Kafkas Geburtstag
Achim Amme
Das Taxi erschien auf die Minute genau.
Wie abgesprochen. Gut.
Es drohte, jeden Moment zu regnen. Nicht so gut.
»Ich komme«, rief ich in die Gegensprechanlage.
Schon auf dem Absprung, steckte ich noch meine Brille und die Dispo ein – vielleicht würde beides noch benötigt werden –, griff nach meinem schwarzen, an der Innenseite von Sternbildern geschmückten Regenschirm, und eilte die Treppe hinunter.
In Gedanken malte ich mir aus, wie ich bereits an der Haustür von einem dienstbeflissenen Chauffeur abgeholt würde, der mir seinen eigenen Schirm entgegenstreckte. Dem war jedoch nicht so. Der Fahrer erwartete mich sitzend in seinem geschützten Taxi. Es kümmerte ihn nicht die Bohne, wie ich durch den plötzlichen Regenguss zu ihm gelangte. Gut, dass ich vorgesorgt hatte!
Nach einem etwas umständlichen Manöver beim Einsteigen hatte ich endlich meinen Schirm im Innenraum des Wagens verstaut, neben dem Fahrer Platz genommen und den Sicherheitsgurt angeschnallt.
»Pünktlich auf die Minute!«, lobte ich ihn.
Wenn er schon ein normaler Taxifahrer war, ohne Spezialauftrag, mich vor der Witterung zu schützen, wollte ich ihm wenigstens das Gefühl geben, dass ich seine Berufsauffassung zu schätzen wusste.
Ich saß abfahrbereit im Auto, blickte nach vorn durch die Windschutzscheibe, registrierte den Regen etwas verschwommen – auch weil ich die Brille nicht aufgesetzt hatte – und wartete, dass er losfuhr. Doch nichts geschah. Reglos schaute er auf den Regen, der vom Himmel herunterprasselte. Die Scheibenwischer standen still. Das Wasser floss in Strömen, kleine Schlieren bildend. Warum startete er den Wagen nicht? Ich sah zu ihm hinüber.
»Wohin geht’s?«, fragte er, ohne den Kopf zu wenden.
Entgeistert starrte ich ihn an, ehe ich meine Sprache wieder fand. »Zum Gericht. Ich dachte Sie wüssten das?«
»Welches Gericht meinen Sie?«
Hatte man ihm denn gar nichts gesagt?
»Ich dachte, Sie haben den Auftrag ...«
»Ich habe nur den Auftrag erhalten, Sie um 7 Uhr 10 hier abzuholen.«
Jetzt nur nicht nervös werden. Ich fischte nach der Dispo in meiner linken Jackentasche, froh, dass ich sie dabei hatte. Da musste es ja draufstehen. Erst als ich sie in der Hand hielt, bemerkte ich allzu deutlich, dass ich nichts erkennen konnte. Ach ja, die Brille. Schön, dass ich auch darauf vorbereitet war. Dabei hatte ich mich schon ohne Brille auf den Weg machen wollen, in völliger Verkennung des Unterschieds zwischen Privatperson und meiner Rolle als Schauspieler.
Ich langte nach meiner Lesebrille, entnahm sie dem silbernen Metallgehäuse, und überflog das Papier, angefüllt mit Daten, Tabellen und Namen. Im Eiltempo blätterte ich hin und her, bis ich schließlich die richtige Stelle fand – gleich auf der ersten Seite.
Da stand es, ziemlich in der Mitte, direkt links unter dem eingegrenzten Kasten mit der unterstrichenen Überschrift »Tagesdisposition«. Name der Serienfolge, Datum und genaue Bezeichnung des Drehtags folgten.
Der Begriff »Drehort« fiel nicht direkt ins Auge, weil alles, was sich im Kasten befand, mit großen, dick gedruckten Buchstaben die Aufmerksamkeit auf sich zog. Und dann waren da noch andere, linierte Kästen. Alles etwas verwirrend für jemand wie mich, der nicht täglich damit zu tun hatte, in der Regel nur ein-, zweimal im Jahr. Umso mehr jubelte ich innerlich über meinen Fund.
»Sievekingplatz 1«, las ich laut vor.
»Hab ich mir schon gedacht«, murmelte er, ohne eine Miene zu verziehen.
Er startete den Motor. Langsam und routiniert bugsierte er seinen Wagen rückwärts aus der Einfahrt. Beruhigt überließ ich mich der Kompetenz meines Fahrers.
Bevor ich weitere Überlegungen zu seiner Person anstellen konnte, kam er mir zuvor: »Sie sind, äh ... Richter?«
Ich nickte, in Gedanken schon am Drehort.
»Als Richter hat man es sicher auch nicht leicht, heutzutage.«
Ich stutzte.
»Darf man fragen, um was für einen Fall es geht?«
Plötzlich begriff ich. Er hielt mich tatsächlich für einen Richter. Dabei trug ich noch nicht einmal mein Kostüm. Hatte der Anrufer vom Produktionsstab ihm denn gar nichts erklärt?
»Nein, ich spiele nur den Richter. Ich bin Schauspieler.«
Nun war seine Neugier erst recht geweckt. Ich gab bereitwillig Auskunft, auch über meine sonstigen Aktivitäten.
»Dann sind Sie ja ein ...«
»... Multi-Talent«, schnitt ich ihm das Wort ab, um sogleich einzuschränken: »Die Gefahr besteht darin, dass man von Vielem etwas versteht, aber nichts richtig.« Der Satz gehörte zu meinem Standardrepertoire, ohne dass er von seiner Gültigkeit je etwas verlor.
Munter miteinander plaudernd erreichten wir den Sievekingplatz. Es regnete noch immer in Strömen. Das Aussteigen würde keinen Spaß machen. Er drängte mich nicht. Und mir blieb noch genügend Zeit. Wir sprachen über die Finanzkrise, die gestiegenen Ölpreise, und wie ihn das in den Ruin zu treiben drohte.
In den 70iger Jahren war mein Vater als Kaufmann Opfer der Ölkrise geworden. Die Banken hatten ihm den Kredithahn zugedreht. Sein schwaches Herz hatte den Schock nicht überlebt. Ich war also in gewisser Weise das Opfer eines Opfers und konnte gut mitreden – selbst wenn ich schwieg.
Ich wunderte mich, dass sich niemand vom Fernsehteam vor dem Gebäude blicken ließ. Wenige Menschen, keine Fahrzeuge. Langsam ließ der heftige Regen nach.
