Verhasster Fluss, verhasstes Land

Karl Plepelits

1

Eine der großen Fragen der Menschheit lautet: Wo befinden sich die Seelen der Verstorbenen? In der Unterwelt, wie manche Religionen lehren? Oder im Himmel, wie das Christentum es lehrt und wie es Florestan in seiner unvergesslichen ersten Arie so wunderbar beschreibt:

»Ein Engel, Leonoren, der Gattin, so gleich,
der führt mich zur Freiheit ins himmlische Reich.«

Ganz sicher scheint sich indes auch die christliche Offenbarung nicht zu sein, ob die Verstorbenen nicht etwa doch in der Unterwelt leben (falls der Ausdruck »leben« hier erlaubt ist). Schließlich heißt es im Apostolischen Glaubensbekenntnis von Christus ausdrücklich: »... gekreuzigt, ge- storben und begraben, hinabgestiegen in das Reich des Todes« (früher: »zur Hölle«).

Ähnliches berichtet der griechische Mythos vom Sänger Orpheus (der in der frühchristlichen Kunst aus eben diesem Grund mit Vorliebe als Symbol für den auferstandenen Christus dargestellt wird): Nach dem frühen Tod seiner innig geliebten Gattin Eurydike sei er in die Unterwelt hinabgestiegen und habe dort durch seinen Gesang und sein Lyraspiel die Wächter des Totenreiches und schließlich Pluton, dessen Herrscher, selbst so sehr bezaubert, ja zu Tränen gerührt, dass dieser seine Bitte erhörte und ihm Eurydike zurückgab, freilich unter einer Bedingung: Er müsse vorangehen und dürfe sich nicht nach ihr umwenden, ehe sie die Oberwelt erreicht hätten. Als nun deren Licht bereits in der Ferne zu sehen war, Orpheus aber Eurydikes Schritte hinter sich nicht mehr hörte, wandte er sich aus Liebe und brennender Sorge unwillkürlich doch um. Augenblicklich verwandelte sie sich in einen Schemen aus Nebel und entschwand im Reich des Hades. Und diesmal blieb ihm der Weg dorthin versperrt, und seine Musik verhallte ungehört.

2

Südlich von Wien, zwischen Rax und Schneeberg, findet sich ein enges, von steilen Felswänden begrenztes Tal, genannt das Höllental.

Wie, so fragt sich Luciano Schroll, der große Meister, ist das Höllental wohl zu seinem Namen gekommen? Hat es damit etwa eine besondere Bewandtnis? Und er beschließt, der Sache auf den Grund zu gehen. Er nutzt einen freien Tag zwischen zwei Auftritten an der Wiener Staatsoper, begibt sich ins Höllental und wandert zu einer Höhle, die er vor Jahrzehnten, als er noch am Anfang seiner Sängerkarriere stand, bei einer Wanderung entdeckte, aber nicht weiter beachtete. Vergessen hat er sie freilich nicht, und jedes Mal, wenn er auf den Opernbühnen der Welt den Orpheus gibt, muss er an sie denken und fragt sich, ob in ihr etwa ein Zugang zur Hölle zu suchen sei, natürlich nicht zu einer Hölle, wo sich die Teufel an den Qualen der Verdammten weiden – an dieses Ammenmärchen glaubt er ja längst nicht mehr –, sondern zu der Hölle, in die Christus hinabgestiegen ist, sprich, dem Hades, der Unterwelt, in der die Seelen der Abgeschiedenen wohnen. Orpheus, sagt er sich, hat es gewagt. Warum soll ich es nicht wagen? Ist meine Liebe etwa weniger stark? Ist meine Trauer denn geringer?

In der Tat, Schrolls Trauer ist gewiss nicht geringer als die des Orpheus. Er trauert um seine über alles geliebte schöne, junge Gattin Donna, auch sie eine berühmte Sängerin, eine Ikone der Popmusik, verehrt, bewundert, angebetet von den Massen; und gar viele Verehrer umlagerten sie, begehrten sie, bedrängten sie, natürlich stets vergeblich. Denn sie liebte Luciano mit derselben Hingabe wie er sie. Aber dann geschah es eines Nachts nach einem Konzert in Paris, dass sie auf der besinnungslosen Flucht vor einem allzu stürmischen Verehrer direkt in ein Auto lief und ihre Seele aushauchte.

Sie hauchte ihre Seele aus und ließ Luciano in unsagbarer Trauer zurück. So sehr trauert er um sie, dass er auf die Idee verfiel, dem Beispiel des Orpheus zu folgen.

3

Ausgerüstet mit einer starken Stirnlampe begibt er sich zu jener Höhle im Höllental und macht sich mit kaum weniger Lampenfieber an den Abstieg, als vor jedem seiner Auftritte; denn der Höhlenboden fällt sofort steil ab. Und während er sich noch über den merkwürdigen Umstand wundert, dass diese Höhle als möglicher Zugang zur Unterwelt heutzutage so gut wie unbekannt ist, scheint seine Expedition auch schon zu Ende zu sein. Nackter, abweisender Fels starrt ihm entgegen. Aber dann sagt er sich: Wenn der Apostel Paulus damit recht hat, dass der Glaube Berge versetzen kann, dann muss der Glaube auch Felsen durchbrechen können. Und siehe da, an einer Stelle, die er bestimmt schon etliche Male genauestens untersucht hat, entdeckt er zu seiner Verblüffung einen niedrigen Spalt. Ohne sich darüber lange den Kopf zu zerbrechen, schlüpft er kurzerhand hinein und macht in gebückter Haltung ein paar Schritte, bis er sich wieder aufrichten kann.

Vor ihm tut sich ein schmaler Gang auf, der steil in die Tiefe führt. Ihn empfängt ein sonderbarer Geruch. Er erinnert ihn an Fäulnis und an Weihrauchduft zugleich. Je weiter er absteigt, umso mehr weicht die Finsternis schwachem, mehr und mehr von geheimnisvollem Goldschimmer durchzogenem Dämmerlicht. Mehr als einmal gerät er in Versuchung, seine Lampe auszuschalten, um die Batterie zu schonen. Vorläufig scheint es freilich wichtiger, den steinigen Boden vor seinen Füßen auszuleuchten, um einem Fehltritt vorzubeugen.

Plötzlich: Grelles Licht. Geblendet schließt Luciano die Augen, öffnet sie mit gebotener Vorsicht wieder, glaubt zu träumen. Vor ihm steht ein leibhaftiger Engel, schwarz gekleidet, ausgestattet mit einem Paar beeindruckender schwarzer Flügel, und blickt ihm mit grimmiger Miene entgegen. In der Hand hält er ein Schwert, aus dessen Spitze, bösartig zischend, helle Flammen schlagen. Und mit einer Donnerstimme, die in der Höhlung schaurig widerhallt, ruft er ihm entgegen: »Halt! Was führt dich hierher?«

Da lösen sich Luciano, in den Worten Homers, sogleich die Knie und das liebe Herz. Zugleich verspürt er so etwas wie Freude und Genugtuung; denn diese erschreckende Begegnung ist ihm eine Bestätigung, dass seine Vermutung richtig war. Offensichtlich steht er vor einem Höllen- oder Todesengel. Von diesen widersprüchlichen Gefühlen hin- und hergerissen, starrt er viele Herzschläge lang auf das grauenerregende Flammenschwert, als hätte ihn der Blick der Gorgo versteinert. Doch dann ermannt er sich und sagt, genauer, stammelt: »Die Liebe.«

»Die Liebe führt dich hierher?«, tönt es zurück. »So willst du dich im Hades mit einer geliebten Person wiedervereinen?«

»Ja, ja. Mit meiner Frau. Aber nicht im Hades.«

»Du willst sie dem Hades entführen?«

»Hm. Ja.«

»Weißt du nicht, dass dies völlig unmöglich ist?«

»Hm. Völlig unmöglich nicht. Wenn Sie es erlauben ...«

»Ausgeschlossen.«

»Aber ...«

»Zurück!«

Nach kurzem Schweigen, und während noch dem Zitternden vor Bestürzung der Mund verschlossen bleibt: »Wie bist du eigentlich bis hierher vorgedrungen?«

Doch Luciano ist zu keiner Antwort mehr imstande. Sein Verstand funktioniert trotz allem ausgezeichnet. Und da erinnert er sich an die Methode des Orpheus, ermannt sich abermals, holt tief Atem und stimmt, kurz entschlossen, Florestans erste Arie aus Beethovens Fidelio an: »Gott! Welch Dunkel hier! O grauenvolle Stille!«

Und o Wunder, die Gesichtszüge des Engels glätten sich, werden weich, ja geradezu übernatürlich schön, er lauscht mit sichtlicher Rührung und sagt zuletzt mit immer noch erschreckend rauer Stimme, doch in unerwartet freundlichem Ton: »Wahrlich, wer könnte deinem göttlichen Gesang widerstehen? Und da du ja nicht ohne die Zustimmung einer höheren Macht bis hierher vorgedrungen sein kannst, will ich dich nicht weiter hindern, deinem Ziel näherzukommen. Mehr noch, ich werde dich begleiten. Du weißt ja nicht, an wen du dich zu wenden hast. Falls inzwischen noch ein Lebender in das Reich des Todes einzudringen begehrt, so wird ihn die Flamme dieses Schwertes aufhalten.«

Er heißt Luciano unverzagt näherkommen und seine Lampe ausschalten, stellt hinter ihm sein Flammenschwert auf den Boden; und o Wunder, es bleibt aufrecht stehen, füllt mit seiner Flamme die gesamte Breite des Ganges aus.

