich hatte er sich schon an den Erwachsenen gewöhnt. Armer Junge. Wenn er wüsste, dass ihm von Navin noch viel mehr drohte, als er vielleicht angenommen hatte.
Auch dich muss ich hinüberbringen, dachte Navin traurig.
Aber Max konnte seine Gedanken nicht hören und schenkte Navin sogar ein schwaches Lächeln, als dieser an ihm vorbei zu Lennarts Lager ging.
Der Junge lag vollkommen ruhig, die Augen geschlossen, die Wangen noch eingefallener als die der anderen Kinder. Seine Haut war so weiß, dass sie beinahe durchsichtig wirkte. Ein kleines Mädchen saß an seiner Seite und hielt seine Hand fest, aber sie sah so aus, als wüsste sie nicht genau, warum sie das eigentlich tat. Als Navin sich wortlos bückte und den Jungen auf seinen eigenen Arm hob, ließ sie erleichtert die Hand los und rannte zu den anderen spielenden Kindern.
Lennart war sehr leicht, beinahe, als hätte Navin tatsächlich schon einen Geist auf dem Arm. Er blickte auf das reglose Gesicht des Kleinen hinunter und unterdrückte das Bedürfnis, ihm die Haare aus der Stirn zu streichen. Dies war nicht der Zeitpunkt, Zuneigung zu dem Kleinen aufzubauen.
»Wo willst du hin?«
Gerade als Navin mit Lennart die Tür erreicht hatte, stellte Rona sich ihm in den Weg. Jetzt sah sie erst recht nicht mehr klein und unschuldig aus. Im Gegenteil, sie schien in den letzten Minuten gewachsen zu sein und ihre vorher dunklen Augen glühten in einem unheimlichen Licht, das Navin an brennenden Bernstein erinnerte.
»Du kannst ihn nicht retten. Du kennst deine Aufgabe. Willst du uns jetzt auch in den Rücken fallen?«
»Nein.«
Trotz ihres unheimlichen Aussehens steckte Rona doch noch im Körper eines kleinen Mädchens. Navin schob sie einfach zur Seite und stapfte mit Lennart auf dem Arm hinaus ins Licht.
Hier draußen wirkte die Haut des Jungen noch blasser, seine Anwesenheit noch unwirklicher. Er bewegte sich kein bisschen, nicht einmal die Augen hinter den geschlossenen Lider zuckten. Weder Navins Berührung noch die Wärme der Sonne auf seiner Haut schienen ihn zu erreichen. Wenn sich seine Brust nicht leicht und regelmäßig gehoben und gesenkt hätte, hätte man glauben können, das Kind sei schon tot.
Niemand folgte ihnen aus der Scheune. Vielleicht hielt Rona sie zurück, vielleicht spürten die Kinder aber auch instinktiv was hier vorging und hielten sich fern. Der Tod war nicht schön und in ihrem Alter vermied man es, an ihn zu denken.
Navin blieb einen Augenblick stehen und sah sich um. Jetzt, wo es nicht mehr regnete, erschien die Landschaft beinahe freundlich. Wiesen und Felder erstreckten sich hinter der Scheune bis zum Horizont. In der Ferne waren die Ruinen einer Stadt erkennbar. Vor Navins Füssen fiel das Gelände zum Fluss hin ab, und jetzt, wo ein wenig Licht darauf fiel, öffneten ein paar Gänseblümchen zögernd ihre Köpfe und sprenkelten das Gras weiß. Ein idyllisches Bild, das ganz ohne Menschen auszukommen schien.
Navin wandte sich von dem Märchenbild ab und begann langsam, flussaufwärts zu gehen.
Das Laufen fiel ihm schwer. Der nasse Boden klebte in dicken Klumpen an seinen Stiefeln und selbst das leichte Gewicht des Jungen auf seinen Armen machte sich bald bemerkbar.
Natürlich, du hast seit Tagen nichts mehr gegessen außer zwei Schokoriegeln, dachte Navin, bevor ihm einfiel, dass er im Grunde überhaupt nichts zu Essen brauchte.