Ich bat meinen Chauffeur um eine Quittung, zahlte den gewünschten Betrag und spannte meinen Regenschirm so auf, dass weder der Innenraum seines Wagens, noch ich dabei nass wurden. Unter den künstlichen Sternenhimmel meines aufgespannten Schirms geduckt, eilte ich die gebogene Auffahrt hinauf und stieg die Stufen zum Gerichtsgebäude hoch.
Das Taxi rollte hinter mir über den feuchten Asphalt davon. Es war ein Tag, wie es viele in der Stadt gab: Grau in Grau. Selbst der Regen war nichts Besonderes, fügte sich ins Bild.
In der Eingangshalle des Ehrfurcht gebietenden Baus, mit seinen massiven Säulen, langen Gängen und hohen Decken, war kaum jemand zu sehen. Auch hier von einem Fernsehteam weit und breit keine Spur. Links vom Hauptgang befand sich ein Glaskasten mit einer älteren, leicht übergewichtigen Dame dahinter.
Wohl die Auskunft, dachte ich. Aber sie hätte auch die Putzfrau sein können, die sich zufällig im Informationsbüro aufhielt.
Ich lehnte mich auf den steinernen Tresen, mit meiner Dispo in der Hand: »Guten Tag! Ich hätte gern gewusst, wo sich hier im Gebäude die Filmcrew aufhält.«
Reglos sah sie mich an.
Es lag nicht einmal ein Staunen über ihren Gesichtszügen. »Von einer Filmcrew weiß ich nichts.«
Na, das konnte ja heiter werden.
»Wir sind doch hier am Sievekingplatz 1, oder?«
»Ja, aber vielleicht wollen Sie in das gegenüberliegende Gebäude.«
Was sollte ich nun davon halten?
Ich hörte einen Mann und eine Frau hinter mir die steinerne Treppe herunterkommen. Die Frau trug eine große, schwarze Tasche. Ich ging auf sie zu.
Schon von weitem fragte ich: »Entschuldigen Sie, gehören Sie zum Filmteam?«
Beide schauten verwundert. Die Frau reagierte am schnellsten: »Nein, tut mir leid. Aber wir fühlen uns geehrt, dass wir so aussehen.«
Ich kehrte zur Auskunft zurück, zückte meine Brille, und suchte nach einer Handynummer auf meiner Dispo, die dort handschriftlich eingetragen war. Die Produktionsassistentin hatte sie mir am Vortag gegeben. »Falls irgendwas ist.«
»Was soll schon sein«, hatte ich noch gesagt, die Nummer trotzdem notierend. »Wenn es Sie beruhigt ...«
Die Frau an der Auskunft schien tatsächlich die richtige Person am richtigen Platz zu sein – was man von mir noch nicht behaupten konnte. Bei genauerem Hinsehen war ich mir allerdings auch in ihrem Fall nicht mehr sicher. Langsam und mühselig drückte sie die Ziffern, die ich ihr diktierte und reichte mir, als das Freizeichen ertönte, den Hörer.
Eine automatische Stimme signalisierte Abwesenheit. Ratlos schaute ich mich in der Eingangshalle um. In jedem Besucher sah ich ein potentielles Filmcrewmitglied. Das führte mich nicht weiter. Schließlich fand ich die Nummer des Produktionsbüros auf meinem Dispo-Blatt und ließ dort anrufen. Diesmal meldete sich die Assistentin, die ich auf ihrem Handy nicht erreicht hatte.
Na, immerhin etwas!
»Ich stehe hier in der Eingangshalle des Gerichtsgebäudes, und niemand weiß etwas von irgendwelchen Dreharbeiten. Vielleicht können Sie mir ja weiterhelfen.«
»O Gott!«
Ich bezweifelte, dass der mir jetzt eine große Hilfe wäre.
»Fragen Sie nach dem Hausmeister.«
Das war mal eine überraschende Alternative. Aber den Hausmeister kannte die Frau hinter dem Tresen auch nicht.
Erstaunlich, dachte ich. Ein öffentliches Gebäude und kein Hausmeister, jedenfalls keiner, der sich nachdrücklich ins Gedächtnis einprägte. Wo gab es denn so was?
Stattdessen rief sie die Technik an. Umsonst. Die Technik wusste auch von nichts. Das kannte ich von der Telekom. Nur dass es da nicht umsonst war, sondern auch noch kostete – zumindest Zeit.
Plötzlich meldete sich die Stimme am Telefon wieder: »In welchem Gebäude sind Sie denn jetzt? Im roten Backsteinbau?«
Ich musste zugeben, dass mich die Frage etwas überforderte.
»Sind wir hier im roten Backsteinbau?«, reichte ich die Frage an die Frau von der Auskunft weiter.
Sie antwortete mit einer Gegenfrage: »Im roten Backsteinbau?«
Allmählich drohte ich, die Geduld zu verlieren. Ich war schon fast im Begriff nach draußen vor das große Eingangstor zu laufen, um mich selbst davon zu überzeugen, wo wir uns befanden. Doch mein Stolz als aufmerksamer, mit offenen Augen durch die Welt gehender Künstler fühlte sich plötzlich herausgefordert. Ich zwang mich zur Konzentration, so als stünde ich als Zeuge vor Gericht – ein Vergleich, der ja nicht völlig abwegig war –, und sogleich fiel mir ein: »Nein, das Gebäude, das ich betreten habe, hat eine helle Fassade aus massivem Stein. Ich bin hier noch ganz in der Nähe des Haupteingangs.«
»Dann fragen Sie nach der Cafeteria,« ertönte es verheißungsvoll durchs Telefon. »Da finden Sie schon jemand vom Team.«
Zwischenzeitlich hörte ich, wie sie mit einer anderen Person über mich sprach: »Der Schauspieler, der den Richter spielt, findet die Crew nicht. Jetzt irrt er irgendwo im Gebäude herum ...«
Das traf den Sachverhalt nur in etwa. Noch befand ich mich im Eingangsbereich und hätte jederzeit wieder hinausgefunden.
»Gibt’s hier eine Cafeteria?«, wandte ich mich erneut an die Dame von der Auskunft.
Zum ersten Mal trat ein Anflug von Lächeln in ihr Gesicht und durchbrach ihren Panzer aus abweisendem Misstrauen, berufsmäßiger Freundlichkeit und gewöhnlicher Routine, mit dem sie mich bisher gemustert hatte. Ich kam mir fast schon wie ein Scharlatan vor, der sich einen unbotmäßigen Scherz mit ihr erlaubte.