4

Ohne weitere Präliminarien beginnt der Höllenengel den Abstieg. Luciano, sprachlos vor Aufregung, folgt ihm auf dem Fuß.

»Und an wen ...«, stammelt er nach geraumer Zeit, unfähig, seine Frage zu vollenden.

»An wen du dich zu wenden hast? An König Pluton natürlich.«

»Und? Glauben Sie, wird er ...«

»Dir deinen Wunsch erfüllen? Offen gesagt, nein.«

»Nein?«

»Andererseits, wer nicht wagt, der nicht gewinnt.«

»Oh, danke. Das klingt ja ... Und vielleicht werden Sie für mich ... Übrigens, spricht König Pluton ... Ich meine, spricht er auch so gut Deutsch wie Sie? Oder müssen Sie dann ...«

»Dolmetschen? Nein, nein. Ich spreche ja gar nicht Deutsch. Du übrigens auch nicht, seit du das Flammenschwert erblickt hast. Du merkst es nur nicht. Hier sprechen alle die Sprache des Paradieses, dieselbe Sprache, die Gott und die Heiligen sprechen und die auch die ersten Menschen sprachen, ehe Gott sie ihnen verwirrte. So sagt es ein alter griechischer Dichter: Gar viele Sprachen haben die Sterblichen, aber nur eine die Unsterblichen. Und unsterblich sind ja auch wir Bewohner des Hades einschließlich der Verstorbenen selbst.«

Schweigen.

Das Licht des Flammenschwerts wird schwächer, der Weg noch steiler, noch steiniger, noch rauer. Luciano, immer noch maßlos aufgeregt, stolpert, stürzt, fällt weich, nämlich auf den Todesengel, reißt ihn mit in die Tiefe. Dieser lässt ein grauenhaftes Donnerwetter auf Luciano niedergehen, droht, ihn sofort wieder an die Oberwelt zu befördern, oder besser, ihn in den Tartarus zu stoßen; dort werde Heulen und Zähneknirschen sein. Nun ist das Gesicht des Todesengels eine teuflische Fratze, deren Anblick allein schon, ähnlich wie das Haupt der Gorgo, geeignet erscheint, einen Sterblichen in eine Statue aus Marmor zu verwandeln. Trotzdem versucht Luciano, während er sich aufrappelt, um Verzeihung zu bitten. Doch seine Zunge ist gelähmt, er zittert am ganzen Leib.

Endlich verstummt das Donnerwetter, verstummen die Drohungen. Der Höllenengel erhebt sich, wendet sich um, setzt den Abstieg fort, und Luciano, ohne eine Bitte um Verzeihung über die Lippen gebracht zu haben, ihm nach. So stapfen die beiden schweigend in die Tiefe, und kein Ende ist in Sicht. Plötzlich spürt Luciano, wie es deutlich wärmer, nein, heißer wird. Gleichzeitig verstärkt sich der geheimnisvolle Goldschimmer, der das trübe Dämmerlicht durchzieht, ebenso jener sonderbare Geruch nach Fäulnis und Weihrauchduft, der in der Luft liegt. Und dann durchschreiten sie so etwas wie ein Tor und stehen unverhofft im Freien. Luciano steht tatsächlich. So groß ist seine Überraschung, so abrupt der Übergang, dass er seinen Schritt unwillkürlich hemmt. Er blickt, wie von einem der Hügel Budapests auf die Donau, auf einen breiten Fluss hinab, hinter dem sich eine grenzenlose, kahle Ebene zu erstrecken scheint. Über allem liegt ein fahles Dämmerlicht, etwa wie bei Vollmond, nur mit dem Unterschied, dass kein Mond am Himmel steht und keine Sterne.

Der Todesengel ist inzwischen ohne Aufenthalt weitergeeilt, bleibt abrupt stehen, wendet sich um. »Na, was ist? Traust du dich nicht weiter?«

Gottlob, das klingt zwar reichlich ungeduldig und auch nicht übertrieben freundlich, aber wenigstens nicht mehr zornig oder bedrohlich. Und gottlob, Lucianos Sprechwerkzeuge funktionieren wieder. Er zeigt auf den Fluss. »Müssen wir da hinüber?«

»Klar. Oder möchtest du wieder umkehren?«

»Nein, nein. Nein, nein. Ich will ja ...«

»Na eben. Und sei getrost: unangenehm, abschreckend ist nur der Name des Flusses: Styx, der Verhasste

»Aber ich sehe nirgends eine Fähre, geschweige denn eine Brücke.«

»Ach, das mit der Fähre! Das fragen mich die Verstorbenen auch immer wieder. Nein, das mit dem Fährmann Charon ist ein bloßes Gerücht.«

»Ach so? Na, und kann man ihn wenigstens durchwaten, den Verhassten Fluss

»Aber wo. Dafür ist er viel zu tief. Du wirst schwimmen müssen. Aber pass schön auf, dass du kein Wasser schluckst. Ich hoffe, du kannst schwimmen? Sonst kehrst du besser gleich um.«

»Nein, nein, Schwimmen ist kein Problem. Nur, wieso ist das so wichtig, dass ich kein Wasser schlucke?«

»Weil du dann nicht mehr wüsstest, wer du bist. Das Wasser würde sämtliches Wissen, sämtliche Erinnerungen löschen. Darum nennt man den Fluss auch Lethe, das Vergessen. Die Verstorbenen können nicht so gut schwimmen, schlucken Wasser und vergessen alles, was in ihrem Leben je geschehen ist.«

Und Luciano, entsetzt: »Auch ihre Liebe?«

»Natürlich auch ihre Liebe, klar.«

»Das darf ja nicht wahr sein. Nein, das glaube ich nicht. Meine Donna hat mich so geliebt ... Sie kann unsere Liebe nicht vergessen haben. Außerdem war sie immer eine exzellente Schwimmerin.«

»Wie du meinst. Vielleicht ... Aber wie gesagt, schluck ja kein Wasser. Und jetzt komm endlich weiter.«

5

Verwirrt, bestürzt, verunsichert, folgt Luciano seinem Führer durch die Unterwelt. Die ungewohnte Hitze treibt ihm den Schweiß aus allen Poren, sodass er dem bevorstehenden feuchten Abenteuer einerseits mit zunehmender Erleichterung entgegensieht. Andererseits fühlt er sich immer stärker beunruhigt. Denn je näher sie kommen, umso deutlicher hörbar wird ein gefährlich klingendes Rauschen, ebenso ein noch gefährlicher klingendes Gebell und ein unheimlich klingendes vielstimmiges Zischeln oder Piepsen oder Wispern, wie von einer ganzen Kolonie von Fledermäusen.