Er war der Fährmann. Und wenn er sich recht erinnerte, hatte er in der ganzen Zeit seiner Existenz nichts anderes gegessen als eben jene zwei Riegel. Sie würden das Erste und Letzte sein, was er je zu sich genommen hatte. Er brauchte keine Nahrung zum Überleben. Götter kannten keinen Hunger.
Doch je weiter er kam, desto mehr zweifelte er selbst an dieser Erkenntnis. Seine Beine wurden schwer, seine Augen begannen zuzufallen, er konnte schmerzhaft die Muskeln in seinen Armen spüren. Vielleicht war dieser menschliche Körper eben doch anfällig für Dinge, die Charon, dem Fährmann, nichts ausgemacht hätten. Und was noch schlimmer war: sein Ziel war noch lange nicht in Sicht.
Sein Ziel ...
Navin war sich auf einmal überhaupt nicht mehr sicher, ob sein Plan funktionieren würde. Woher wollte er wissen, dass der Raumhafen wirklich der Übergang in die Unterwelt war? Was, wenn er sich das alles nur zusammengereimt hatte?
Der Junge auf seinem Arm schien jetzt Tonnen zu wiegen. Vor Navins Augen flimmerte die Helligkeit des Tages. Die Landschaft verschwamm zusehends und er merkte, wie seine Beine unter ihm nachgaben. Für einen Moment den Jungen absetzen und ausruhen. Diesem menschlichen Körper ein wenig Entspannung gönnen. Dann konnte er weiter. Vielleicht hätte er Rona fragen sollen, wie er sein früheres Selbst zurückbekommen konnte. Den Körper, der für Hunger, Erschöpfung und Müdigkeit nicht anfällig war.
So vorsichtig wie eben möglich legte Navin den Jungen auf den weichen, schlammigen Boden. Am Besten wäre es gewesen ein wenig Schatten zu finden, damit sie beide sich erholen konnten, doch weit und breit war die Landschaft frei und offen. Nur der Fluss rauschte gleichmäßig zu ihrer Linken.
Navin ließ sich neben Lennart auf den Boden sinken, streckte sich und schloss die Augen. Die Sonne schien so hell, dass er sie selbst durch seine geschlossenen Augenlider wahrnehmen konnte. Rotes Licht glühte vor seinen Augen und wieder fühlte er sich an die Unterwelt erinnert. Rotes Licht. Dunkle Gänge und rotes Licht und das manchmal weiße Wasser der Styx.
Er musste noch erschöpfter sein, als er zunächst angenommen hatte. Der Boden schwankte unter ihm, sein Gleichgewichtssinn spielte verrückt. Das Rauschen des Flusses drang unnatürlich laut zu ihm durch, schien ihn vollkommen zu umgeben, ihn mitzureißen. Und es war dunkel.
*
Das Boot hing immer noch an seinem Felsen, doch das Wasser stand inzwischen fast bis zum Rand. Es war ein Wunder, dass das kleine Gefährt noch nicht gekentert war. Der Junge kauerte am Bug und starrte ängstlich auf das reißende Wasser. Navins Robe war durchnässt bis über die Knie und inzwischen konnte er auch noch etwas anderes wahrnehmen als das gleichmäßige Rauschen. Ein wildes, lautes Toben und Fauchen, ein Donnern und Krachen, das er in seinem vorherigen Traum - wenn es ein Traum gewesen war - nicht bemerkt hatte.
Navin wusste untrüglich, was das Geräusch bedeutete: ein Wasserfall.
Irgendwo vor ihnen in der Dunkelheit stürzte sich das weiße Wasser der Styx eine Klippe hinunter. Und dem Klang nach, war es keine kleine Klippe.
Vor Navins innerem Auge manifestierte sich das Bild von spitzen Steinen und scharfen Felsgraten. Einen Sturz von dieser Klippe würde er nicht überleben, das wusste er. Genauso wie er wusste, dass genau das Styx' Absicht war. Sie kannte keinen anderen Ausweg mehr. Wenn sie nicht entkommen konnte, musste sie ihn - den Fährmann - umbringen. Kein Fährmann, keine Fahrt in die Unterwelt. Und dann würde Styx frei sein.