Lediglich mein anfängliches, beherzten Auftreten und Insistieren, verstärkt durch die Termine für Maske und Kostüm, die mir im Nacken saßen, hatten ihre möglichen Zweifel an meiner Person ansatzweise verdrängt. Doch je länger die Situation andauerte, umso unsicherer wurde ich mir. Was, wenn ich nun wirklich im verkehrten Gebäude stünde? Und war es überhaupt der richtige Tag? Die Stimme am Telefon klang höchst real. Wog sie mich etwa fälschlich in Sicherheit?
Doch die Frau hinterm Tresen schien sich jetzt sicher: »Zur Cafeteria gehen Sie links rum, den langen Gang bis zum Ende, dann rechts, gleich wieder links und die Treppe hoch. Die Cafeteria ist im vierten Stock.«
Gut, dass es ein Telefon gab. Ich teilte der Assistentin mit, dass ich praktisch auf dem Weg sei und reichte den Hörer über den Tresen zurück.
Um ganz sicher zu gehen, wiederholte ich die Wegbeschreibung meines Gegenübers, bedankte mich höflich und bog um die Ecke. Vorbei an leeren Bänken und zahlreichen Türen auf beiden Seiten des Ganges, schritt ich voran, den zugeklappten Schirm in der Hand.
Es gab nur wenige Menschen, die mir begegneten. Die Türen schienen ins Nirgendwo zu führen. Die Szenerie erinnerte mich an etwas, aber ich wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, an was. Im angekündigten Treppenhaus befand sich ein Fahrstuhl. Wozu sich vier Stockwerke hoch bemühen, wenn es auch einfacher ging?
Ich stellte mich neben einen geschäftsmäßig aussehenden Herrn mit schwarzem Anzug, unauffälliger Krawatte und einem ebenfalls schwarzen, stabilen Aktenkoffer in seiner Hand.
»Wollen Sie auch nach oben?«, fragte ich vorsichtshalber.
Er bejahte. Gemeinsam warteten wir auf den Lift, der sich jedoch Zeit ließ.
Dem Mann im Anzug konnte es scheinbar egal sein. Er suchte in leicht gebückter Haltung nach etwas in seinen Papieren, die er aus dem schmalen, schwarzen Lederkoffer zog. Er blätterte solange darin herum (ohne etwas zu finden), bis der Fahrstuhl eintraf. Das kam mir sinnlos vor, als wollte der Mann nur die Wartezeit überbrücken. Ich stand währenddessen stumm neben ihm und warf gelegentlich einen Blick auf die Leuchtziffern über der Tür, deren Aufflackern allerdings ebenfalls keinen Sinn ergab. Jedenfalls war nicht abzulesen, in welcher Richtung der Fahrstuhl fuhr. Es sah nach einem technischen Defekt aus. Sollte ich doch noch die Treppe benutzen? In dem Moment vernahm ich ein gleitendes Geräusch, und die Fahrstuhltür öffnete sich mit einem leisen Kling.
Der Mann im Anzug drückte den Knopf für die dritte Etage, so dass ich mich genötigt sah, noch den darüber liegenden Knopf zu betätigen. Warum sollte ich den Rest zu Fuß gehen, wenn ich es schon die ersten drei Stockwerke nicht getan hatte?
Die Logik dieses Gedankens war so augenfällig, dass ich sie nicht einmal wahrnahm. Ich folgte lediglich einem Impuls, so wie ein guter Mittelstürmer seinem Riecher, der ihm im richtigen Moment sagt, wo und wie er seinen Fuß oder was auch immer hinzuhalten hatte. Notfalls benutzte er sogar »die Hand Gottes«.
Dass ich den Zeigefinger verwendete, machte mich damit noch nicht zum Heiligen. Und wenn, dann allenfalls zu einem der komischen Art. So in etwa fühlte ich mich nämlich, als ich, nach Verlassen des Lifts, die direkt neben dem Fahrstuhlschacht befindliche, gut gefüllte Cafeteria betrat. Ich musste mich schon arg täuschen, wenn irgendeine dieser so gar nicht auf Wichtig machenden Gestalten zur Filmcrew gehörte.
Mitten im Raum stehend drehte ich mich langsam auf dem Absatz um, demonstrativ in alle Richtungen blickend, um besser wahrgenommen zu werden. Zugleich hielt ich selber scharf Ausschau. Doch ich sah nicht einen einzigen Menschen, der dem Profil eines Fernsehmitarbeiters entsprach. Auch standen keine Gegenstände im angrenzenden Flur, die darauf hätten schließen lassen, dass in diesem Stockwerk Dreharbeiten im Gange waren. Ich begab mich bis ans Ende der Cafeteria, weil ich dort einen weiteren Raum vermutete. Es handelte sich jedoch nur um eine kleine Nische zum Abstellen des benutzten Geschirrs.
Meine Ratlosigkeit stand mir sicher ins Gesicht geschrieben. Doch niemand sah sich genötigt, darin zu lesen. Jeder hier löffelte, über die zahlreichen Tische und Teller gebeugt, seine eigene Suppe. Was nun?
Meine äußere Gestalt befand sich in einem schockartigen Zustand, beinah wie gelähmt, während meine Gedanken in rasender Geschwindigkeit die verbliebenen Möglichkeiten durchprüften. Die Zeit drängte allmählich.
Zunächst einmal galt es diesen Ort der Enttäuschung zu verlassen. Ich begab mich zurück auf den Gang, der zum Fahrstuhl führte und von dem direkt ein weiterer Flur abzweigte. Währenddessen kamen von dort, und aus Richtung Treppenhaus, zusätzliche Besucher in Richtung Cafeteria geströmt.
Warum auch nicht? Schließlich war ja Mittagszeit.
Halbherzig ging ich auf eine gerade eintreffende, kleinere Gruppe zu und stellte die mir schon lächerlich vorkommende Frage nach der Filmcrew oder möglichen Dreharbeiten. Bestenfalls erntete ich ein interessiertes Staunen.
Wo war ich hier hingeraten? Wollte mich jemand für dumm verkaufen? Das konnte doch nicht angehen, dass ein professionelles Team, dessen Produktionen regelmäßig zur besten Sendezeit, und zwar nicht in irgend einem Kuschelsender, sondern dem ersten staatlichen Sender im Lande ausgestrahlt wurden, dass so ein Team und dessen Produktionsstab es nicht für nötig hielten (oder es einfach nicht auf die Reihe bekamen), einen Schauspieler dort hinzubestellen, wo er benötigt wurde.
