Der Fährmann, der Tote und der Obolus

Marius Kuhle

Prolog
Zwischen der Welt der Lebenden und der Welt der Toten gibt es einen Übergang: Einen weiten Fluss mit der Farbe der Nacht, der an den Ufern der Wirklichkeit und der Welt der Träume angrenzt. Nur die Seelen der Verstorbenen können diesen Fluss überqueren, doch brauchen sie dafür die Hilfe des Fährmanns.
Sie warten an den trostlosen Ufern und Klippen auf ihn und zahlen für die Überfahrt ins Totenreich einen Obolus. Schafft es eine Seele aber nicht, den Fährmann zu bezahlen, so wird sie für alle Ewigkeiten ins Schattenreich verdammt ...
1

»Also ... bereit für deinen ersten Tag?«

»Ja.«

»Und? Aufgeregt?«

»Ein bisschen.«

Bei der Antwort musste Maurice lachen und begann zu husten. Er prustete gelblichen Staub aus seinen Lungen und hielt sich die knorrige, mit Flecken überzogene Hand vor den Mund. Die abgebrochenen Nägel seiner Finger waren so dreckig, dass sie fast durchgehend schwarz erschienen, ganz im Kontrast zu seiner aschfahlen Hautfarbe.

»Ich erinnere mich noch an meinen ersten Arbeitstag. Hätte beinahe das Boot umgekippt.«

»Hm.«

Eduardo sah zu den anderen Fähren hinüber. Ein schummriger Nebel, ähnlich wie Dämmerlicht, schwebte über dem Wasser. Nur anhand der Laternen, die am Bug der Boote befestigt waren, konnte er diese überhaupt ausmachen. Hunderte von Lichtkugeln glitten durch die Dunkelheit.

»Sag mir ... was ist die Aufgabe eines Fährmanns?«

Eduardo musste auf die Antwort warten, bis der nächste Hustenanfall von Maurice beendet war.

»Er geleitet die Seelen über den Fluss. Führt sie zu ihrer ewigen Ruhe.«

»Und wofür tut er das?«

»Damit die Verstorbenen wieder mit ihren Liebsten, ihrer Familie und Freunden vereint werden.«

Maurice schlug mit dem Ruder ins Wasser und ein kalter Schauer spritzte ins Boot hinein, welches zu schaukeln begann. Eduardo musste sich festhalten. Er drehte sich zu Maurice um. Seine Dienstkleidung, ein schmutziger, schwarzer Schifferkittel, flatterte um seinen dürren Leib. Die Tränensäcke unter seinen farblosen Augen hingen ihm fast bis zu den Mundwinkeln hinunter.

»Falsch, falsch, falsch! Hier zählt nur Eines«, zischte er und begann in seinem Kittel zu kramen, bis er einen Beutel hervorholte. Er schüttete ihn über seine freie Hand aus und es regnete Münzen. Einige fing er auf, aber die meisten fielen ins Boot. »Du tust es nur hierfür. Nur für deinen Lohn.«

Die Münzen klackerten aufs Holz und einige rollten umher. Sie waren nicht sehr groß und recht unförmig. Früher mochten sie vielleicht neu und glänzend gewesen sein, doch nun waren sie völlig verdreckt. Man konnte kaum das Abbild des Demetrius erkennen.

»So sehr sie auch betteln, flehen und versprechen ... traue niemals einem Toten! Sie werden dir die unmöglichsten Geschichten erzählen, warum sie nicht zahlen können, und an dein Gewissen appellieren. Doch wenn sie erst am anderen Ufer angekommen sind, werden sie dich niemals bezahlen.«

Maurice hob eine Münze auf und hielt sie dicht vor Eduardos Gesicht. »Will eine Seele in das Totenreich, muss sie zahlen. Und wenn sie nicht zahlen kann, bleibt sie am Ufer. Ganz einfach.«

Er ließ die Münze wieder fallen. Eduardo wollte sie aufheben, um sie näher zu betrachten, aber Maurice schlug mit dem Paddel nach seiner Hand. Fast hätte er ihn getroffen, doch nur das Wasser schlug gegen seinen Arm. Rasch sammelte Maurice die Münze wieder ein.

»Es sind deine Münzen. Verschenke oder verleihe sie nie. Ein Obolus für eine Seele. Nicht mehr und nicht weniger. So sind die Regeln«, sagte er und ließ jede einzelne Münze behutsam zurück in seinen Beutel fallen. Das Geräusch des klirrenden Metalls ließ ihn lächeln. Nachdem er fertig war, hielt er den Beutel in die Höhe. »Halt dich an die Regeln und bald hast du hundert von diesen hübschen Säckchen, alle bis zum Rand voll.«

»Wenn du so viele hast, wieso bist du dann so gierig auf diese paar Münzen?«

»Weil dies ... ein besonderer Beutel mit besonderen Münzen ist. Jede mit einer besonderen Geschichte.«

»Ja? Erzähl mal ...«

»Nein!«, erwiderte Maurice rasch und umfing wieder das Ruder.

Mit jedem leichten Wellenschlag schaukelte das Boot sanft auf und ab. Eduardo beobachtete, wie die Laterne am Bug hin und her schaukelte. Sie fuhren noch eine Weile, bis sich langsam Umrisse des Ufers aus dem Nebel hervorhoben. Schon konnte man die ersten, wartenden Seelen sehen. Zu Hunderten standen sie im grauen Sand und warteten auf einen Fährmann der sie mitnahm.

Je näher sie dem Ufer kamen, desto mulmiger wurde es Eduardo. Sein Magen fühlte sich an, als krabbelten Spinnen in ihm. Er hatte unzählige Geschichten von den Toten gehört, die alles taten, um mitfahren zu dürfen. Es hieß, dass einige sogar handgreiflich wurden und den Fährmann attackierten.