Das Wasser war kalt. So kalt, dass Navins Robe gleichzeitig nass und steifgefroren um seine Beine schlug. Die lähmende Kälte kroch durch seinen Körper und schien ihn auszufüllen. Er konnte sich nicht bewegen. Nicht einmal einen Finger hätte er rühren können, selbst wenn er es gewollt hätte. Aber auch das erschien ihm viel zu viel Aufwand. Er konnte sowieso nichts tun. Gegen die Strömung kam er mit seiner Stange nicht an und früher oder später würde das Boot kentern und Lennart und er würden über die unsichtbare Klippe ins Nichts gerissen. Kein Grund, sich dagegen noch aufzulehnen. Keine Chance für ihn. Er konnte genauso gut hier sitzenbleiben und warten, dass es geschah.
»Bitte!«
Die Stimme des Jungen war leise, kaum hörbar über dem Rauschen, und Navin war sich zuerst gar nicht sicher, ob er überhaupt gesprochen hatte. Und mit wem? Dem Fluss? Keine große Chance.
»Bitte!«
Wieder dieser Laut. Als Navin den Kopf hob, sah er, dass der Junge ihn anblickte. Die großen Augen glänzten im schwachen weißen Licht des Flusses.
»Bitte! Ich habe die Überfahrt bezahlt. Ich will nicht untergehen. Ich will endlich ... drüben sein.«
»Der Fluss will nicht, dass wir hinüberkommen.«
Navins Stimme war nur ein heiseres Krächzen. Trotz all dem Wasser in der Höhle war sein Hals trocken, seine Zunge schwer und geschwollen.
»Bitte. Du bist doch ihr Freund. Du musst mit ihr reden.«
Die Hoffnung war fast vollständig aus den Augen des Jungen verschwunden und dieser Anblick tat Navin in der Seele weh. Eine große Welle schwappte heran, überspülte die Bordwand und durchnässte den kleinen Jungen von Kopf bis Fuß, doch er rührte sich noch immer nicht und hielt seinen Blick unverwandt auf Navin gerichtet.
»Bitte!«
Ich habe schon mit ihr geredet, sie will es nicht einsehen, dachte Navin, doch die Augen des Jungen hielten ihn fest und ließen ihn nicht entkommen. Nicht mit so einer einfachen Ausrede. Nicht, wenn doch mehr auf dem Spiel stand, als Navins eigenes Überleben.
Er kämpfte sich auf die Füße, unendlich langsam und behindert durch die steife Robe um seine Beine. Es fühlte sich so an, als wäre sein ganzer Körper zu Eis erstarrt, nicht nur die Kleidung. Mit steifen Beinen stakste er zum Heck, um die Stange wieder an sich zu nehmen. Doch als er da war, konnte er die Arme kaum heben, geschweige denn die Stange packen. Stattdessen stand er nur wie gelähmt am Heck, das sich langsam aber sicher um den Stein herum drehte, und starrte in das weiße Wasser. Schaum und Wellen schienen Gesichter zu bilden. Gesichter und Hände und Körper, aber im Grunde war es immer nur das gleiche Gesicht: Cassie. Immer wieder Cassies schmale Wangen und traurige Augen.
Navin stand da und sah auf sie hinunter.
Die Gesichter flossen ineinander, trennten sich wieder, blickten ihn an mit stummem Vorwurf. Hände griffen nach dem Boot, nasse Finger krochen über das Holz und hinterließen Eisspuren darauf. Weiße Schneekristalle bedeckten die Reling; zarte, filigrane Gebilde. Zu hübsch, um tödlich zu sein.
Er wusste nicht, was er sagen sollte. Sie hatte ja Recht. Er hatte es genauso satt wie sie, ein Spielball des Schicksals zu sein. Auch er hatte sich vom Leben mehr erhofft, als seine Pflicht zu erfüllen. Eine Pflicht, die immer und immer andauerte und nicht einmal befriedigend war. Charon wusste nicht einmal, ob er sie jemals als befriedigend empfunden hatte. Vielleicht vor langer Zeit, aber er konnte sich nicht mehr erinnern.