Ich fühlte mich gedemütigt – verraten und verkauft! Wenn ich mich hätte entscheiden dürfen, zwischen Wut und Enttäuschung, ich glaube, ich hätte ersteres gewählt. Doch wohin mit meinen Emotionen? Es gab keinen Ansprechpartner, der nur ansatzweise zuständig gewesen wäre. Vorwiegend leere Gänge und eine Cafeteria wie von einem andern Stern. Alle Menschen, mit denen ich bislang in diesem Gebäude gesprochen hatte, sahen mich auf meine Fragen hin an, als käme ich von einem fremden Planeten. Gab es mich überhaupt? War ich mir selbst zur Illusion geworden?
Eine amüsante Frage, aber nicht einmal darauf erhielt ich eine Antwort. Von wem auch? Ich war in diesem Umkreis ein komplett Fremder, mit falschem Anliegen, falschem Berufsbild, falscher Identität. War ich etwa selbst derjenige, der etwas nicht auf die Reihe bekam?
Spätestens in diesem Moment vermisste ich mein Handy, über dessen massenhaften Gebrauch ich mich ansonsten eher lustig machte. Ich hätte wenigstens versuchen können, die Assistentin zu erreichen, immerhin eine Person, die mich für real hielt. Aber war sie überhaupt real?
Ich kapierte allmählich, wie Paranoia entsteht, sich auszubreiten beginnt – in wessen Interesse auch immer. Es fängt ganz harmlos an. Ein Mensch wird an einen Ort bestellt. Und dann gibt man ihm das Gefühl, dass seine Anwesenheit weder erwartet wird, noch sonderlich erwünscht ist. Ja, es scheint eher so, als ob seine Gegenwart als unpassend, beinah störend empfunden wird.
Mir kam das Grauen, wenn ich mir vorstellte, wie vielen Menschen es in ihrem Leben genau so erging, oder, was auf dasselbe hinauslief, wer nicht alles auf einem der üblichen Abstellgleise versauerte – in der Schule, beim Militär, im Beruf oder im Privatleben. Ich bekam einen Eindruck davon, was Fremdsein bedeutete, und was für zerstörerische Kräfte durch diesen entwürdigenden Zustand entwickelt wurden. Das Gefühl der Isolation konnte einen Menschen leicht in den Irrsinn treiben. Ich kam mir jedenfalls jetzt schon wie der letzte Idiot vor.
Der Wahnsinn richtete sich jedoch nicht nur gegen die eigene Person, sondern trug ständig die Tendenz zum öffentlichen Ausbruch in sich. Der Mensch war eine wandelnde Zeitbombe, die tickte. Und manchmal tickte sie unregelmäßig, also nicht ganz richtig und wurde unberechenbar. Wut konnte jederzeit in Enttäuschung umschlagen, Enttäuschung in neue Wut und Gewaltbereitschaft. Dann bedurfte es nur noch gewisser dunkler Mächte, die sich solcher Menschen annahmen. Sie gaben den Leuten das Gefühl, dringend gebraucht zu werden, und schon verwandelte sich ein an sich harmloser, lediglich etwas irritiert und hilflos dastehender Mensch in einen Fanatiker oder Terroristen.
War erst einmal das Grundvertrauen in diese Welt zerstört – etwa durch eine kleine, aber wichtig erscheinende Verabredung, die nicht eingehalten wurde – genügte schon ein winziger Anstoß, und die Fahrt in den Abgrund war programmiert, erfolgte so reibungslos, wie vielleicht nichts zuvor im Leben dieses Menschen. All die guten Anlagen, die jeder in sich barg, waren im Handumdrehen zum Teufel! Zerstörung hieße die Ultima Ratio in einer Welt, in der das Gefühl der Zugehörigkeit und des Geborgenseins abhanden gekommen war: Eine wahrhaft verrückte Welt!
Ich beschloss, mich auf den Rückweg zu machen; zurück zur Auskunft, zur Frau hinter dem Tresen. Dort hatte das Missverständnis begonnen – dort erhoffte ich mir das Ende meiner momentanen Verwirrung.
Noch ging ich nicht so weit, meine gesamte Existenz in Frage zu stellen. Dazu war jetzt keine Zeit, obwohl der Ort, ein Gerichtsgebäude, nicht völlig ungeeignet dafür schien. Aber ich hatte ja eine Aufgabe, so lächerlich sie auch sein mochte. Mir war das Amt übertragen worden, in einer beliebten Krimiserie den Richter zu spielen. Es war eine kleine Rolle mit wenig Text, ein paar Sätze nur. Solche Aufträge hatte ich mehrfach zur Zufriedenheit aller Beteiligten ausgeführt.
Spätestens der Blick auf die mir vertraglich zugesicherte Gage hatte mich regelmäßig von der Dringlichkeit einer solchen Aufgabe überzeugt. An jedem Drehtag wurde ich mit einem Schlag in die höchstmögliche Steuergruppe katapultiert. Von Null auf Hundert, sozusagen. Auch wenn das Finanzamt die Hälfte meiner Einnahmen gleich einbehielt, den Großteil des Betrages bekäme ich im Folgejahr, mangels entsprechender Einnahmen, zurückerstattet – ohne Zinsen, versteht sich.
Natürlich gab es zahlreiche Schauspieler, die bedeutendere Rollen erhielten und darum reichlicher entlohnt wurden. Doch ich war mit meinen kleinen Engagements zufrieden. Sie sicherten mir ein Zubrot zu meinen sonstigen Einkünften und erlaubten mir, mich meinen eigentlichen Vergnügungen hinzugeben, die das freie Künstlertum so mit sich brachte: langes Ausschlafen, freie Zeiteinteilung, Spaß am eigenen Schaffen, unabhängig von jedem Erfolgsdruck – jedenfalls bildete ich mir das ziemlich erfolgreich ein. Ja, das war eigentlich mein größter Erfolg: die Illusion eines halbwegs geglückten Lebens!
Aber jetzt stand ich einsam auf dem Flur eines Gerichtsgebäudes, und alles schien wie weggeblasen. Wo befand ich mich wirklich? Gefangen in meinen eigenen Metaphern?
So ein Blödsinn! Schließlich war das hier kein Gefängnis. Ich konnte das Gebäude jederzeit verlassen – vorausgesetzt, dass ich den Ausgang wieder fände, zumindest den Ausgangspunkt meiner Suche.
Allerdings wartete jemand auf mich, und das beschränkte sich nicht auf eine einzelne Person. Ich hatte einen Termin mit einem ganzen Team von Mitarbeitern. Zwar war ich nur ein kleines Rädchen in einer gut geschmierten Maschinerie, aber es gehörte nun einmal zu meiner Auffassung von Pflichterfüllung – unabhängig von der Bezahlung – Termine einzuhalten.