»Du sagtest, wenn eine Seele nicht zahlen will, soll ich sie nicht mitnehmen. Was ist aber, wenn sie nicht zahlen kann

Maurice lachte aus den tiefsten Winkeln seiner Kehle. Er beugte sich leicht vornüber und kniff die Augen zusammen. »Nichts ist umsonst! Auch nicht der Tod!«

2

Das Erste, was Jean fühlte, als er von den Toten aufwachte, waren Finger, die in seinem Mund herumwühlten.

»Wo ist sie? Verdammt ... wo ist sie?« Ein fremder Mann hatte Jeans Mund geöffnet und grub wild mit seinen Fingern darin herum, als würde er nach Gold graben.

Jean wollte etwas sagen, bekam jedoch nur gurgelnde Geräusche heraus. Als der Mann merkte, dass er aufwachte, wühlte er noch schneller und hastiger. »Komm schon ...«

Jean griff nach der Hand und es begann ein kurzer, aber wilder Kampf, wo der eine versuchte, die fremde Hand aus seinem Mund, und der andere, sie noch tiefer in dessen Rachen zu bekommen.

Jean stieß den Mann weg und fuhr hoch. Dabei verschluckte er versehentlich etwas: etwas Kleines, Metallisches. Es blieb in seinem Hals stecken und ging weder hoch noch runter. Jean würgte mehrmals, bis das Ding endlich seinen Weg nach unten fand. Schnaufend klopfte er sich gegen die Brust und sah den Mann an, der sofort abzog.

»Ja, verschwinde besser!«, schrie er ihm hinterher.

Jean glitt sich durch die Haare und sah sich um.

Er befand sich mit unzähligen Anderen an einem nächtlichen Strand aus aschfahlem Sand. Der wolkenlose Himmel schien näher als gewöhnlich, dadurch wirkten die Sterne größer, wie auch der Mond selbst, der einen Großteil des Himmels in Anspruch nahm.

Sah man zu ihm hinauf, war er eben noch rund, eingehüllt in einem silbrigen Nebel, und im nächsten Augenblick nur noch eine weiße Sichel. Es hatte den Anschein, dass er sich ständig veränderte: Er nahm ab, nahm zu, wurde voll oder verschwand völlig. Weil er so nah war, erhellte er den gesamten Strand, die erhöhten Klippen am Rand und den dichten Nebel, der über dem Meer schwebte. In diesem Nebel schwangen gelbe Lichtkugeln hin und her und näherten sich dem Strand.

Jean sah an sich herab. Er trug einen teuren Anzug und alle anderen waren ebenfalls in guter Kleidung. Er musste nicht lange überlegen, um zu wissen was geschehen war und wo er sich befand. Er war gestorben und stand nun am letzten Ufer. Die sich nähernden Lichter waren die Fährmänner, die sie abholen sollten.

Hätte Jean noch weinen können wären ihm jetzt ein paar Freudetränen aus den Augen gequollen, denn endlich würde er alle wiedersehen: seine Eltern, seine Freunde und natürlich Olivia, seine geliebte Frau.

Der Herr hatte sie vor sieben Jahren zu sich geholt und nun könnte er wieder bei ihr sein. Er hatte ihr so vieles zu sagen. Ach, das konnte warten. Zuerst wollte Jean ihr einfach in die Augen sehen, sie in die Arme nehmen und halten, egal wie lang. Sie hatten den Rest der Ewigkeit Zeit.

Er vermisste alles an ihr, selbst die Streitereien, die sie in der Vergangenheit gehabt hatten.

Die Boote kamen näher. Jean konnte sie immer besser erkennen. Ungeduldig wippte er von einem Bein auf das andere. Sie brauchten sehr lange und er fragte sich, wie das Ganze wohl ablaufen würde. Er wusste nur, dass man dem Verstorbenen eine Münze unter die Zunge legte, damit er die Fahrt bezahlen konnte. Nur wie ging es dann weiter? Suchte sich der Fährmann einen Verstorbenen aus? Gingen mehrere Seelen auf ein Boot oder nur eine? Stellte man sich in eine Reihe oder hieß es: Wer zuerst kommt, malt zuerst?

Bloß nicht, dachte Jean. Wenn die für die Rückfahrt genauso lange brauchten wie für die Hinfahrt, könnte das eine Ewigkeit dauern.

Er konnte aber nicht mehr warten. Es musste sofort sein!

Jean bewegte die Zunge ein wenig hin und her. Sicher hatten seine Kinder ihm die Münze beigegeben, damit er ... doch er fühlte nichts in seinem Mund. Nichts war unter seiner Zunge. Wie vom Blitz getroffen fuhr seine Hand in den Rachen. Er streckte die Zunge so weit hinaus wie er nur konnte und seine Finger tasteten alles ab. Nichts: kein Obolus, keine einzige Münze!

Der Typ musste sie ihm gestohlen haben. Er hatte ihm nicht nur die Münze, sondern auch die Überfahrt und die Wiedervereinigung mit seiner Frau, seiner Familie genommen. Einfach gestohlen! An sich gerissen, was ihm nicht gehörte, was ihm überhaupt nicht zustand.

Wo war der Typ?

Hektisch sah sich Jean um. Er drehte sich um die eigene Achse, sprang mehrmals in die Luft, bis er den Mann endlich hinter einer Menschengruppe erblickte. Der suchte weiterhin den Strand nach Verstorbenen ab, die im Sand lagen und noch nicht erwacht waren. Soeben hatte er bei einer Frau den Mund geöffnet und sah hinein.