Und doch war da dieser kleine Junge und es war nicht fair, ihn leiden zu lassen.
»Ich weiß ... es ist nicht gerecht«, flüsterte Charon. »Ich möchte es auch nicht mehr tun. Aber das hier ... das ist keine Lösung. Wenn du mich tötest, was dann? Was passiert mit all den Menschen, die sterben? Geister, die die Welt bevölkern? Ist es gerecht, sie auf einer Welt zu lassen, die doch den Lebenden gehören sollte?«
Das Rauschen schwoll an, bis es einem Knurren glich, und heftige Strudel rissen am Boot. Schneller jetzt drehte es sich um seinen Felsen herum. Charon spürte, wie sich der Bug langsam aber sicher in die Strömung wandte und das kleine Boot zu treiben begann. Das Dröhnen des Wasserfalls war nun überall.
»Es wird jemand anderes kommen«, sagte er und wunderte sich, wie ruhig er war. »Ein neuer Fährmann. Sie werden nicht zulassen, dass du einfach gehst.«
»Vielleicht kommt dann auch ein anderer Fluss«, flüsterten die Wellen und wilde Hoffnung sprach aus ihnen. Die Gesichter drückten Freude aus. Charon hatte das Gefühl, dass sich die Strömung ein wenig verlangsamte, aber nicht sehr. Sie trieben noch immer unheimlich schnell dahin.
Er spürte, wie die Strömung am Boot riss. Einzelne Planken begannen zu knarren und zu splittern. Lange würde das kleine Gefährt nicht mehr aushalten. Lennart klammerte sich an die Reling und starrte in das milchige Wasser hinunter. Er sagte nichts mehr, presste nur fest die Lippen aufeinander.
»Wir finden eine Lösung.« Charon war immer noch seltsam ruhig. Am Rande seines Blickfeldes konnte er eine weiße Linie in der Dunkelheit ausmachen. Aufschäumende Gischt von der Kante des Wasserfalls. Sie hatten nur ein paar Augenblicke Zeit. »Wir können das gemeinsam durchstehen. Weil wir zusammengehören. Bring mich um und wo wirst du sein? Haben wir das nicht schon einmal geschafft?«
In dem Moment, in dem er es sagte, stieg ein Bild vor seinem inneren Auge auf. Styx, wie er sie das erste Mal nicht in Form eines Flusses gesehen hatte. Eine blasse, schöne, junge Frau – eine Göttin. Sein Herz hatte gerast bei dem Anblick und damals war ihm bewusst geworden, dass er überhaupt eines besaß. Ein Herz wie alle anderen auch. Nicht zu sehr ein Gott, um irgendwie menschlich zu sein.
»Bitte, Cassie«, sagte er leise. »Lass nicht zu, dass die Anderen wieder zwischen uns kommen. Wir gehören doch zusammen. Schon immer. Wir werden einen Weg finden.«
Das Wasser fauchte. Mit einem großen Satz schoss das Boot nach vorne, über die Kante des Wasserfalls hinaus. Einen Augenblick lang schwebte es in der Luft, um gleich darauf auf eine ruhige, ebene Wasseroberfläche zu klatschen. Von einem Moment auf den anderen war der Wasserfall verschwunden und die weißen Wellen hatten sich in ein sanft dahinströmendes Gewässer verwandelt. Das Boot lag tief im Wasser, doch es schwamm noch, und auf Lennarts Gesicht zeichnete sich Überraschung ab, als er sich in der Dunkelheit umblickte.
»Die Gesichter sind weg«, flüsterte er und zeigte auf das Wasser.
Charon nickte und griff nach der Stange. »Der Fluss hat sich beruhigt«, sagte er. »Sehen wir zu, dass wir auf die andere Seite kommen.«
*
Es dauerte lange, bis Navin erwachte.
Cassie saß mit übereinandergeschlagenen Beinen im weichen Uferschlamm und hatte den Kopf des Fährmanns auf ihren Schoß gebettet. Mit einer Hand strich sie ihm über die nassen Haare, doch es brauchte seine Zeit, bevor er reagierte.