Ein Termin war eine gemeinsame Vereinbarung, eine Art Versprechen, das man gab. Mit Versprechungen hielt ich mich für gewöhnlich bedeckt. Erfahrung hatte mich gelehrt, dass immer etwas dazwischen kommen konnte, zwischen den Versuch der Ausführung und dem tatsächlichen Einhalten einer Vereinbarung. So etwas führte dann leicht zu Irritationen, bis hin zu Vertrauensbruch und Schuldzuwei- sungen – mit den bekannten Folgen.
Selbst kleinste Versprechen stellten eine Bürde dar. Deshalb ging ich so sparsam damit um. Und warum sollte ich mir ohne Not so etwas aufhalsen, zumal bei meinem Anspruch an mich selbst. Ich war viel zu moralisch, um mich mit solchen Dingen zu belasten – wie gesagt, aus Erfahrung klug. Schließlich erwartete ich von anderen ebenfalls, dass sie sich an ihre Versprechen hielten. Da konnte ich nicht mein eigenes System durchlöchern und so tun, als wären diese Ansprüche variabel. Flexibilität hin oder her – ein Versprechen war ein Versprechen! Darauf musste man sich verlassen können. Was sonst gab einem Halt in dieser Welt?
Es schien, als wollten mir die Mauern des Gerichtsgebäudes, in dem ich mich befand, aufmunternd zunicken. Doch damit hätten sie das Versprechen gebrochen, das Gebäude zusammenzuhalten, das sie stützten – und es folglich zum Einsturz gebracht. Also ließen sie, auch in meinem eigenen Interesse, davon ab und stimmten mir auf ihre stumme, unbeugsame Weise zu.
Während mir derlei Gedanken durch den Kopf schossen – sie kannten ihre Wege und Bahnen –, suchte ich meinen Weg zurück, indem ich mich erneut dem Fahrstuhl anvertraute, der mich ins Erdgeschoss befördern sollte. Und er tat es auf seine eigene, beinah lautlose, Verlässlichkeit signalisierende Weise.
Da stand ich nun und hatte die Wahl zwischen mehreren Möglichkeiten. Die Gänge, die sich vor meinen Augen auftaten, verliefen strahlenförmig auf meinen Standpunkt zu. Ein Umstand, der mir auf dem Hinweg gar nicht aufgefallen war, weil mich eine vermeintlich präzise Wegbeschreibung geleitet hatte. Das Labyrinthische des Gebäudes begann ich erst jetzt wirklich zu erfassen, zumal ein Blick durch die hohen Fenster mir anzeigte, dass sich weitere Gebäude anschlossen, die offensichtlich alle miteinander in Verbindung standen.
Schon beim Betreten des Gerichts hatte mich eine gewisse Ehrfurcht befallen, die ich aber lässig beiseite schieben konnte, weil ich zu keinem wirklichen Prozess geladen war. Als eine Art Gast betrat ich das Gemäuer, geschützt durch einen konkreten, zeitlich begrenzten Auftrag – ein Drehtag! – und die für Schauspieler geltende Regel des »Als Ob«.
Ich hatte nur so zu tun, als ob ich in diesem Haus ein- und ausginge. So konnte das Gebäude seine an sich einschüchternde Wirkung nicht zur vollen Entfaltung bringen. Ich war nur ein Tagesausflügler in einer Wirklichkeit, mit der ich ansonsten nichts zu tun hatte.
Gott sei Dank! flüsterte eine innere Stimme mir zu.
Doch jetzt, in dem Moment, in dem ich mich vor die Wahl gestellt sah, einen dieser Gänge zu betreten, um meinen Rückweg fortzusetzen, begann das Gebäude seine einschüchternde Wirkung, in all seiner zweifelhaften Pracht, zu entfalten.
Es war die klassische Situation – ein Mensch, verloren im Labyrinth, ohne Hinweis, ohne helfenden Zuruf, ohne roten Faden! Ich fühlte mich wie der Held in einer klassischen Tragödie oder wie Hänsel im Wald. Nur dass ich leider vergessen hatte, Brotkrumen auszuwerfen, und dass auch keine Gretel an meiner Seite stand, die wenigstens meine Hand hätte halten können.
Die wenigen Menschen, die an mir vorbeischlichen, waren nur Schattenwesen, geisterhafte Schemen, ebenso verlassen wie ich; Schimären einer lasterhaften Einbildung, schon vor der Geburt für schuldig befunden: Schuldig, im Namen des Gesetzes! Schuldig, auf dem falschen Kontinent gezeugt worden zu sein! Schuldig, im falschen Land das Licht der Welt erblickt zu haben! Schuldig, die falsche Stadt, das falsche Dorf, das falsche Viertel gewählt zu haben, für ein Leben in Armut, Not und Zerrissenheit! Schuldig, überhaupt am Leben teilnehmen zu wollen – egal wo, egal wie, egal wann und warum!
Hatte ich etwas ausgelassen? Schuldig in eine Welt gestoßen zu sein, die solche Unterschiede – schuldig oder unschuldig – überhaupt zuließ, mit fatalen Folgen für den einzelnen, Folgen, die letztlich über Leben oder Tod entscheiden konnten.
Wo war ich hier hingeraten? Ich blickte immer noch auf die leeren Gänge, die sich vor mir auftaten und mir ihrerseits jegliche Antwort schuldig blieben, wie ein innerer Spiegel, in den ich vergeblich starrte. Meine Gedanken ratterten wie ein losgelassener Automat und wiederholten in einer Endlosschleife immer wieder den einzig zulässigen Urteilsspruch: Schuldig! Schuldig! Schuldig!
Beim Besuch eines Zuchthauses, wohin ich einige Male zu literarischen Veranstaltungen eingeladen worden war, hatten mich ähnliche Empfindungen heimgesucht. Nun stand ich im Ziviljustizgebäude, wie es in Klammern auf der Dispo hieß, und hatte mein kurzfristiges Déjà-vu, jedoch keins, das mir in irgendeiner Weise weiterhalf.
Ich fühlte mich fremd in einer vertrauten Umgebung. Zumindest war ich bis zu dieser Stelle schon einmal vorgedrungen, diesem Ort, wo ich mich vor die Wahl gestellt sah, einen der Gänge zu betreten, um meinen Rückweg erfolgreich fortzusetzen.
Mit Sicherheit war ich schon einmal hier gewesen, nur in umgekehrter Richtung, und zwar in diesem, nicht in einem vorigen Leben. Ich war kein Widergänger, kein Reinkarnationsopfer, sondern ein normal verwirrter Mensch, der sich in einem riesigen Gebäudekomplex verlaufen hatte. So etwas kam vor. Aber musste es gerade mir und zu diesem Zeitpunkt passieren?