»Hey!«, schrie Jean und lief auf ihn zu. Der Fremde blickte auf. Und als er Jean auf sich zukommen sah, rannte er sofort los. Sie liefen kreuz und quer über den Strand, durch Menschenmengen hindurch, in Richtung Wasser und wieder zurück. Der Mann schlug Haken wie ein Hase. Die Fähren kamen näher. Jean setzte zum Sprung an und bekam den Mann zu packen. Er riss ihn zu Boden und sie rollten zusammen über den Sand.

»Gibt mir meine Münze!«

»Was?«

»MEINE MÜNZE!«

Jean kam auf dem Fremden zu sitzen. Er hob drohend die Faust und knurrte: »Gib sie mir!«

Der Mann hielt schützend die Hände vors Gesicht. »Ich habe sie nicht.«

»Was?«

»Ich habe deine Münze nicht.«

Jean glaubte ihm kein Wort, drückte das Gesicht des Mannes in den Sand und suchte seine Münze in dessen Taschen, fand sie jedoch nicht. Hatte er sie möglicherweise versteckt, irgendwo vergraben?

»Du hast doch gesehen, dass ich die Frau untersucht habe. Wenn ich deine ...« Der Mann erhob sich ein wenig und spuckte Sand aus. Sein Gesicht war voll davon. »... oder irgendeine andere Münze hätte, würde ich wohl kaum weitersuchen.«

Jean ballte die Faust und wollte zuschlagen, hielt aber inne. Was der Fremde sagte, machte Sinn. Nur, wenn er seine Münze nicht hatte, wo war sie dann? Hatte sie ihm jemand anderes gestohlen?

Jean ließ von dem Strolch ab und trottete davon. Konnte es sein, dass ihm seine Kinder keinen Obolus gegeben hatten? Wohl kaum, das hätten sie niemals getan.

Er ging zum Ufer und setzte sich hin. Die Boote waren nicht mehr weit entfernt. Da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Hatte er nicht etwas verschluckt, nachdem er aufgewacht war? Mit den Fingern glitt er seinen Hals entlang, hinunter zum Magen. Jean glaubte, die Münze fühlen zu können. Sie schien sich bei jeder Bewegung hin und her zu bewegen, er konnte noch ihren metallenen Geschmack in seinem Rachen spüren. Verdammt, er hatte die Münze verschluckt, der Obolus schlummerte in seinem Körper. Zum einen musste Jean lachen, zum anderen packte ihn die Angst. Niemand hatte die Münze gestohlen und verlorengegangen war sie auch nicht. Die ganze Zeit über hatte er sie bei sich gehabt: Sicher vor den anderen, gleichzeitig unerreichbar für ihn.

Doch er wusste, dass er für die Überfahrt zahlen musste. Nur wie?

Er würde es dem Fährmann einfach erzählen – die Geschichte vom armen Jean, der so lange von der Liebe seines Lebens getrennt war, wie sehr er sich nach einem Wiedersehen sehnte und das er ja eigentlich zahlen konnte.

Theoretisch.

Der Fährmann würde ihn sicher verstehen und ihm glauben. Er musste es einfach tun. Für den armen Jean und seine Olivia würde er bestimmt eine Ausnahme machen ...

3

»... und nicht vergessen, niemals eine Ausnahme machen!«

»Nicht ein einziges Mal!«

»Niemals!«

Die restlichen Meter bis zum Strand hatte Maurice den jungen Eduardo noch mit guten Ratschlägen versorgt. Er durfte auch schon selbst das Boot lenken, was gar nicht einfach war. Mehrere Stunden hatte Eduardo geübt, dennoch war es etwas anderes, selber das Ruder in die Hand zu nehmen. Irgendwie fiel ihm jetzt alles schwerer: das Lenken, das Steuern, selbst die Fahrt geradeaus war zu einer Herausforderung geworden. Mal neigte sich das Boot zu sehr nach links, dann wiederum brach es rechts aus.

Bei Maurice hatte es so einfach ausgesehen. Am liebsten wäre Eduardo umgekehrt, doch jetzt gab es kein Zurück mehr. Die schwarzen Boote aus glänzendem Holz stoppten und die Verstorbenen strömten darauf zu. Die Laternen erhellten den Nebel, der wie eine pulsierende Wand aus dunkelgelbem Licht erschien.

»So ... ich gehe jetzt«, sagte Maurice und erhob sich stöhnend.

»Jetzt schon? Kommst du nicht mit zurück?«

»Ich habe dir genug beigebracht, Kleiner. Und jetzt stoße ich dich ins kalte Wasser.« Er lachte, leckte sich die Zähne und deutete in den Fluss. »Aber keine Angst, nicht in dieses. Was ist schlimmer als die Verstorbenen am Strand?«

»Die Verstorbenen, die im Wasser sind«, sagte Eduardo und ein Schauder lief ihm über den Rücken.

Es waren natürlich alles nur unheimliche Geschichten, um den zukünftigen, jungen Fährmännern Angst zu machen: Tote, die nicht mitgenommen wurden und versuchten, alleine das andere Ufer zu erreichen. Sie kamen aber niemals an, sondern verirrten sich im Wasser und schwammen ziellos umher. Wenn man ruhig war, konnte man ihr leises, flehendes Stöhnen hören. Manchmal, so hieß es, schwammen sie sogar an die Oberfläche und man konnte ihre Silhouetten im Nebel erkennen. Dann winkten sie den Fährmännern zu. Angeblich soll das eine oder andere Boot nie wieder gesehen worden sein.

»Mein letzter Rat für heute ... nimm nicht den Erstbesten. Lass dir Zeit, such dir in Ruhe einen aus.«

»Und wie kommst du zurück?«

»Ein anderer wird mich mitnehmen.«

Maurice sprang ins Wasser als sie das Ufer erreichten. Er nahm direkt das nächste Boot und sprang hinein, da kamen bereits die ersten Verstorbenen auf Eduardo zu gerannt.