Als er blinzelte, machte Cassies Herz einen kleinen Hüpfer – dieses dumme, menschliche Herz, das sie da hatte. Oder lag es gar nicht am Menschsein?
»Lennart?«, murmelte Navin.
Cassie blickte zur Seite zu dem kleinen Grabhügel am Ufer des Flusses.
»Er ist drüben«, erwiderte sie.
Sie empfand keine Freude bei den Worten, aber es tat auch nicht ganz so weh, wie sie erwartet hatte. Lennart hatte gehen wollen. Nicht so, wie viele andere, die Navin und sie hinübergetragen hatten.
Navin erhob sich schwerfällig und versuchte vergeblich, den Schlamm von seiner Kleidung zu wischen. Dann wandte er sich Cassie zu und lachte.
Sie schüttelte den Kopf. Ihr war nicht nach Lachen zumute.
»Was tun wir jetzt?« Sie bemühte sich, seinen Blick festzuhalten. Es musste eine Antwort geben. Eine, die sie nicht zurück in die Arme der Götter trieb, aber trotzdem den Menschen half.
Navin zuckte mit den Schultern. »Ich schlage vor, wir laufen.«
»Laufen?«
Er nickte. »Lass uns sehen, dass uns die Anderen nicht finden. Es muss einen Ort geben, wo sie uns nicht aufstöbern können.«
»Und dann?« Sie dachte an die Kinder, fragte sich, ob diese allein zurechtkamen.
Vielleicht. Vielleicht auch nicht.
»Dann überlegen wir.«
»Wir werden zu keinem Ergebnis kommen.«
Weglaufen war keine Lösung. Sie hatten es einmal versucht und nun hatten die Götter die Welt, in der sie sich versteckt hatten, überfallen.
»Ich bin sicher, das werden wir doch.«
Navin stand endgültig auf und streckte Cassie seine Hand entgegen, um sie vom Boden hoch zu ziehen. Sie ließ es geschehen. Auch, dass er seine Arme um sie legte. Wieder fühlte sie die Geborgenheit, als sie den Geruch nach Flusswasser einatmete, der an seiner Kleidung klebte. Seine Hand stricht sanft durch ihr Haar.
»Wir machen einfach weiter«, murmelte er nach einer Weile.
»Was?« Cassie versuchte sich loszureißen, doch Navin hielt sie fest.
»Wir können nicht weiter machen! Ich kann das nicht. All die Unschuldigen. Und die, die nicht gehen wollen ...«
»... müssen wir nicht hinüberbringen«, unterbrach Navin sie. »Hör mir zu. Wir machen weiter. Aber wir nehmen nur die mit, die wollen. Von denen wir glauben, dass sie wirklich fertig mit dem Leben sind. Wir können sie nicht hier lassen. Wir können sie nicht leiden lassen. Alle anderen ... schicken wir zurück.«
»Das können wir?« Ihre Stimme brach sich fast. Sie wollte ihm glauben, war sich aber nicht sicher, ob sie es konnte. »Immerhin entscheiden wir nicht über Tod und Leben.«
»Tun wir nicht?«, erwiderte Navin. »Wer tut es dann? Wen kennst du, der über den letzten Übergang bestimmt?«
Cassie stand lange an ihn gelehnt und dachte nach. Sie war sich nicht sicher, ob sie ihm glauben konnte, auch wenn sie es gerne wollte. Aber es war besser als alle Alternativen. Immerhin gab es ihnen so etwas wie Entscheidungsfreiheit. Und es trennte sie nicht voneinander. Jetzt, wo er wieder bei ihr war, wusste sie nicht, wie sie es so lange ohne ihn ausgehalten hatte.
Langsam nickte sie. »Ich will es versuchen.«
Navin drückte sie einen Moment fest an sich. Dann ließ er sie los und gab ihr einen leichten Kuss auf die Stirn.
»Gehen wir!«, sagte er und griff nach ihrer Hand.
Sie gingen flussaufwärts.