»Was sind denn das für Stimmen, die so leise ... Und dabei ist überhaupt keiner zu sehen.«

»Ah, du siehst sie nicht? Tja, das liegt wahrscheinlich an deinen Augen. Die sind ja an das Licht der Sonne gewöhnt. Und es liegt natürlich auch an den Verstorbenen selbst. Sie besitzen nämlich keinen irdischen Leib, sondern eine eigene Seelenform, und die ist glashell, fast durchsichtig, ungefähr wie die einer Qualle. Das gilt übrigens auch für ihr Gewand. Alle haben sie das gleiche, Toga-ähnliche Kleid an.«

»Und die wispern alle so merkwürdig?«

»Natürlich, weil sie uns beobachten und es dir übelnehmen, dass du als Lebender hier herumspazierst. Sie haben ja das Wasser des Vergessens noch nicht getrunken. Weißt du, manche brauchen lange, bis sie sich ins Wasser trauen. Andere müssen erst schwimmen lernen. So lange sind sie unberechenbar.«

»Und? Können sie uns gefährlich werden?«

»Theoretisch schon. Aber ich bin ja bei dir.«

Schweigen.

Luciano versucht sein unbehagliches Gefühl abzuschütteln. Aber wie soll das gehen, wenn der Dämon der Angst ihn immer heftiger bedrängt? Denn mit jedem Schritt wird das Rauschen lauter, das Gebell beängstigender, das Wispern intensiver. Bald glaubt er im Gesicht, am Hals und an den Händen Berührungen wie von Fledermausflügeln, um nicht zu sagen, den Lippen von Vampiren zu verspüren. Oder bildet er sich das in seiner Beklemmung nur ein? Der Todesengel zeigt jedenfalls keinerlei Anzeichen von Beunruhigung. Aber durch noch etwas fühlt sich Luciano in zunehmendem Maße beunruhigt: Zu dem erwähnten sonderbaren Geruch gesellt sich allmählich ein weiterer, nicht weniger sonderbarer Duft, und der ist alles andere als lieblich oder, um es ungeschminkt zu sagen, erinnert ihn frappant an bestimmte menschliche Gerüche. Mit jedem Atemzug wird er intensiver, und Luciano hat bald mit Brechreiz zu kämpfen.

Glücklich erreichen sie das Ufer. Und augenblicklich fällt der unsichtbare Dämon der Angst aufs Neue über Luciano her. Denn das Rauschen ist mittlerweile zu einem ohrenbetäubenden Brüllen angeschwollen, und mit einem Schlag wird klar, warum: Weil die Strömung dieses Flusses der des Flusses Schwarza gleicht. Dieser durchrauscht das Höllental, ist jedoch im Vergleich dazu ein sanftes Bächlein.

Der Engel wendet sich nach Luciano um. »So. Und jetzt hinein ins Wasser. Und vergiss nicht: Ja nicht trinken.« Er breitet seine Flügel aus, erhebt sich in die Lüfte.

Ja nicht trinken? Diese Anweisung hätte er nicht zu wiederholen brauchen. Denn jetzt weiß Luciano, wo jener alles andere als liebliche Duft herkommt: vom Wasser, in das er tauchen und das er ja nicht trinken soll. Und er weiß jetzt, warum dieser Fluss »Der Verhasste« heißt.

Mehrere Augenblicke lang ist er fast geneigt, auf dem Absatz kehrtzumachen. Dann wirft er, kurz entschlossen, alle Bedenken von sich und tritt vorsichtig ins Wasser. Doch alle Vorsicht ist vergeblich, denn es wird sofort grundlos, mit unglaublicher Gewalt reißt ihn die Strömung mit, und er hat Mühe, sich durch hastige Schwimmbewegungen überhaupt über Wasser zu halten, noch dazu mit der vollständigen Kleidung, die natürlich augenblicklich vollgesogen ist. Wie soll man da verhindern, dass Wasser in Mund und Nase dringt? Nein, er kann es nicht verhindern, so sehr ihn auch davor ekelt. Aber gottlob, es gelingt ihm zu verhindern, das Eingedrungene zu schlucken. Er hofft es jedenfalls.

Weit abgetrieben, erreicht er endlich das andere Ufer. Inzwischen ist sein Ekel so heftig, dass sich, kaum ist er ans Trockene geklettert, sein gesamter Mageninhalt auf die Uferkiesel ergießt. Erst danach hat er Zeit, sich vor dem grauenerregenden Gebell und den noch grauenerregenderen Bestien, die es ausstoßen, zu entsetzen. Während er noch, kraftlos und nach Atem ringend, am Ufer kniet, springen diese auch schon zähnefletschend um ihn herum, bellen ihm die Ohren voll, blasen ihm ihren übelriechenden Atem ins Gesicht, schicken sich offenbar an, ihn gnadenlos zu zerfleischen. Soll er sie mit Steinen bewerfen, um sie zu verjagen? Oder werden sie dann vielleicht nur noch aggressiver? Und wo ist eigentlich der Engel? Wieso hilft der nicht?

Während er sich das noch überlegt, ist dieser gottlob auch schon zur Stelle, gibt besänftigende Laute von sich und schiebt sich zwischen die Bestien und Luciano; und siehe da, ihr Gebell verstummt, sie fletschen nur noch knurrend die Zähne. Luciano ermannt sich, rappelt sich auf und erstarrt erneut vor Überraschung, vor Entsetzen: Was er für ein Rudel blutdürstiger Bestien hielt, ist in Wirklichkeit ein einziger Köter, freilich von der Größe eines ausgewachsenen Ponys und, Schrecken über Schrecken, ausgestattet mit drei Hälsen und drei Köpfen und ebenso vielen zähnestarrenden, betäubenden Gestank ausstoßenden Mäulern.

»Das ist Cerberus«, sagt der Engel leichthin, als wolle er sich als Fremdenführer betätigen. »Den ankommenden Seelen tut er nichts. Er hindert sie nur daran, zurückzuschwimmen. Aber du bist ja keine Seele eines Verstorbenen, und darum ist er so außer sich. Doch jetzt komm. Wir wollen weiter.«

6

Weiter? Wie soll sich Luciano, derart geschwächt, das Gewand tropfnass, die Schuhe voller Wasser, fortbewegen? Ohne die Aufforderung des Todesengels zu beachten, setzt er sich wortlos auf den Boden und versucht wenigstens die Schuhe, so gut es geht, vom Wasser zu befreien. Erst danach ist er bereit, weiterzumarschieren, genauer, weiterzuspurten. Denn der Todesengel hat natürlich nicht warten können. Er ist schon weit voraus. Schwer atmend holt ihn Luciano ein und sinkt im nächsten Augenblick wie ein gefällter Baum ohnmächtig zu Boden. Zwar kommt er bald wieder zu sich, setzt sich auf, bleibt aber sitzen und fleht den Engel an, ein kleines Weilchen zu warten. Dieser macht ein unwilliges Gesicht. Aber er wartet.

Jetzt erst wird Luciano klar, dass seine Erinnerungen durch das ekelhafte Wasser nicht gelöscht sind, dass er also nichts davon geschluckt haben dürfte. Na, Gott sei Dank!

Zugleich wird ihm klar, was seinen Schwächeanfall verursacht haben könnte (abgesehen von der Übelkeit und ihren Folgen). Die Luft glüht ja förmlich wie in einer Wüste, wohlgemerkt, bei Sonnenschein, abgesehen davon, dass hier keine Sonne scheint, und man kommt sich vor, wie in einem Zelt mitten in der Wüste: Vor der Sonne ist man zwar geschützt, aber weil sie ja trotzdem indirekt durchscheint, glaubt man in der unbewegten heißen Luft zu ersticken. Und auch hier bewegt sich kein Lüftchen. Wie in einer Wüste? Ja, Luciano sitzt nicht in feuchtem Gras, nicht auf weichem Moos, nicht auf den Wurzeln eines schattenspendenden Baumes, sondern auf nackten Steinen, und es sieht hier wirklich aus wie in einer Wüste, aber keiner Sandwüste mit hoch aufragenden, an verschneite Berghänge erinnernden Dünen, keiner Felswüste mit bizarren Gebirgsformationen, sondern einer öden, toten, gestaltlosen Kieswüste.

Nun gut. Der Schwächeanfall dürfte einigermaßen überwunden sein. Nicht ohne Mühe erhebt sich Luciano, nickt dem Engel schweigend zu. Und das soll heißen: Weiter geht's. Doch nach nur wenigen Schritten macht Luciano wieder halt, lauscht, bittet ihn, einen Augenblick zu warten. Und nein, kein unheimliches Wispern mehr, keine gespenstischen Berührungen im Gesicht oder an den Händen.

»Gibt's hier, hinter dem Verhassten Fluss, keine Verstorbenen?«, so Luciano verwundert.