»Nimm mich mit!«

»Nein mich!«

»Ich warte schon seit zwei Generationen.«

Sie alle versuchten, Eduardos Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Sie riefen durcheinander, sprangen in die Luft und winkten. Einige standen schon mit ihrer Münze in der Hand am Boot und wollten sie Eduardo zustecken. Hilfesuchend sah er zu Maurice hinüber, der nur grinsend zusah.

Eduardo überlegte fieberhaft, was er tun sollte. Er war jetzt der Fährmann und hatte das Sagen, er bestimmte, wer mitkam und wer nicht. Er schlug mit dem Ruder in das Boot. Die Verstorbenen verstummten sofort.

»Schweigt! Ihr sprecht nur, wenn ich es euch erlaube!«

Als er zu Maurice hinüberschielte, gab der ihm ein unauffälliges Zeichen, dass er es richtig machte. Ermutigt legte Eduardo eine äußerst dramatische Pause ein, neigte den Kopf und funkelte die Verstorbenen an. Auch wenn sein Mienenspiel äußerst ernst, bedrückend und sogar bedrohlich wirkte, war in seinem Inneren ein buntes Feuerwerk entfacht.

Wen sollte er nehmen?

Den großen Kerl mit dem Bart? Die hübsche Frau ganz hinten? Sie alle sahen ihn hoffnungsvoll an.

Am liebsten hätte er jeden mitgenommen, doch das konnte er nicht. Während Eduardo überlegte, fiel ihm der alte, untersetzte Mann mit dem dünnen, weißen Haar auf. Er war der Einzige der nicht versucht hatte, auf sich aufmerksam zu machen. Ruhig, fast schon unscheinbar, stand er da und sah dem Gedränge lediglich zu. Alleine deswegen weckte er Eduardos Neugier.

»Du! Komm her«, nickte er zu dem Mann hinüber.

Ein Raunen ging durch die Menge.

»Wie ist dein Name?«

»Jean Wagner.«

»Bist du bereit für den Übergang in das Totenreich?“«

»Mehr als alles andere. Auf der anderen Seite wartet meine geliebte Frau Olivia auf mich.«

Eduardo nickte, beugte sich vor und streckte seinen linken Arm aus. Er rieb den Daumen an Zeige- und Mittelfinger.

Jean klatschte in die Hände. »Tja ... da gibt nur es ein kleines Problem.«

»Und welches?«

Einige Boote legten bereits ab und verschwanden im Nebel.

»Ich kann zahlen, aber auch nicht, denn ich bin im ewigen Besitz meiner Münze.«

»Du bist im ewigen ... was?«

In Eduardo stieg wieder die Nervosität hoch und seine Hände fingen an zu zittern. Unzählige Gedanken schossen ihm durch den Kopf und plötzlich hörte er die Stimme von Maurice: So sehr sie auch betteln, flehen und versprechen ...

»Ich bitte dich, du musst mich mitnehmen. Ich werde dich ganz bestimmt bezahlen!«

... traue niemals einem Toten ...

»Ich habe die Münze, aber ich kann sie dir im Moment nicht geben ...«

... sie werden dir die unmöglichsten Geschichten erzählen ...

»Jemand wollte mir die Münze stehlen und im Kampf habe ich sie leider verschluckt ...«

... wenn sie einmal am anderen Ufer angekommen sind, werden sie dich niemals bezahlen ...

»Ich werde dich entlohnen sobald –«

»Schweig!«, brüllte Eduardo und schlug mit dem Ruder nach Jean. Er wollte ihn nicht treffen, doch es hatte den nötigen Effekt. Der Verstorbene verstummte und stolperte nach hinten in den Sand. Jetzt mussten die anderen Verstorbenen einsehen, dass der Fährmann zwar ein Anfänger war, aber nicht leichtgläubig und dumm. Eduardo konnte diese Dreistigkeit nicht glauben. Gleich der Erste wollte ihn betrügen. Und auch noch mit einer völlig überzogenen und wenig glaubhaften Geschichte. Aber nicht mit ihm! Er deutete mit dem Finger auf den Toten. »Du kannst nicht zahlen? Dann kommst du auch nicht mit.«

»Aber ...«

»Kein aber! Verschwinde besser, sonst merke ich mir dein Gesicht und dann kannst du selbst mit hundert Münzen nicht mitfahren.«

Zögernd stand der Alte auf und entfernte sich. Die anderen Verstorbenen kamen sofort wieder auf das Boot zu und boten sich an.

Eduardo sah dem Mann nicht mehr nach. Wozu auch? Er war viel zu sehr damit beschäftigt, stolz auf sich zu sein.

4

Jean sah dem Fährmann und seinem Passagier solange hinterher, bis selbst das Licht seiner Laterne im Nebel nicht mehr zu erkennen war. Alle Fähren mit ihren Lichtern verschwanden nach und nach, bis der Sand nur noch dunkel, der Nebel grau und die Nacht kalt waren. Für Jean und viele andere war jetzt alles noch finsterer und kälter. Er sackte zusammen und ließ sich in den Sand fallen.

Der Fährmann hatte ihn nicht mitgenommen. Er saß immer noch auf der Schwelle zur Welt der Lebenden fest und würde Olivia möglicherweise niemals wiedersehen. Jean grub seine Hände in den Sand und warf ihn wütend ins Meer. Dann noch eine Hand und noch eine Hand. Das Wasser schluckte seine Wut bereitwillig.

Schreiend sprang Jean auf, trat den Sand in Richtung Himmel und fluchte, bis er glaubte, keine Stimme mehr zu haben. Dabei wurde er von vielen anderen beobachtet, die ebenfalls nicht mitgenommen wurden. »Typisches Verhalten für einen Neuen«, meinte einer abfällig.