Der Schauspieler, der den Richter spielt, findet die Crew nicht. Jetzt irrt er irgendwo im Gebäude herum ...
Inzwischen stimmte der Satz mehr, als mir lieb war.
Ich fragte mich, wozu solche riesigen Häuser überhaupt gebaut wurden, wenn nicht aus dem einzigen Grund, die Menschen in Konfusion zu stoßen, in ein emotionales und gedankliches Chaos, mit der deutlichen Absicht, sie für neue, möglicherweise schädliche oder gar selbstzerstörerische Ziele gefügig zu machen. Die Erbauer solcher Gebäude verfolgten einen Zweck mit dieser einschüchternden, Angst einflößenden Architektur, einen Zweck, der außerhalb der Interessen ihrer Bewohner oder Besucher lag. Ob die Twin-Tower in New York, der alte Turmbau zu Babel, oder eben dieses Amtsgerichtsgebäude in Hamburg – mir als geborenem Landei, erschienen die Unterschiede gering. Was hatte ich überhaupt in dieser Stadt verloren?
Manchem Zeitgenossen genügte schon der heimische Supermarkt, um sich zu verlaufen. Und auch das hatte Methode. Der Irrsinn war gewollt! All diese Gebäude waren nicht erstellt worden, um das Leben für den Einzelnen zu vereinfachen, sondern um ihn einer Gehirnwäsche zu unterziehen, ihn leichter handhabbar zu machen. Seine Verstörung wurde nicht in Kauf genommen, sondern war erklärtes Ziel und diente dazu, ihn zusammen mit all den anderen verlassenen Seelen unter einen Hut zu bekommen, in Massen zu bündeln, Massen, die sonst aus dem Ruder zu laufen drohten. Oder so ähnlich.
Der einzelne Mensch wurde kompatibel gemacht, sei es für staatliche Instanzen, einige wenige, private Nutznießer oder multinationale Konzerne und Organisationen von derart dubioser Herkunft, dass selbst deren leitende Angestellte nur bruchstückhaft informiert und eingeweiht waren. Tote Seelen, sonst nichts!
All diese Gebäude, die mit immensem finanziellen Aufwand errichtet worden waren, trugen letztlich dazu bei – neben der Regulierung von Geldströmen –, dass eine mehr oder weniger anonyme Macht sich ausbreiten und vervielfältigen konnte. Je geringer der tatsächliche Wert des einzelnen Menschen – kleingemacht, nicht zuletzt durch architektonische Überrumpelungstaktiken –, umso besser für die Aufrechterhaltung einer zumeist namenlosen, mit Vorliebe im Verborgenen wirkenden Macht. Es hätte nicht viel gefehlt, und ich wäre bewusstlos zu Boden gesunken, einer wahrhaftigen Ohnmacht nahe.
Ich stand immer noch ratlos vor diesem Labyrinth, das mich stumm anglotzte; mich, dieses fremde Wesen, das sich beinah bewegungsunfähig vor die Wahl gestellt sah, sich einem dieser Gänge zu nähern, um endlich seinen Rückweg fortzusetzen.
In meinem Kopf machte sich eine Leere breit, ein Stillstand jeglicher Gedankenflüsse, ähnlich jenem Bild, dass sich einstellt, wenn drehende Räder auf einer Kinoleinwand die Geschwindigkeit des Aufnahmeapparats überschreiten. Die Räder scheinen für einen Moment in Bewegungslosigkeit zu verharren. Das Tempo der Rotation schlägt ins Gegenteil um – in absolute Ruhe.
Das ist immer wieder faszinierend zu beobachten, vielleicht weil es einem die Relativität aller irdischen Begriffe unmittelbar vor Augen führt. Technisch ist dieser Vorgang vergleichsweise einfach zu erklären, dennoch ist seine Wirkung auf das Auge des Betrachters immer wieder erstaunlich. Die Bilder scheinen zu verschwimmen, verschmelzen zu einer Art sichtbarem Brei. Die Trägheit des Auges lässt keine schnellere Wahrnehmung zu, was wiederum den Vorteil hat, dass der Zuschauer den Film überhaupt als Ereignis von fließenden Bewegungen wahrnimmt und nicht die einzelnen Bilder, aus denen der Film in Wirklichkeit zusammengesetzt ist.
Trägheit muss also durchaus kein Nachteil sein, sondern bietet zuweilen nicht zu unterschätzende Vorzüge. Doch diese Erkenntnis brachte mich jetzt auch nicht weiter. Welcher Spur sollte ich folgen, um mich zum Ausgangspunkt meines Irrwegs zurückzubringen? Wo war das Startfeld mit der Aufschrift: Los!?
Niemand half mir auf die Sprünge. Nachdem ich den Fahrstuhl im Erdgeschoss verlassen hatte, befand ich mich wie Dante im finsteren Wald. Meine Gedanken stachen mir wie Dornen in die Seele und erfüllten mich mit infernalischem Grauen. Auch ich wusste nicht zu vermelden, wie ich dieses Gebäude betreten hatte – halb noch als Schlafwandler wohl – und wie es geschehen konnte, dass ich vom Wege abkam. Träumte ich etwa immer noch? Und gab es niemand, der mich von der alptraumhaften Furcht befreite, für den Rest meines Lebens in diesen unwirtlichen Gängen ausharren zu müssen, wie ein Maulwurf, geblendet vom Licht meiner finstersten Ahnungen?
Ich bewegte mich ein paar Schritte auf einen der Gänge zu, Rat suchend Umschau haltend. Niemand da. Keine Spur von irgendjemand. Noch ein paar Schritte – zögerlich setzte ich meine Füße voreinander, trat wie auf eine unsichtbare Wand zu, hinter der ich womöglich endgültig verschwinden würde. Ich sah mich um und erkannte nichts wieder. Nicht der Hauch einer Erinnerung stellte sich ein, diesen Weg schon einmal gegangen zu sein.
Immerhin befand sich der Fahrstuhl noch an seinem vorherigen Platz. Vorausgesetzt, dass es derselbe Fahrstuhl war, wovon ich jedoch ausging. Er diente mir jetzt als Orientierungspunkt, als Leuchtfeuer in einem Meer der Ungewissheit. Die Bedeutung des Satzes »Er geriet ins Schwimmen« stand mir nie klarer vor Augen. Jegliche Sicherheit – welche Sicherheit? – war mir abhanden gekommen.
Ich war nie ein guter Schwimmer gewesen. Die Flut der Bilder, die auf mich einströmte, raubte mir den Atem. Ich paddelte um mein Leben, mein erbärmliches, kleines Leben. Jeder Hilfeschrei wäre erstickt in einem hysterischen Hustenanfall oder einem heiseren Lachkrampf. Weder das eine noch das andere erschien mir eine verlockende Alternative.