»O doch. Du siehst sie nur nicht.«

»Klar. Aber ich höre sie ja auch nicht.«

»Kein Wunder. Sie schweigen ja. Die am anderen Ufer hast du nur gehört, weil sie sich über dein Auftauchen so aufgeregt haben.«

»Und die hier regen sich nicht auf?«

»Nein. Sie beachten uns nicht einmal, haben ja auch keinen Grund dazu. Ihre Erinnerung an ein früheres Leben ist gelöscht. Und damit ist auch aller Neid auf die noch Lebenden gelöscht. Außerdem sind sie alle abgelenkt.«

»Abgelenkt? Wodurch?«

»Du wirst lachen: durch Fernsehen.«

»Fernsehen? Sie meinen, TV?«

»Sehr richtig. Wir gehen ja auch hier im Hades mit der Zeit.«

»Aha. Und wo ...«

»Du siehst sie wahrscheinlich genauso wenig wie die Seelengestalten. Aber überall im Umkreis stehen riesige Bildschirme.«

»Und davor sitzen Zuschauer?«

»Du sagst es. Tausende vor jedem.«

»Ah, meine Frau auch?«

»Na, selbstverständlich. Alle Verstorbenen sitzen heutzutage vor dem Fernseher.«

»Aber doch nicht ständig?«

»Doch. Ständig. Sie haben ja sonst nichts zu tun.«

»Nein? Aber sie werden doch hin und wieder zum Beispiel miteinander plaudern wollen. Oder nicht?«

»Nein, eben nicht. Dafür gibt es aber auch keinen Streit oder sonstigen Verdruss. Sie kennen ja auch keinen Schmerz, keinen Kummer, keine Sorgen, auch nicht um ihre Angehörigen. Alle Erinnerung ist gelöscht.«

»Heißt das ... Soll das heißen, meine Frau denkt gar nicht mehr an mich?«

»So ist es in der Tat.«

»Ha, das glaube ich nicht. Sie hat mich doch so geliebt. Hätte sie mich weniger geliebt, wäre sie nicht hier.«

»Das mag alles so sein, wie du sagst. Es ändert aber nichts an der Tatsache, dass die Verstorbenen nicht an ihre Lieben denken, sondern nur aufs Fernsehen achten. Falls sie nicht einfach wie früher vor sich hindösen.«

»Puh! Was ist denn das für ein Leben, noch dazu in dieser ständigen Düsternis.«

»Oh, glaube nicht, dass sie deshalb unglücklich sind. Im Gegenteil, hier herrscht vollkommene Zufriedenheit, ich möchte fast behaupten, vollkommenes Glück. Gehen wir wieder weiter?« Und das klingt nun schon beinahe freundlich. Offenbar fühlt sogar ein Todesengel ab und zu so etwas wie ein menschliches Rühren.

Also weiter durch diese grenzenlose Wüste. Von nun an bemüht sich Luciano angestrengt, die Seelenformen zu erkennen; aber vergeblich. Er sieht sie nicht, hört sie nicht. Überhaupt herrscht nun, wie eben in einer Wüste, absolute, immer unheimlicher anmutende Stille. Das Gebell des Cerberus ist verstummt, ebenso das Rauschen des Verhassten Flusses. Nur die eigenen Schritte sind zu hören, aber kein Vogelgezwitscher, kein Bienengesumm, geschweige denn das Glockengeläute weidender Kühe.

Lucianos Gewand trocknet in dieser glühenden Hitze zwar ungewöhnlich schnell, ist jedoch bald wieder nass, diesmal vom Schweiß, den ihm die unerträgliche Hitze auch jetzt aus allen Poren treibt. Im Übrigen hat sie den ekelerregenden Gestank des Verhassten Flusses getreulich bewahrt.

Nach geraumer Zeit bemerkt Luciano einen anderen, aber nicht weniger ekelerregenden Gestank, der zunehmend in der Luft liegt. Wo kommt der her?

»Bitte, was ist denn das für ein Geruch?«

»Ach, dieser wundervolle Duft? Der kommt von unten. Möchtest du ihn intensiver riechen? Ja? Dann folge mir.«

Und ohne Lucianos Antwort abzuwarten, biegt der Engel von der bisher eingeschlagenen Route ab. Und jawohl, »dieser wundervolle Duft«, wie er ihn nennt – ob ehrlich oder ironisch, bleibt ungewiss -, wird immer »wundervoller«, immer intensiver. Dann hält er inne, zeigt nach vorn. In nur geringer Entfernung ist eine große trichterförmige Einsenkung zu erkennen, die einer Doline im Karstgebirge ähnelt und in unergründliche Tiefen zu führen scheint. Und nicht nur das. Sondern von dort steigen ans Tageslicht: Erstens, jener »wundervolle Duft«. Zweitens, noch heißere, noch stickigere Luft. Und drittens, jammervolles Seufzen, Stöhnen, Ächzen, Schmerzensschreie.

»Was ist das?«, stößt Luciano erschrocken, bestürzt, entsetzt hervor.

»Einer der Zugänge zum Tartarus.« So die lakonische Antwort des Engels; und dazu kichert er, als wäre das ein großer Spaß. Hierauf erbarmt er sich des Entsetzens seines Schützlings und fährt fort: »Davon gibt es viele. Die Verdammten werden da hineingeworfen, um im ewigen Feuer auf ewig zu schmoren. Was ich vorhin über die vollkommene Zufriedenheit gesagt habe, gilt natürlich nur für die heroben. Also bleib schön anständig, damit es dir nicht gleich ergeht wie denen da unten. Denn dort ist, wie du hören kannst, Heulen und Zähneknirschen. Aber komm, gehen wir weiter.«

Also doch kein Ammenmärchen, das mit der Hölle, wo die Verdammten ...? Doch die Frage, ob es da auch Teufel gibt, die sich an deren Qualen weiden, erspart Luciano sich und seinem Führer.

7

Sie gehen also weiter, das heißt, Luciano taumelt weiter, und er braucht lange, bis er sich von diesem Schrecken erholt hat. Bewegen sie sich überhaupt weiter, oder treten sie nur auf der Stelle? Bald hat er nämlich das immer zwingendere Gefühl, als stünde er auf dem Laufband eines Fitnessstudios. Am Boden scheinen stets dieselben Steine zu liegen, die Landschaft ist eine leere, kreisrunde Bühne. Doch dann entdeckt er in der farb- und formlosen Düsternis vor sich unverhofft ein seltsames, dunkles Objekt. Es wächst langsam in die Höhe, der einzige Hinweis darauf, dass sie sich ja doch fortbewegen.

»Bitte, was ist das da vorne für ein Ding?«, murmelt er verwundert.

»Ah, hast du es schon erspäht? Das ist unser Ziel: König Plutons Thron.«

Lucianos Herz beginnt zu rasen. Werde ich, so sagt er sich in einem fort, bald meine geliebte Donna wiedersehen?

Nach geraumer Zeit kann er Genaueres erkennen. Vier gewaltige Säulen tragen eine riesige Kuppel. Das Ganze erinnert ihn, abgesehen von der Größe, an ein frühchristliches Ciborium. Und tatsächlich, unter der Kuppel erhebt sich ein hoher Thron. Nur, ob auf diesem einer thront, ist nicht auszumachen. Aber mittlerweile weiß Luciano ja, warum. Erst als sie ohne weitere Katastrophen unmittelbar vor dem Ciborium angelangt sind, erkennt er auf dem Thron eine geisterhafte Gestalt mit langem Bart, der ihr bis zu den Füßen reicht. Ist das König Pluton?

Der Engel verbeugt sich schweigend und zwingt Luciano, der stocksteif neben ihm steht, mit keineswegs sanfter Gewalt, sich ebenfalls tief zu verbeugen. Über drei Stufen steigen sie auf eine weite, kreisrunde Plattform, die wie die Säulen aus schwarzem Marmor zu bestehen scheint, schreiten langsam auf den Thron zu, der auf einem hohen Podium in der Mitte der Plattform steht; und diesmal verbeugt sich Luciano in vorauseilendem Gehorsam noch vor dem Engel. Nach einigen Augenblicken beklemmender Stille ertönt vom Thron her eine Stimme, die Luciano schaudern macht. Sie klingt in der Tat wie die eines Geistes.