Jean schloss die Augen und atmete mehrmals durch. Sie würden wiederkommen. Sie kamen immer wieder und ein anderer würde ihn mitnehmen. Wenn nicht dieser, dann der Nächste. Einer würde ihm die Geschichte glauben und ihn dann endlich mitnehmen.

Was aber, wenn nicht? Wenn alle so stur waren wie dieser? Dann wäre er an diesem Strand für den Rest der Ewigkeit gefangen. Seine Kinder würden in das Totenreich überwechseln, ihre Kinder und deren Kinder. Alle würden ihn zurücklassen. Nein, das durfte nicht passieren! Er hatte eine Münze und die musste er bekommen.

Eigentlich würde sich das ja von selbst lösen. Früher oder später fand die Münze ihren Weg aus seinem Körper, wenn auch nicht gerade unter angenehmen Bedingungen. Ob der Fährmann die Münze dann noch wollte?

Anscheinend musste Jean nur warten und der Natur ihren Lauf lassen. Allerdings war er tot und befand sich in einer Zwischenwelt, wo die normalen Gesetze der Natur nicht mehr galten. Es war möglich, dass die Münze ewig in seinem Körper gefangen war – wie er in dem Totenreich.

Jean konnte nicht mehr weinen. Er fühlte auch nichts mehr. Also hatten seine Organe sicher auch ihre Funktion, ihren Dienst aufgegeben. Mit zittriger Hand rieb er sich den Magen und tastete ihn behutsam ab. Wenn die Münze ihren Weg nicht nach unten hinausfand, dann würde er sie oben herausbekommen.

Jean schob sich einen Finger in den Rachen – nichts. Ein weiterer Finger folgte – immer noch nichts. Selbst den Würgereflex besaß er nicht mehr.

Jean brauchte ein Messer. Wenn es sein musste, würde er sich die Münze aus dem Bauch schneiden. Schmerzen konnte er ja auch nicht mehr fühlen, also wovor sollte er Angst haben?

Nur, woher sollte er ein Messer bekommen? Sicher hatte niemand so etwas dabei. Wozu brauchte ein Verstorbener »im Leben danach« auch ein Messer? Aber ein spitzer Stein wäre auch eine gute Möglichkeit. Jean suchte den Boden ab. Er sah grauen, grobkörnigen Sand, fand aber keinen einzigen Stein.

Mit gesenktem Kopf auf den Knien saß er eine Weile am Strand herum. In seinem Kopf hallte das Rauschen des Meeres. Olivia wartete schon so lange auf der anderen Seite auf ihn, er konnte sie nicht länger warten lassen. Auch wenn Jean der Gedanke widerstrebte, sah er keine andere Möglichkeit: Er musste jemandem die Münze stehlen.

5

»... es ist gar nicht so einfach, in den innenstädtischen Dienst zu kommen. Es ist weniger eine Frage von deinen Stärken und Fähigkeiten, sondern von »Vitamin B«. Heutzutage ist »Vitamin B« alles. Gilt sicher auch im Leben danach. Wie bist du an deinen Job gekommen? Auch durch Beziehungen?«

Eduardo nickte, obwohl er aufgehört hatte, seinem ersten Passagier zuzuhören. Seit der in das Boot eingestiegen war, redete er und redete. Um sich abzulenken, holte Eduardo seine erste selbstverdiente Münze hervor. Voller Stolz betrachtete er sie lächelnd, bis er stutzte: etwas stimmte nicht. Sofort hörte er auf, das Boot zu lenken und hielt die Münze ein Stückchen höher, um sie besser im Mondlicht betrachten zu können.

»Ist etwas?«, fragte der Verstorbene.

Eduardo ging rasch zum Bug und hielt sie ins Licht der Laterne. Sofort erkannte er die Wahrheit: Auf den ersten Blick sah die Münze ganz normal aus, doch bei genauerem Hinsehen sah man die feinen Unterschiede. Der Kopf des Demetrius war viel zu groß. Er ähnelte ihm zwar, wirkte aber irgendwie amateurhaft, wie selbstgemacht. Die Ränder der Münze waren zu glatt und das Material fühlte sich auch anders an. Eine Fälschung!

»Das ist kein Obolus!«, schrie Eduardo. Wut packte ihn und sein ganzer Körper begann zu zittern. Er war auf einen Betrüger mit einer billigen Fälschung hereingefallen. So etwas passierte nur Anfängern oder einem besonders dummen Fährmann. Wenn das herauskäme, wäre er für die anderen nur noch eine Witzfigur.

Eduardos Augen wurden zu so kleinen Schlitzen, dass man sie kaum noch erkennen konnte. Nervös rutschte der Verstorbene hin und her und zog an seinem Kragen. »Ähm ... ist das ein Problem?«

Eduardo warf die Münze über Bord. Er sah noch wie der dunkle Punkt im Nebel ins Wasser stürzte, dann wendete er und steuerte zum Strand zurück.

»Was wird das? Fahren wir zurück?«

Eduardo antwortete nicht.

Der Verstorbene wollte aufstehen, aber Eduardo schaukelte ein wenig und der Tote fiel wieder auf seinen Platz.

»Hey ...«

»Noch ein Wort und ich werfe dich über Bord! Sei froh, dass ich dich den Rest der Ewigkeit am Strand verrotten lasse und nicht den Fluten des Styx übergebe.«

Der Passagier wurde kreidebleich und sagte nichts mehr, was Eduardo recht war. Er musste so schnell wie möglich zum Strand zurück und jemand anderen mitnehmen.

6

Die neuen Verstorbenen fielen vom Himmel und schlugen sanft auf den Strand auf. Mal mehr, mal weniger fielen sie von oben. Wie ein schwacher Sommerregen.