In stummer Verzweiflung wählte ich einen der anderen Gänge. Auch dieser Versuch führte mich nicht auf den richtigen Weg zurück. Ohne Handy, ohne Navigationsgerät fühlte ich mich gänzlich verloren. Doch am Fahrstuhl zu warten, wäre die falscheste Lösung gewesen. Ich wusste, ich musste etwas unternehmen, wollte ich nicht völlig aus der Zeit fallen, untertauchen in den Abgründen meines eigenen, grüblerischen Ichs. Kurz davor, in absolute Panik zu verfallen, beschloss ich, so viele Gänge wie möglich anzusteuern und vielleicht durch vermehrtes, schnelles Abschreiten, eine Art System hinter diesem versteinerten Irrgarten zu entdecken, ein System, das mich – so mein aberwitziger Gedanke – zum Eingang zurückführen würde.
Und so begab ich mich vorsätzlich in die Irre, in der verrückten Hoffnung, auf diese Weise einen Fluchtweg aus dem Labyrinth zu finden. Ich taumelte im Gebäude umher, müde der Türen, Fenster und Wände, die alle gleich aussahen, müde der ebenmäßigen, gefliesten Fußböden, die kein Unterscheidungsmerkmal zuließen, sowie müde der elenden Bilder und Vergleiche, die mich bis hierher begleitet hatten.
Erneut hielt ich Umschau, um mich meines jetzigen Standpunkts zu vergewissern. Hatte ich eine dieser verputzten Mauern schon einmal gesehen? Gab es irgendein noch so unbewusstes Erkennungsmerkmal, das mich auf die richtige Fährte führte? Konnte ich meinen Instinkten überhaupt noch trauen!?
Es war zum Haare ausraufen! Auch hätte ich meinen Kopf vor Scham in den Händen vergraben mögen. Andererseits fehlte es an Zuschauern, die einer derart theatralischen Geste ihre Sympathie oder wenigstens ihr Mitleid hätten entgegenbringen können. Ich war kein Fußballer, der eine so genannte tausendprozentige Chance versemmelt hatte, sondern ein armer, lächerlicher Schauspieler auf der Suche nach seinem Drehort und seinem Team. Verlassener konnte ein Mensch in diesem Moment kaum sein, vergleichbar eher – wenn schon wieder ein Vergleich herhalten musste – einem Kicker im falschen Hotel, in der falschen Stadt, ohne Mannschaft, ohne Betreuer, ohne Bus und ohne Fahrer. Und da ich selbst gern einmal Fußballer geworden wäre – lang, lang ist’s her! – hatte ich jetzt doppelt Grund, um mit Fug und Recht zu behaupten: Ich fühlte mich wie im falschen Film!
Ich entschied mich, einfach weiterzugehen. Immer weiter!
Jedes Fortschreiten war besser, als in Reglosigkeit zu verharren, egal, wie absurd es mir vorkam. Alle Ängste hinter mir lassend – na ja, die meisten jedenfalls – folgte ich einem der Gänge und glaubte nach wenigen Schritten auf halber Höhe einen ungewöhnlichen Lichteinfall bemerkt zu haben.
Immer wenn du glaubst es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her ...
Normalerweise hielt ich solche Redewendungen für banal und abgedroschen. Aber was war schon normal an diesem Tag, zu dieser Stunde, in diesem Gebäude.
Mein Gang führte auf einen Flur, der Flur wiederum in eine mehrstöckige Treppenhalle mit hufeisenförmig umlaufenden Galerien. Im Zentrum der Halle erhob sich ein runder Brunnen, der keinerlei Wasser führte, mäßig erhellt durch ein rechtwinkliges, schachbrettartig unterteiltes Oberlicht aus Milchglasscheiben.
Ich bog um eine Ecke und im selben Moment entdeckte ich auf dem nächstgelegenen Gang, nur einen halben Steinwurf von mir entfernt – einen Menschen.
Wie lange war ich schon keinem lebendigen Wesen mehr begegnet? Ich hätte ihm entgegenstürzen, ihm freudig um den Hals fallen mögen, dankbar allein für seine Anwesenheit, so erlösend wirkte sein Anblick. Ich tat aber nichts dergleichen. Irgendetwas hielt mich zurück.
War es überhaupt ein Mensch oder nur eine Erscheinung, die meine reichlich geplagte Phantasie mir vorzugaukeln beliebte – eine Fata Morgana in dieser steinernen Einöde? Nein, es war eindeutig ein Mensch! Er bewegte sich. Selbsttätig.
Bei genauerer Betrachtung handelte es sich um eine junge Frau mit einem Handy am Ohr, eine Frau, in Schwarz gekleidet, die sich dennoch deutlich vom dunklen Flur abhob, durch den seitlichen, wenn auch schwachen Lichteinfall von oben.
Sie redete, halb mit dem Rücken zu mir gewandt, in ihr Gerät hinein. Ich verstand nicht, was sie sagte, aber ich marschierte direkt auf sie zu. Es war jetzt weniger die Frau, als das Handy, das mich anzog. Damit konnte ich wieder Verbindung zur Filmcrew aufnehmen, meinem einzig verbliebenen Vorposten zur realen Welt. Die junge Frau würde, nein, sie musste mir gestatten, ihr Handy zu benutzen, egal, wie fremd ich ihr war oder wie ungelegen ich ihr mit meinem Wunsch käme.
Bevor ich noch das Wort an sie richten konnte, hatte auch sie mich von weitem erblickt. Zögernd, mit fragenden Augen, trat sie einen Schritt auf mich zu.
»Sind Sie Herr ...?«
Sie nannte meinen Namen.
Ich stutzte kurz und bestätigte, immer noch heillos durcheinander, ihre Frage.
»Wir erwarten Sie schon ...«
Mir war, als begänne der Boden unter meinen Füßen zu schwanken. Ich ruderte mit den Armen, stürzte fast und sank dann, die Besinnung verlierend, an ihre schützende Brust, wie von Engelshänden getragen.
Nein, das tat ich natürlich nicht. Aber ich wünschte mir, ich hätte es getan, mit großer, sie umschlingender Geste!
Der einzige sichtbare Engel, der mich hätte auffangen können, wäre sie gewesen, abgesehen von den leblosen, nackten Figuren, die Bestandteil der nahen Brunnenkonstruktion waren, zumeist um eine im Zentrum befindliche Säule herumtänzelnd, bis auf die eine größere Figur, die den oberen Teil der Säule abschloss.