»Was fällt dir ein, o Uriel, einen Sterblichen hierherzubringen?«

Darauf der Engel: »O König Pluton!« (Er ist es also wirklich.) »Ich konnte nicht anders. Er hat mich einfach bezaubert.«

»Wahrlich, als Wächter des Hades ...«

»Oh, ich weiß. Und ich werde ihn auch gleich wieder hinausbefördern, sobald er sein Anliegen ...«

»Sein Anliegen? Höre ich recht? Ein Anliegen hat er?«

»So ist es, o König.«

»Und wie lautet es?«

»Du mögest eine unserer Seelen ins Leben zurück entlassen.«

»Wie? Und das unterstützt du noch?«

»Es handelt sich um seine Frau. Er liebt sie sehr. Sie aber hat ihn allzu jung verlassen.«

»Ja, und? Siehe, das passiert jeden Tag irgendwo auf der Erde.«

»Aber in diesem Fall ist, so scheint es, die Liebe besonders groß.«

»Ich aber sage dir, das ist noch lange kein Grund ...«

»Das mag schon sein. Aber er ist ein wunderbarer Sänger.«

»Ja, und?«

Bis hierher hat Luciano diesen sonderbaren Dialog atemlos als stummer Zuhörer verfolgt. Nun aber ruft er, seine Scheu überwindend: »Und sie war eine wunderbare Sängerin. Die ganze Welt trauert, weil sie verstummt ist. Bitte ...«

Hier versiegt Lucianos Redefluss. Es folgen mehrere Augenblicke betretenen Schweigens. Während ihn Pluton, sichtlich überrascht, mustert, sagt der Engel: »Ebenso würde die ganze Welt trauern, würde er verstummen. Und verstummen würde er gewiss, müsste er allein zurückkehren.«

»Er wird allein zurückkehren«, so Pluton in grimmigem Ton, »und zwar sofort. Wenn nicht, wird er ins nie erlöschende Feuer hinabgeworfen. Dort wird Heulen und Zähneknirschen sein.«

Nun weiß der Engel nicht, was er erwidern soll, und wirft Luciano einen ratlosen Blick zu. Dieser erschaudert vor Entsetzen und glaubt im nächsten Augenblick aufs Neue in Ohnmacht zu fallen. Doch dann erinnert er sich, wie er zuvor das Herz des Engels erweicht hat, und beginnt, kurz entschlossen, zu singen. Wieder schmettert er Florestans erste Arie, und als ihm ein Blick auf Pluton zeigt, dass diese nicht ohne Wirkung geblieben ist, singt er die erste Arie des Tamino »Dies Bildnis ist bezaubernd schön« aus Mozarts Zauberflöte und noch weitere Tenorarien der Opernliteratur; und nach jeder von ihnen stellt er fest, dass Plutons Miene wieder um eine Spur weniger grimmig geworden ist.

»Wahrlich, es stimmt«, beginnt dieser schließlich, zwar nicht zu Tränen gerührt, aber jedenfalls in plötzlich gar nicht mehr so grimmigem Ton. »Sein Gesang ist göttlich. Wie soll da ein Herz hart bleiben können? Also gut. Höre, o Sterblicher. Ins nie erlöschende Feuer werde ich dich nicht werfen lassen. Aber dein Begehren kann ich dir trotz allem nicht erfüllen. Denn es hieße das Weltgesetz verletzen.«

»Aber unsere Liebe ...«

»Ach was, die Liebe«, wirft Pluton ein, ohne Luciano ausreden zu lassen. »Nur weil die eurige besonders groß ist ...«

Nun fällt Luciano ihm ins Wort. Sein bisheriger Erfolg hat ihn kühn gemacht. »Die Liebe erträgt alles. Sie duldet alles. Sie überwindet alles. Sie kann Berge versetzen. Wenn sie groß genug ist.«

»Berge versetzen? Das verstehe ich nicht.«

»Das werden Sie auch nie verstehen.«

»Was soll das heißen, das werde ich nie verstehen? Hältst du mich für einen Schafskopf, oder was?«

»Aber nein. Nur, wie kann ein Bewohner des Hades verstehen, was Liebe ist?«

»Für so blöd brauchst du mich nicht zu halten. Auch ich habe einst um meine Liebe kämpfen müssen. Nur, wieso kannst du behaupten, die eure sei besonders groß, größer als die anderer Menschen?«

»Erstens, hätte ich sonst diese Strapazen und Leiden und Gefahren auf mich genommen? Zweitens, wie viele Frauen würden ihrem kranken Mann eine Niere spenden?«

»Und das hat die deine gemacht?«

»Das hat sie gemacht, jawohl. Und drittens ... Aber das ist zu privat. Das kann ich nicht erzählen.«

»Du wirst es aber erzählen müssen, und wenn es noch so privat ist. Wenn nicht ...«

»Na schön. So glücklich hat sie mich gemacht, dass ... Wissen Sie, als berühmter Sänger wird man von den Frauen umschwärmt wie ..., na, sagen wir, wie ein Lebender im Hades von den neidischen Seelen, die das Wasser des Vergessens noch nicht getrunken haben. Und so hatte ich, bevor ich Donna kennen und lieben lernte, gar viele Frauen. Aber seither nie wieder. Ist das Beweis genug?«

»Hm. Ich bin beeindruckt. Nur, wie lange habt ihr euch gekannt?«

»Über zehn Jahre. Nein, wir waren nicht bloß frisch verliebt, falls Sie das meinen.«

Langes Schweigen.

»Also gut«, so schließlich Pluton mit überraschend sanfter Stimme. »Wer ist denn die Dame?«

»Donna Jackson. Gestorben in Paris vor ... Ja, heute sind es genau zwei Wochen her, dass sie ein Autofahrer, ein Raser ...« Die aufsteigenden Tränen verschleiern seine Augen, lähmen seine Zunge, verschließen ihm den Mund.

Langes Schweigen.

Pluton hebt die Hand und macht eine eigenartige Geste. Hinter Luciano werden leise Piepstöne und ebenso leise Schritte hörbar. Erschrocken wendet er sich um und sieht mehrere Gestalten, die er bisher glatt übersehen hat, davoneilen; an das trübe Dämmerlicht haben sich seine Augen offenbar inzwischen gewöhnt. Sein Schrecken ist indes rasch überwunden, besiegt von der freudigen Erwartung, vielleicht bald seine geliebte Donna in die Arme schließen zu können. Zum Engel gewandt, sagt er im Flüsterton: »Gehen die sie jetzt holen?« Dieser nickt und schenkt ihm eine aufmunternde Grimasse.

Während ihn Luciano noch freudig und dankbar anstrahlt, ertönt aufs Neue Plutons Geisterstimme.

»Höre, o Sterblicher. In Kürze wird die von dir begehrte Seele vor dir stehen. Durch deine Worte überzeugt, von deinem göttlichen Gesang bezaubert und durch Uriels Bitten erweicht, werde ich ihr befehlen, mit dir ins Leben zurückzukehren. Aber vergiss nicht: Solange sie im Reich der Toten weilt, wirst du nur ihre Seelenform sehen. Darum darfst du sie weder ansprechen noch berühren, bis die Grenze zur Oberwelt erreicht ist.«

Und Uriel: »Das heißt, die Stelle, wo mein Flammenschwert steht.«

Und Pluton: »Dort erst wird sie ihren irdischen Körper zurückerhalten.«

Und Uriel: »Unversehrt und schöner als je zuvor.«

Und Luciano, von Rührung überwältigt: »Oh, danke. Nur, was würde denn geschehen ...«

Und Pluton: »Wenn du sie ansprichst oder berührst? Wahrlich, sie wäre für dich für immer verloren.«

Und Uriel: »Ich habe dir ja erzählt, dass die Verstorbenen hier in vollkommener Zufriedenheit leben. Sie haben keinerlei Sehnsucht nach dem Leben auf der Oberwelt.«

Und Luciano: »Soll das heißen, meine Frau wird nur ungern ...«

Und Uriel: »Du sagst es. Nur auf Plutons Befehl.«

Darauf weiß Luciano nichts zu erwidern, weiß nicht einmal, was er denken soll. Und wieder wird die momentane Verwirrung rasch von freudiger Erwartung besiegt.

8

Luciano wendet sich um. Steht seine Donna vielleicht schon hinter ihm? Nein, das nicht. Doch während er noch Ausschau hält, sieht er, wie mehrere Personen die Plattform des Ciboriums betreten.

Bringen sie seine Donna mit? He, ist Donna unter ihnen? Wie soll man nur diese Glasgestalten auseinanderhalten? Luciano muss sich zwingen, ihnen nicht entgegenzulaufen. Seine Hände zittern, sein Herz hämmert im Rhythmus eines Höllentanzes.