Die Wartenden machten Platz für die Neuankömmlinge. Einige sahen sie mitleidig an, andere misstrauisch, denn jeder Neue konnte früher mitgenommen werden als man selbst. Und einige Wenige sahen in ihnen eine Möglichkeit, um überhaupt selbst von hier wegzukommen. Der feine Sandstaub hatte sich noch nicht einmal gelegt, da schlichen schon die Ersten um die Neuankömmlinge herum.

Jean hatte ihnen ein paar Mal dabei zugesehen. Den meisten gelang es nicht, die Münzen ihren rechtmäßigen Besitzern zu stehlen, doch einigen schon. Er rang mit sich selbst. Konnte er es? Konnte er es nicht? Jemand anderen bestehlen, um einen persönlichen Vorteil daraus zu ziehen? Doch Jean musste nur an Olivia denken und schon waren die letzten Zweifel verschwunden: Er tat es ja nicht für sich, er tat es für Olivia. Immerhin stahl er ja nicht, weil er keine Münze besaß. Sie wurde ihm in gewisser Weise genommen.

Und überhaupt stahl Jean ja eigentlich nicht, er borgte sie sich nur aus. Wenn er einmal auf der anderen Seite war, würde er einen Weg finden, die eigene Münze aus dem Körper zu bekommen und dem »Beborgten« seinen Obolus wiederzugeben.

Etwas abseits von den Anderen schlug ein weiterer Neuankömmling auf. Außer Jean schien ihn niemand zu bemerken. Langsam näherte er sich ihm. Es war ein Mann, ungefähr in seinem Alter. Nur besaß er noch volles Haar, das ein wenig grau war, und sein Anzug schien nicht so teuer wie sein eigener.

Jean betrachtete den Fremden eine Weile. Wer war er? Hatte er eine Familie, eine Frau, die auf ihn wartete? Nein, mit solchen Gedanken durfte er sich nicht herumplagen. Es war ein Verstorbener, einer von vielen. Und hoffentlich einer mit einem Obolus in seinem Mund. Jean verdrehte die Augen und seufzte leise. Bei seinem Glück hatte er sich bestimmt einen ausgesucht, der ohne Münze hier ankam.

Nach kurzem Zögern öffnete er widerwillig den Mund des Mannes und blickte hinein. Erst sah er nur gähnende Leere, bis etwas in der Dunkelheit des Rachens aufblitzte: ein schmaler, weißer Streifen, ein einzelner Funke.

Jeans Finger zitterten als er sie in den Mund schob und die Münze fühlte. Sie lag unter der Zunge. Eigentlich war es ganz einfach, er musste sie nur in die Finger nehmen und herausziehen.

Der Mann war noch immer nicht zu sich gekommen. Er würde seinen Verlust erst viel später bemerken, falls er nicht sogar annahm, seine Familie hätte ihm die Überfahrt verweigern wollen.

Mit einer schnellen Bewegung zog Jean die Münze heraus. Lachend sprang er empor, hielt sie triumphierend in die Höhe. Endlich!

Habe sie ... habe sie ... habe sie ...

Jetzt musste er nur noch auf den nächsten Fährmann warten und konnte Olivia nach so langer Zeit wieder in die Arme nehmen, ihr in die Augen sehen, sie auf die schmalen Lippen küssen und ...

Was würde sie sagen, wenn sie davon erfuhr?

Möglicherweise gar nichts, denn sie wäre zu enttäuscht von ihm, um auch nur ein Wort mit ihm zu reden. Das war nicht der Jean, den sie geheiratet hatte. So sehr sie ihn auch liebte, aber das er sein Glück über das eines anderen stellte, würde sie ihm niemals verzeihen.

Jean betrachtete die Münze. Es war nicht seine. Auch wenn er sie in Händen hielt und nun die Überfahrt antreten konnte war es nicht seine Münze und auch nicht seine Überfahrt.

Der Fremde zuckte mehrmals. Er öffnet die Augen, erhob sich langsam und sah sich um. Dann befühlte er seinen Mund.

»Ach du Schande!«, kam es ihm erschrocken über die Lippen.

Als er zu Jean sah, schnipste der ihm die Münze zu und zuckte vielsagend mit den Schultern. »Heute ist dein Glückstag«, sagte er und ließ ihn alleine.

Mit gesenktem Kopf und Händen in den Taschen ging Jean zum Wasser. Er betrachtete die Wellen und versuchte durch die dichte Nebelwand zu sehen. Vielleicht schaffte er es ja, alleine hinüber zu gelangen? Das andere Ufer konnte schließlich ganz nahe sein – so nahe, das man es sehen könnte, wenn der Nebel nicht wäre. Vielleicht war alles eine Lüge, damit die Fährmänner ihren Lohn bekamen.

Sollte er es versuchen?

»Ich weiß, woran du denkst«, riss ihn eine Stimme aus seinen Gedanken.

Blinzelnd sah Jean zu dem Mann hinüber. Es war derjenige, der versucht hatte, seine Münze zu stehlen. Der Mann kaute an seinen Nägeln und nickte zum Styx hinüber. »Du willst alleine hinüberschwimmen. Durch den Fluss des Todes, ohne den Fährmann zu bezahlen. Doch ich warne dich...« Ein lautes Knacken ertönte. »Keiner, der es versucht hat, ist je wieder aufgetaucht.« Der Mann spuckte seinen abgebissenen Fingernagel aus und schob etwas Sand darüber.