Doch wer weiß, ob meine Retterin mich nicht knallhart auf den Steinfußboden hätte aufprallen lassen, so beschäftigt wie sie war, die frohe Botschaft meiner Ankunft zu vermelden.
Sie ließ mir nicht den Hauch einer Chance, ihr meine eben noch verzweifelte Lage zu schildern, und sei es nur, um einen Hinweis zu erhalten, wie es dazu kommen konnte. Für Erklärungen war jetzt keine Zeit. Sie nahm mich an der Hand – bildlich gesprochen – und führte mich, immer mit einem Ohr am Handy, durch das verschlungene Gängesystem in Richtung Drehort.
Wir wechselten sogar, einen überdachten Übergang im Freien passierend, von einem Gebäude in ein anderes. An ihrer Seite fühlte ich mich sicher und geborgen, egal, wie weit wir noch zu gehen hatten. Sie verfügte über die nötigen Kenntnisse und Verbindungen, nicht zuletzt durch das Handy, das sie bei sich trug. Damit konnten wir aus jeder misslichen Lage befreit werden – vorausgesetzt, die Batterien waren aufgeladen. Doch auch in dem Punkt vertraute ich ihr: wem, wenn nicht ihr, meiner Retterin?
Und da war es endlich, das eingangs erwähnte rote Backsteingebäude; Mausoleum meiner verwinkelten, verwickelten Träume. Kein Wunder, dass ich es nicht entdeckt hatte. Hatte ich es überhaupt gesucht?
Nein, ich war vollauf damit beschäftigt gewesen, meinen Rückweg von der Cafeteria zu finden. Was kümmerte mich da dieser verdammte Rotklinkerbau, auch wenn ich ihn gelegentlich durch eins der hohen Fenster wahrzunehmen meinte. Doch zu dem Zeitpunkt wusste ich nicht einmal, in welchem Gebäude ich mich befand. Ich hatte ja keine Möglichkeit, von außen darauf zu schauen.
Selbstbewusst und völlig ihrer Sache sicher, führte mich die junge Frau, vorbei an anderen Crewmitgliedern, die jetzt auf wunderbare Weise einzeln oder in kleinen Grüppchen die Gänge bevölkerten – wo hatten sie sich bloß alle vorher versteckt gehalten? –, die Treppen hinauf und schließlich, vorbei am Gerichtssaal, zu meinem vorläufigen Ziel – dem Kostümraum.
Meine Helferin öffnete die Tür und lieferte mich ab wie eine bestellte, überfällige Ware: Auftrag erledigt!
Nach einem kurzen Abschiedsgruß verschwand sie ebenso schnell wieder, wie sie mich aus meiner misslichen Lage befreit hatte. Kein Wort mehr. Auch kein Wort des Dankes meinerseits. Zu sehr wirkte der Schock noch nach.
Ich stand nun in einem notdürftig für Filmzwecke hergerichteten Büro. Der vordere Teil war frei geräumt worden, um Platz für Kleiderständer, Schuhregale und dergleichen zu schaffen. Alles was nicht benötigt wurde – vor allem überflüssige Tische –, hatte jemand vor das große, fast bis zur Decke reichende Fenster geschoben, so den Zugang blockierend.
Die Luft war stickig und schwül. Draußen hatte es aufgehört zu regnen, wie ich erst jetzt, durch das geschlossene Fenster schauend, bemerkte. Es herrschte eine ungewöhnlich gelassene Stimmung. Mag sein, dass ich spät dran war, aber es schien hier niemand zu kümmern.
Beinah wie unbeteiligt saßen ein Schauspieler und eine Schauspielerin auf Bürostühlen und lasen Zeitung, beziehungsweise in einem Buch. Ein weiterer Schauspieler wurde soeben von zwei Assistentinnen eingekleidet. Die Chefin fehlte noch.
Eine Assistentin, die ich schon vom Vortag her kannte, reichte mir meine Richterrobe, so dass auch ich mit meiner Einkleidung beginnen konnte, ohne lange herumstehen zu müssen. Zuvor stellte ich meinen Schirm beiseite und zog mich aus. Die Schuhe, die ich tragen sollte, hatte ich schon ausfindig gemacht, ebenso einen langen Schuhanzieher, den ich aus Bequemlichkeitsgründen gern benutzte.
Unterdessen betrat ein weiterer Schauspieler den enger werdenden Raum, reichte jedem der Anwesenden freundlich die Hand, ehe er sich in eigener Sache an meine Assistentin wandte.
Was war ich nur für ein Idiot gewesen! Lag es an der fortwährenden Verwirrung, von der ich mich noch immer nicht erholt zu haben schien, dass ich die einfachsten Regeln der Höflichkeit missachtet hatte?
Danach ergab sich ein winziges Gespräch mit dem Neuankömmling. Ich fand Gelegenheit, von meiner vorherigen Konfusion zu berichten, was ihn zu der höflichen Frage veranlasste: »Und wie haben Sie dann hergefunden?«
»Kommissar Zufall«, entfuhr es mir.
Nachdem ich drehfertig eingekleidet war, bat ich den Zeitung lesenden Schauspieler mir einige Blätter abzugeben, die er bereits auf dem Stuhl neben sich abgelegt hatte. Freundlich reichte er mir das Feuilleton mit einem ausführlichen Artikel anlässlich der Jubiläumsfeiern zu Kafkas Geburtstag.
Ausgerechnet! dachte ich.
Und auf einmal war ich mir nicht mehr sicher, ob die Personen um mich herum so wirklich waren, wie das Gebäude, in dem ich mich befand. Was, wenn ich von Schattenwesen umgeben war, die mir nur vorgaukelten, Mitglieder eines Fernsehteams zu sein. Hatte ich unmerklich – etwa mit dem Betreten des Fahrstuhls – eine Schwelle überschritten, die mich von der realen Welt abschied, ohne dass ich es noch bemerkte? Gab es mich überhaupt noch?
Eine schleichende Panik überkam mich, die auch nicht aufhörte, als ein mir unbekannter, junger Mann – Inspizient oder dergleichen – knapp die Tür öffnend seinen Kopf hereinstreckte, meinen Namen rief und mich zum Drehort bat: Ohne Kostüm und Maske! Der Regisseur habe darum gebeten.
Ich fühlte mich plötzlich nackt und hilflos – wie ein eben erst geborener Säugling. Im Innern pochte mein Herz und hämmerte gegen die Brustwand, als wolle es mich in Stücke reißen. Das war kein gewöhnliches Lampenfieber, das war das pure Entsetzen.
Wo war ich um Himmels willen hingeraten?
Was tat ich hier?