Noch einmal: Ist Donna unter ihnen? Ja oder nein? Ja! Ja! Ja! Sie ist hier. Hier ist sie. Vor ihm steht sie, seine einzige, heißgeliebte, heißersehnte Donna. Sie steht vor ihm und blickt ihn an und verzieht keine Miene und spricht kein Wort und lässt keinerlei Gemütsbewegung erkennen. Schön wie eh und je, steht sie vor ihm und blickt ihm gleichmütig in die Augen, als säßen sie gemeinsam am Frühstückstisch, und er liest ihr aus der Zeitung vor, und sie hört ihm gelangweilt oder auch nur schlaftrunken zu. Eine gläserne Statue, so steht sie vor ihm. Von den widersprüchlichsten Gefühlen hin- und hergerissen, glaubt Luciano das Gleichgewicht zu verlieren. Er zittert am ganzen Leib. Ihm dröhnen die Ohren, ihm flimmern die Augen, sein Herz ist nahe daran, ihm den Dienst aufzukündigen. So erregt ist er vor Freude, so heftig hat er mit sich selbst zu kämpfen, um nicht loszustürmen und Donna leidenschaftlich in seine Arme zu schließen. So verwirrt, um nicht zu sagen, ernüchtert, enttäuscht ist er, als sie ihren Blick abwendet und zu Pluton emporschaut.

Darauf scheint dieser jedoch bereits gewartet zu haben. Denn er spricht sie sogleich an und erklärt ihr in dürren Worten, sie habe mit diesem Sterblichen auf die Oberwelt zurückzukehren und dort ihr irdisches Leben weiterzuleben, bis sie abermals vor seinen Thron gerufen werde. Dann erst dürfe sie endgültig und für immer hier bleiben.

Weiterhin schweigend, wendet sie sich um, blickt aber nicht wieder Luciano an, sondern Uriel. Dieser verbeugt sich vor Pluton und heißt sie, ihm, Uriel, zu folgen, heißt Luciano, ihr zu folgen, und marschiert unverzüglich los, und Donna ihm nach, ohne sich zu verbeugen. Luciano zögert, weil er Pluton eigentlich noch ausdrücklich danken möchte, verzichtet dann darauf, verbeugt sich nur vor ihm und beeilt sich, Donna und dem Engel nachzukommen.

So durchqueren sie zu dritt und in tiefem Schweigen die wüstenhafte Ebene des Hades. Die dazu nötige Kraft schöpft Luciano nur aus dem Anblick der anmutigen, vor ihm dahin trippelnden oder eher schwebenden Seelenform seiner Donna. Auch glaubt er hinter ihr einen angenehmen, ja lieblichen Duft wahrzunehmen. Ihr scheint die erstickende Hitze überhaupt nichts auszumachen, während er mehr und mehr darum zu kämpfen hat, nicht wieder in Ohnmacht zu fallen. Allmählich kommt es ihm vor, als wolle der Rückweg nie mehr enden, als solle er als Strafe für seine Dreistigkeit auf ewig in der Wüste des Hades hinter seiner Donna dahintaumeln.

Endlich. In der Ferne wird das schauerliche Gebell des Cerberus hörbar. Luciano empfindet es im ersten Augenblick beinahe als Erlösung. Bald beleidigt auch der vom Verhassten Fluss ausgehende ekelerregende Gestank seine Nase. Aufs Neue fällt der Dämon der Angst über ihn her, vertreibt ihm das Gefühl der Erleichterung und foltert ihn mit jedem Schritt heftiger. Nur zu gut erinnert er sich an Uriels Worte: »Den ankommenden Seelen tut er nichts. Er hindert sie nur daran, zurückzuschwimmen.«

Und wirklich, das Gebell klingt jetzt ganz anders als zuvor; noch schauerlicher, noch wilder, noch gefährlicher.

Und doch marschiert Uriel geradewegs auf das Untier zu, und Donna trippelt oder schwebt, allem Anschein nach völlig unbeeindruckt, hinterher. Vor der Uferböschung angelangt, schwingt sich der Engel wie zuvor wortlos in die Lüfte, und augenblicklich stürzt sich Cerberus, die Zähne in allen drei Mäulern fletschend, auf sie und wirft sie gnadenlos zu Boden. Voller Entsetzen schreit Luciano auf, ruft um Hilfe, wagt aber nicht, dazwischenzutreten. Er würde ja Donna zwangsläufig berühren, und was dann geschähe, hat er nicht vergessen. Was macht denn Uriel? Hat er Lucianos Schreie nicht gehört? Merkt er denn nicht, wie das Untier Donna zurichtet? O doch, er merkt es sehr wohl. Ein Weilchen sieht er dessen Treiben von oben zu, ohne Lucianos Verzweiflungsschreie zu beachten, und scheint sich an dem schaurigen Anblick regelrecht zu weiden. Aber dann schießt er wie ein Blitz herab, ergreift den Schwanz und zieht mit aller Kraft daran, zieht Cerberus, zieht alle drei Mäuler von Donna weg. Sie ist befreit, das Untier wendet sich, erbittert aufheulend, nach dem Engel um. Ihn zu attackieren wagt es aber nicht.

Ungerührt, als wäre nichts geschehen, erhebt sich Donna, schwankt ein wenig, steigt die steile Uferböschung hinab, wirft sich, ohne zu zögern, ins schäumende Wasser. Der Engel lässt den Schwanz der Bestie los, schwingt sich wieder in die Höhe, beachtet Luciano nicht. Cerberus sendet dem Engel ein wütendes Geheul nach, beachtet Luciano nicht. Dieser zögert, Donna nachzufolgen und in die grausige Brühe zu tauchen, hört, wie das Geheul noch wütender wird, wie es näherkommt, wird von plötzlicher Panik erfüllt, will sich gerade überwinden, die Böschung hinabzusteigen, da durchzucken ihn Schreck und brennender Schmerz zugleich, er verliert das Gleichgewicht, prallt mit dem Hinterkopf auf die Steine der Böschung, hört, wie seine Kleidung an mehreren Stellen zerreißt. Scharfe Zähne bohren sich in sein Fleisch. Ja, jetzt hat wohl sein letztes Stündlein geschlagen.

9

Schon triefen die drei Mäuler der Bestie von Lucianos Blut. Da lassen sie unverhofft von ihm ab, stimmen neuerlich ein wütendes Geheul an, wenden sich um, blicken nach oben. Luciano versucht ihrem Blick zu folgen, erkennt, dass der Engel, schräg über ihm schwebend und heftig mit den Flügeln schlagend, neuerlich den Schwanz des Cerberus in seinen Händen hält und angestrengt daran zieht, versucht aufzuspringen, schafft es nicht. Er fühlt sich gänzlich kraftlos, von den Schmerzen und wohl auch vom Schock gelähmt. Kurz entschlossen, lässt er sich den steilen Uferhang hinunterrollen und rettet sich, ohne eine Sekunde zu zögern, ins Wasser. Wird er überhaupt genügend Kraft besitzen, um ans andere Ufer schwimmen zu können? Er beißt die Zähne zusammen, stößt sich ab. Und siehe da, wider Erwarten ist die nötige Kraft auf einmal wieder da, und er schafft die Überquerung, ohne zu versinken und ohne auch nur einen Tropfen Wassers zu verschlucken, ja sogar ohne daran zu denken, dass ihm die Bestie ja noch immer nachschwimmen könnte, um ihren Blutrausch an seinem Fleisch zu befriedigen.

Erst in dem Moment, wo er glücklich ans andere Ufer klettert, hört er über dem gewaltigen Rauschen, das seine Ohren betäubte, solange er mit der reißenden Strömung zu kämpfen hatte, wieder das schaurige dreistimmige Geheul. Sofort sitzt ihm der Dämon der Todesangst erneut im Nacken, und er wendet sich hektisch um, um der Gefahr ins Auge zu blicken. Doch gottlob, die Bestie springt nur aufgeregt am anderen Ufer auf und ab und heult ihm hinterher. Entweder verabscheut sie die stinkende Brühe des Verhassten Flusses noch heftiger, oder sie ist einfach wasserscheu. Oder vielleicht darf sie auch ihr Ufer nicht verlassen. Egal. Luciano ist gerettet. Und wie sehen nun seine Wunden aus? Bluten sie noch immer so stark? Die Schmerzen sind, Gott sei Dank, vergangen. Und o Wunder, er erkennt die Stellen, wo ihn Cerberus gebissen hat, nur an den Rissen im Gewand. Aber seine Haut ist völlig unversehrt, und wenn er sie noch so oft betrachtet. Na, es geschehen noch Zeichen und Wunder. Oder besitzt das Wasser des Verhassten Flusses etwa heilende Kräfte?