»Und?«, erwiderte Jean bissig. »Sie werden die andere Seite erreicht haben!«

»Glaubst du nicht, wenn es so einfach wäre, würde es jeder tun? Ich habe es einmal versucht, vor Jahren. Nach der bitteren Erkenntnis, dass meine Frau mir keinen Obolus mitgegeben hatte, sprang ich ins Wasser. Ich schwamm und schwamm und dann ... sah ich sie.«

»Wen?«

»Die verdammten Seelen. Sie irren im Wasser umher und sind von der permanenten Dunkelheit wahnsinnig geworden. Es sind nicht einfache Verstorbene, wie du und ich. Sie sind verzerrte, angsterfüllte Schatten der Toten. Ich habe so viel Angst bekommen, dass ich schnell wie der Blitz zurückgeschwommen bin.«

Jean starrte noch immer in den Nebel. Ohne den Mann ein weiteres Mal anzusehen, zog er seine Schuhe aus. Als er sich erhob, ergriff der Mann seinen Arm und hielt ihn fest. »Okay, du hast dich entschlossen, aber – zum Teufel – glaube mir. Wenn es die geringste Chance gäbe, alleine in das Totenreich zu kommen, wäre ich dann noch hier und würde versuchen, jedem Neuankömmling seine Münze zu stehlen?«

»Wartet da drüben jemand auf dich?«

Der Mann verneinte. Jean schüttelte dessen Arm ab, zog das Jackett aus und marschierte entschlossen los. Viele beobachteten ihn dabei, als er anfing zu schwimmen. »Ich heiße Kai«, rief der Mann ihm noch hinterher, obwohl er wusste, dass Jean ihn nicht mehr hören konnte.

7

Jean schwamm und schwamm, doch das andere Ufer kam nicht in Sicht.

Wie lange war er schon unterwegs? Es war, als würde er wie durch einen Albtraum schwimmen. Kein Vorwärts und kein Zurück mehr, immer die gleiche Dunkelheit und Stille. Nur die Geräusche seines eigenen Schnaufens, seine Schwimmgeräusche und die bedrohlich klingenden Wellen vernahm er.

Jean hatte mehr und mehr Mühe, oben zu bleiben. Seine Arme wurden mit jedem Schwimmzug schwerer. Es war, als würde sein eigener Körper eine Last werden, die er nicht mehr halten konnte. Warum kämpfte er überhaupt darum, oben zu bleiben? Was hielt ihn über Wasser? Er war tot. Und wenn er wollte, konnte er durch den Fluss laufen. Obwohl »Fluss« nicht die richtige Bezeichnung war: Das hier war ein riesiges Meer.

Jean sah zum Nachthimmel empor, konnte ihn durch den Nebel jedoch nicht sehen. Kein einziger Stern war zu erkennen, selbst der große Mond war nur ein vages Schimmern. Jean hörte auf zu rudern, schloss die Augen und begann langsam zu sinken. Er schwebte hinab. Und als er die Augen wieder öffnete, blickte er in eine dunkle, dicke Brühe, die wie der Nebel die Sicht erschwerte. Je näher er dem Grund kam, desto weniger wurde er vom Wasser getragen. Unter sich konnte Jean eine Schlammbank ausmachen. Es war so herrlich still.

Jean begann wieder zu schwimmen. Es war viel angenehmer, nicht gegen die Wellen und Strömung ankämpfen zu müssen. Vereinzelt konnte er unter sich Überreste von Booten ausmachen, die aus dem Schlamm herausragten. Ringsum waren unzählige, verschiedene Fischschwärme. Kleine graue Fische mit sieben Augen, runde Fische mit Tentakeln, die so schwarz und glänzend waren, als würden sie aus frischem Lack bestehen, und viele andere bizarre Arten, die Jean noch nie gesehen hatte. Im Fluss des Todes herrschte mehr Leben, als er für möglich gehalten hätte.

Es fiel Jean schwer, sich von diesen eigenartigen Anblicken loszureißen.

Er schwamm aber weiter und ließ die Fischschwärme und Wracks hinter sich. Bald herrschte nur noch undurchdringliche Finsternis. Weder den schlammigen Grund, noch das schwache Licht des Mondes an der Oberfläche konnte Jean nun sehen. Er drehte sich um. Jedenfalls glaubte er, es zu tun. Wo war er? War er überhaupt weitergeschwommen?

Jean sah hinauf und wollte nach oben schwimmen, doch er hatte das Gefühl weiter hinab in die Tiefe zu tauchen. Panik stieg in ihm hoch. Hektisch fuhr er herum, strampelte mit aller Kraft und schien sich dennoch immer mehr dem Grund zu nähern. Dann sah er einen verschwommenen dunklen Schatten, der sich ihm näherte. Dieser schwebte auf ihn zu und Jean erkannte, dass es sich um eine Frau handelte. Sie trug ein dünnes, weißes Kleid. Ihr langes, blondes Haar schwebte nach oben. Sie hatte ihm den Rücken zugewandt und bewegte sich leicht hin und her, als würde sie zu einer stummen Melodie schunkeln.

Jean schwamm auf sie zu. Sie war wie er: eine verirrte Seele. Gemeinsam würden sie einen Weg aus der Dunkelheit finden.

Er wollte sie an die Schulter packen und umdrehen, da fuhr sie plötzlich herum und Jean stieß ein stummes Grunzen aus. Eine aufgedunsene Grimasse blickte ihm entgegen, von Fischen halb weggefressen. Sie besaß keine Lippen und grinste Jean mit blanken Zähnen an. Ihre Augen waren leere Höhlen. Überall klafften große, schwarze Wunden auf der Haut und das rohe Fleisch schwebte in großen, fransigen Fetzen um das Gerippe herum.

Sie streckte ihre Hände mit knöchernen Fingern nach ihm aus. Jean versuchte erneut zu schreien, was ihm unter Wasser nicht gelang, schluckte Unmengen Wasser und strampelte nach hinten, doch er kam nicht weg. Die Frau näherte sich immer mehr. Sie öffnete den Mund und sagte etwas, was Jean jedoch nicht verstand. Ihr Gesicht nahm flehende, fast schon bettelnde Züge an und sie wiederholte den Satz wieder und wieder. Jean glaubte zu wissen, was sie sagte: Bitte, nimm mich mit! Bitte, nimm mich mit!

Er strampelte verzweifelt weiter, als ihn plötzlich etwas berührte: ein weiterer halb abgenagter Verstorbener. Dessen gesamte linke Gesichtshälfte fehlte und auch er flehte: Bitte nimm mich mit!

Weitere Verdammte schwebten aus der Dunkelheit. Sie alle streckten die Arme aus und bettelten um Hilfe. Nein, so wollte Jean nicht enden! Nicht als Futter für die Fische. Hätte er doch nur auf die Warnungen gehört und wäre am Strand geblieben!

Mit aller Kraft kämpfte er sich frei und sah sich hektisch um. Er war eingekreist. Sie waren überall, krochen aus jedem Winkel der Dunkelheit. Jean sah nach oben und erkannte einen kleinen gelben Punkt – nicht größer als der erste Stern am Dämmerungshimmel –, der sich langsam bewegte. Jean wusste nicht, was dieser schwache Lichtschein war, aber das war ihm egal. Die Angst trieb ihn nach oben.

Er ruderte mit den Armen so schnell er konnte. Die Verdammten folgten ihm, schnappten nach seinen Beinen. Bitte nimm uns mit!

Das Wasser wurde heller und klarer. Jean erkannte in dem Stern einen dunklen Schatten an der Wasseroberfläche. Mehrmals verfehlten die abgenagten Klauenhände seine Beine nur knapp. Ständig streiften ihre Finger den Stoff seiner Hose.

BITTE NIMM UNS MIT!

Die Strömung wurde kräftiger und Jean konnte die Linien der Wellen an der Wasseroberfläche erkennen. Nur noch ein Stückchen. Nur noch wenige Meter.

Die Verstorbenen entfernten sich immer mehr von ihm. Vielleicht hatten sie einfach nicht die Kraft, so lange zu schwimmen oder sich an der Oberfläche zu halten. Stumm stiegen sie wieder in die Dunkelheit hinab und Jean tauchte endlich auf.

8

»... ich wusste nicht, dass es sich um eine Fälschung gehandelt hat. Da hat man uns beide betrogen. Kannst du nicht vielleicht ...«

Als plötzlich etwas aus dem Wasser hervorschnellte, schrien Eduardo und der Passagier gleichzeitig. Prustend und schnaubend packte das Ding nach dem Boot und hielt sich daran fest. Das Boot schaukelte so stark, dass es beinahe gekentert wäre.

»O Gott! Was ist das? Was ist das?«

»Ein Verdammter aus dem Fluss des Todes«, flüsterte Eduardo. Er konnte es nicht glauben. All die Geschichten und Legenden waren wahr. Verstorbene aus dem Wasser, die an die Oberfläche kamen und den Fährmann angriffen: Sie existierten wirklich. Erst ein Passagier mit falschem Obolus und jetzt so etwas. Das war vielleicht ein erster Arbeitstag für Eduardo.

»Mach, das es verschwindet!«, schrie der Passagier.

Eduardo hob sein Ruder und schlug nach dem Verstorbenen. Erst traf er nur dessen Finger und schreiend ließ der Verdammte das Boot los. Eduardo schlug wieder zu, verfehlte ihn aber. Der Verstorbene verschwand unter Wasser und tauchte auf der anderen Seite des Bootes wieder auf. Mühsam hob er sich hinein und begann zu würgen. Eduardo wollte erneut zuschlagen, hielt aber inne. Der Verstorbene erbrach sich in das Boot.

»Uh ... ekelig«, sagte der Passagier und rutschte auf die andere Seite.

Langsam ließ Eduardo das Ruder sinken. »Kenn ich dich nicht?«

Der Verstorbene ließ sich nach hinten fallen und nickte.

Eduardo betrachtete angewidert die Sauerei in seinem Boot. »Du bist der erste Tote, den ich kotzen sehe.«

»Wenn du ... wenn du das Gleiche gesehen hättest wie ich, dann müsstest du auch kotzen.«

Als er die Laterne am Bug sah, musste Jean lächeln. Danach riss er die Augen auf und fuhr hoch. Hastig durchsuchte er sein Erbrochenes, bis er fand, wonach er suchte.

»ICH HAB SIE!«, schrie er und hielt etwas in die Höhe.

»Was hat er?«, fragte der andere Passagier.

Lachend tauchte Jean seine Hand ins Wasser und putzte etwas sorgfältig an seinem Hemd ab. Dann hielt er mit zittriger Hand Eduardo die Münze entgegen.

»Hier! Nimm! Das ist für die Überfahrt. Bitte nimmt. Es ist ein echter Obolus und es ist meine Münze. Meine

Zögerlich – und vor allem: widerwillig – nahm Eduardo die Münze entgegen. Er betrachtete sie von beiden Seiten und sah dann den Verstorbenen an.

Der war nass, völlig erschöpft und Eduardo wusste nicht, was er da unten erlebt hatte, aber er war gewillt, diesem Mann eine Chance zu geben. Warum auch nicht? Das war eine besondere Münze mit einer besonderen Geschichte. Eduardo nickte und steckte den Obolus in seinen Beutel.

»Was? Eine ausgekotzte Münze nimmst du an, meine aber nicht?«, rief der andere Passagier erbost.

»Ich bringe den eben noch zurück, dann geleite ich dich ins Totenreich. Wird ein wenig dauern«, sagte Eduardo und begann zu rudern.

Lächelnd ließ sich Jean nach hinten fallen und winkte ab. »Lass dir ruhig Zeit. Ich kann warten.«