Wo ist eigentlich Uriel, damit er ihn fragen kann? Ah, der ist längst gelandet, steht in einiger Entfernung neben Donna und setzt sich eben in Bewegung, ohne einen Laut von sich zu geben, und Donna ihm nach.

Luciano erinnert sich wieder an das Schweigegebot, verzichtet auf seine Frage und beeilt sich, ihnen nachzukommen, freut sich einfach, dass die Wunden geheilt, die Schmerzen verschwunden sind, zumal es von nun an bergauf geht. Das Gelände beginnt ja sofort anzusteigen, und vor ihnen sind trotz des trüben Dämmerlichts schon pittoreske Felsformationen zu erkennen – quasi die Fortsetzung der Felsen von Rax und Schneeberg nach unten?

Luciano überlegt sich gerade, wie man sich das konkret vorzustellen hat, da wird er wie zuvor auf das vielstimmige fledermausartige Wispern aufmerksam und erinnert sich, dass auf dieser Seite des Verhassten Flusses Seelen hausen, die das Wasser des Vergessens noch nicht getrunken haben und es ihm, Luciano, übelnehmen, dass er als Lebender hier herumspaziert. Was ist, wenn sie es ihm noch mehr übelnehmen, dass er mit seiner Donna zur Oberwelt, zum Licht, ins Leben zurückkehrt? Hat nicht Uriel erklärt, sie könnten ihnen theoretisch gefährlich werden? Wo sind sie überhaupt? Wo kommt dieses beunruhigende Wispern her? Schaudernd blickt Luciano um sich.

Beim Bergsteigen sollte man bekanntlich auf den Weg achten, zumal bei Dunkelheit. Luciano achtet auf die Umgebung, um sich gegen einen eventuellen Angriff der neidischen Seelen zu wappnen. Erschwerend kommt hinzu, dass seine Kleidung im Augenblick pitschnass ist, seine Schuhe voller Wasser sind. Diesmal hat er sich, um Uriel und Donna nachzukommen, nicht die Zeit genommen, sie auszuleeren. Schließlich geht es jetzt bergauf. Faktum ist: Er stolpert, stürzt, schlägt sich Knie und Hände auf, bleibt einige Augenblicke benommen liegen, versucht sich aufzurappeln, schafft es nicht. Verdammt, wieso schafft er es nicht? Und wieso kitzelt es ihn mit einem Mal am ganzen Leib, als wäre er in einen Schwarm von Fledermäusen geraten oder wären die Lippen einer ganzen Horde von Vampiren über ihm, ehe sie ihm die Zähne ins Fleisch schlagen und sein Blut aussaugen? Verzweifelt wendet er seinen Kopf zur Seite. Und da sieht er sie, die neidischen Seelen. In Massen drängen sie sich um ihn und balgen sich um das aus den neuen Wunden sickernde Blut, behindern sich aber gegenseitig wie Amseln, die sich um einen Bissen streiten. Da erinnert sich Luciano an die Methode von vorhin und lässt sich einfach ein Stück den Abhang hinunterrollen. Und schon ist er die Plagegeister los. Nun rappelt er sich schleunigst auf und versucht den anderen nachzueilen.

Aber was muss er sehen?

Inzwischen haben sich die Plagegeister über Donna hergemacht. Ah, sie nehmen es ihr übel, dass sie ins Leben zurückkehren darf, wollen es vielleicht sogar verhindern.

Und der Engel vor ihr?

Ach, der merkt überhaupt nichts.

Er marschiert fröhlich weiter und kümmert sich nicht um seine Schutzbefohlenen. Erst auf Lucianos abermaligen Hilfeschrei hin wendet er sich um. Sichtlich erschrocken eilt er zurück und vertreibt mit Händen und Flügeln die wild gewordene Menge. Ja, aber die fällt augenblicklich wieder über Luciano her und lässt erst durch Uriels Dazwischentreten von ihm ab.

Von nun an wagen sich die Plagegeister nicht mehr in ihre Nähe. Aber ihr aufgeregtes Gewisper begleitet sie, bis sie das Felsentor erreicht haben, durch das man den höhlenartigen Aufstieg zum Flammenschwert und weiter zur Oberwelt betritt.

Luciano hat sich zuletzt nur noch durch die unmittelbar bevorstehende Erfüllung seines Herzenswunsches auf den Beinen halten können. Allzu viel hat er zuletzt ertragen müssen: Hunger, Durst, Hitze, Gestank, Schwäche, Schmerzen, die Todesangst, die durchnässte Kleidung, zuletzt den steilen Anstieg, den Sturz, den Blutverlust, den Überfall der neidischen Seelen, um von dem immer wiederkehrenden Grauen ganz zu schweigen.

10

Sie durchschreiten das Felsentor und finden sich im noch dunkleren unterirdischen Gang wieder. Hier ist die Hitze zwar bei weitem nicht mehr so schlimm, aber dafür treibt jetzt der lange, steile Anstieg Luciano den Schweiß aus allen Poren. Und nun heißt es doppelt und dreifach aufpassen, wohin man tritt, denn der Gang ist nicht nur aberwitzig steil, sondern auch aberwitzig steinig; und mit Schrecken erinnert sich Luciano an die Katastrophe beim Abstieg und beobachtet mit wachsender Besorgnis, wie sich Donna beim Gehen schwertut.

Endlich: Die große Erleichterung.

Erlösend, tröstlich, neue Kraft verleihend, kündigt sich das Leuchten, das bösartige, nein, tröstliche Zischen des Flammenschwertes an. Unbeschreibliche Freude erfasst Luciano, überwältigt ihn geradezu, lässt ihn um ein Haar einen Fehltritt tun. In wenigen Minuten wird Donna ihren irdischen Körper, unversehrt und schöner als je zuvor, zurückerhalten und mit diesem ihre Liebe zu ihm. Und dann? Ha, aufatmend, aufseufzend, aufjubelnd werden sie einander in die Arme sinken.

Doch was ist das? O Schreck, sie stolpert. Rasch springt Luciano nach vorn und fängt sie auf. Ha, wie leicht sie ist, leichter als eine Daunenfeder. Er fängt sie auf, richtet sie auf. Und im selben Augenblick kommt ihm in den Sinn, was ihm Pluton aufgetragen hat. Rasch zieht er seine Hände zurück, sieht Donna bestürzt an. Auch sie sieht ihn an, zum ersten Mal seit dem Abmarsch von Plutons Thron. Einen langen, unendlich traurigen Blick wirft sie ihm zu, ohne einen Laut von sich zu geben.

Hilfesuchend wendet er sich nach Uriel um. Soll der ihm doch verraten, was zu tun ist, um seinen Fehler, falls es einer war, wiedergutzumachen. Aber nein, Uriel denkt nicht daran, ihm zu helfen. Er würdigt ihn nicht einmal eines Blicks. Nur Donna blickt er mit ausdrucksloser Miene an. Und dann begibt sich Unfassbares: Während ihn noch Luciano wortlos um Hilfe anfleht, macht Donna kehrt, beginnt abzusteigen. Unwillkürlich, einem Automaten gleich, streckt Luciano seine Hand aus, versucht Donna zurückzuhalten. Zu spät. Sie ist schon außer Reichweite. Voller Bestürzung will er ihr nach. Uriels Hand ist schneller. Mit eisernem Griff hält er Luciano fest. Außer sich vor Ärger, versucht sich dieser loszureißen. »Warte«, ruft er ihr nach. »So warte doch!«

Abgesehen davon, dass er vor dem Widerhall seiner eigenen Stimme erschrickt, ist der ganze Erfolg seines Rufens, dass sie zu laufen beginnt und nun tatsächlich stürzt. Auf der Stelle rappelt sie sich wieder auf, setzt ihren überhasteten Abstieg fort.

»Aber so warte doch, Donna, Liebste«, ruft Luciano, den Tränen nahe. »Komm zurück. Bitte. Ich liebe dich.«

Sie reagiert nicht. Ohne sich umzuwenden, geschweige denn stehenzubleiben oder gar zurückzukommen, entschwindet sie allmählich seinen Blicken.

Starr vor Entsetzen, unfähig, irgendeinen Laut von sich zu geben, wird Luciano vom Engel mit sanfter Gewalt zum Flammenschwert geführt, genauer, geschleppt. Zu schreien beginnt er erst in dem Moment, da ihn der Engel loslässt, das Schwert aufhebt und ihn hinter dieses, in Richtung Oberwelt, stößt. Besinnungslos vor Wut, schreit er ihm seine grenzenlose Verzweiflung ins Gesicht. Und wieder ist der einzige Erfolg, dass seine Stimme grausig widerhallt.

Dem Engel selbst stehen (wie Homer sagen würde) die Augen wie Horn oder Eisen unbewegt in den Lidern, und sobald Luciano verstummt, einfach, weil er keine Kraft mehr zum Schreien hat, erwidert Uriel mit einer Stimme aus Horn oder Eisen: »Wahrlich, du Armer, du dauerst mich. Trotzdem, kehre jetzt zurück in die Oberwelt und versuche dein eigenes Leben, so gut du kannst, zu Ende zu leben.«

Doch inzwischen haben sich (um einmal noch Homers Worte zu gebrauchen) ihm, dem Armen, der den Höllenengel Uriel so sehr dauert, die Knie und das liebe Herz gelöst. Ein Bild äußerster Verzweiflung, kauert er auf dem Boden und schluchzt zum Gotterbarmen. Doch dann rappelt er sich unter Aufbietung seiner letzten Kraftreserven auf, stößt mit dem Mut der Verzweiflung Uriel zur Seite, stürmt an ihm vorbei in die Tiefe, seiner Donna nach, stolpert, stürzt. Doch im Gegensatz zu ihr verletzt er sich abermals, und diesmal, aus den Schmerzen und dem reichlich strömenden Blut zu schließen, schwer. Und während er noch, den Kopf nach unten, benommen auf den Steinen liegt, wird plötzlich ein Gekreische laut, so grauenhaft, dass ihm das Blut in den Adern stockt und sogar die Wunden einen Augenblick zu bluten aufhören. Er blickt auf, schließt sofort geblendet die Augen, öffnet sie vorsichtig wieder, erkennt zunächst nur das Feuer einer Fackel, hierauf Schlangen, die sich um ein purpurrotes, zornig kreischendes Frauengesicht ringeln und muss ungeachtet seiner verzweifelten Lage sofort an den Chor der Furien in Glucks Oper »Orpheus und Eurydike« denken. Und schon zuckt er zusammen und schreit gepeinigt auf, denn sein Rücken wurde von einer mit rasender Wut geschwungenen Peitsche getroffen. Doch mit dem einen Schlag ist die Wut der Furie noch lange nicht gestillt.

Unentwegt prasseln die Schläge auf ihn nieder, und seine Schmerzensschreie wetteifern mit dem Gekreische der Furie. Erst eine barmherzige Ohnmacht verbirgt diesen Horror vor seinem Bewusstsein, erlöst ihn von seinen Schmerzen.

11

Luciano erwacht.

Der böse Spuk ist verschwunden. Die Schmerzen sind noch da. Noch immer liegt er, Kopf abwärts, auf dem Bauch. Nur, das Flammenschwert leuchtet jetzt nicht mehr hinter ihm, sondern vor seinen Augen. Da muss ihn also irgendjemand hierher getragen oder wohl eher an den Füßen geschleppt haben. Denn die Knie schmerzen jetzt ganz fürchterlich. Überhaupt schmerzt und blutet sein Körper an den unterschiedlichsten Stellen. Wie soll er unter solchen Umständen wieder auf die Beine kommen?

»Herr Uriel«, ruft er und wundert sich im Stillen über seine schwache Stimme. »Lieber Engel Uriel, bitte helfen Sie mir auf.«

Uriel zeigt keine Reaktion. Wie Horn oder Eisen stehen ihm die Augen unbewegt in den Lidern. Also versucht Luciano selbst aufzustehen, schafft es aber nur, sich aufzusetzen, und muss plötzlich daran denken, wie er an eben dieser Stelle durch seinen Gesang Uriels Herz erweicht hat. Vielleicht lässt es sich ein zweites Mal erweichen? Er bemüht sich (mit wenig Erfolg), seine Schmerzen, seine Schwäche, seine Benommenheit zu ignorieren, holt tief Atem und stimmt erneut die erste Arie des Florestan an.

Aber ach, alles, was seine Kehle hervorbringt, ist ein heiseres Krächzen. Verzagt bricht er ab. Reagiert der Engel? Nein, aus Horn oder Eisen bestehen seine Augen. Und Lucianos Augen werden abermals zu einer reichlich strömenden Quelle.

Irgendwann ist ihr gesamter Flüssigkeitsvorrat aufgebraucht. Die Schmerzen haben unterdessen ein wenig nachgelassen, ebenso die Benommenheit, nicht allerdings die Schwäche. Und all die schönen Hoffnungen Lucianos sind seiner geliebten Donna in den Hades hinab gefolgt. Soll er einfach hier sitzen bleiben, um an Hunger und an Durst zu sterben? Dann hätte der Todesengel keine Veranlassung mehr, ihn zurückzuhalten, hätte die Furie keinen Grund mehr, ihn zu foltern. Nein, das wäre ein gar zu schrecklicher Tod. Es gibt doch wirksamere und zugleich weit weniger schreckliche Todesarten. Soll er etwa Uriel bitten, ihn mit seinem Flammenschwert zu durchbohren? Himmel, die Flamme! Wie graut ihm doch bei diesem Gedanken. Davon abgesehen, mit demselben Erfolg könnte er eine Marmorstatue um den Gnadenstoß bitten.

Also probiert Luciano erneut, ob er aufstehen kann. Ja, doch. Mit vieler Mühe schafft er es. Mit vieler Mühe schleppt er sich nach oben, von der bangen Frage gequält, ob er die Öffnung zur Höhle der Oberwelt finden wird und ob sie überhaupt noch offen sein wird. Nun, er findet sie sofort. Sie ist noch offen. Doch nachdem er mit vieler Mühe durchgeschlüpft ist, blickt er sich um, sieht vor lauter Dunkelheit nichts, erinnert sich an seine Stirnlampe, versucht vergeblich, sie einzuschalten, erkennt, dass sie wohl bei einem seiner Stürze den Weg alles Irdischen gegangen ist, versucht vergeblich, die Öffnung wenigstens zu ertasten. Hat sie sich denn unterdessen geschlossen? Offenbar ja. Mit vieler Mühe gelingt es ihm noch, sich im Dunkeln bis zum rettenden Höhleneingang hinauf zu schleppen. Dann wird ihm schwarz vor den Augen, und ihm träumt von Schlangen, von peitschenschwingenden Furien, von riesigen, dreiköpfigen, schaurig heulenden Hunden, deren scharfe Zähne sich in sein Fleisch bohren.

12

Luciano erwacht und findet sich, wohlverpackt, umringt von allerlei merkwürdigen Apparaten, in einem typischen Krankenhausbett wieder. Neben ihm steht, in einen Schwesternkittel gekleidet, unversehrt und schöner als je zuvor, seine geliebte Donna und verströmt einen lieblichen Duft und lächelt ihn süß an. Vor Überraschung, vor Entzücken bringt er keinen Laut über die Lippen. Er greift nach ihrer Hand, hält mitten in der Bewegung inne, stöhnt vor Schmerz auf. Irgendeine an einem Schlauch befestigte Nadel bohrt sich in sein Fleisch. Donna wendet sich um, eilt aus dem Zimmer, ohne ein Wort gesprochen zu haben. Wenige Augenblicke später geht die Tür wieder auf. Herein kommen mehrere Frauen in Schwestern- oder Ärztetracht, die gar viel Aufhebens von ihm machen. Donna ist nicht unter ihnen. Ungeduldig wehrt er ihre Fragen ab und begehrt zu wissen, wo denn die Schwester sei, die vorhin bei ihm gewesen sei und offenbar sein Aufwachen gemeldet habe.

Sie blicken ihn verblüfft an, scheinen zu glauben, dass auch sein Verstand durch den Unfall gelitten hat. Welche Schwester? Vorhin sei keine Schwester in diesem Zimmer gewesen.

O doch. Sie hat mich angelächelt und gemeldet, dass ich aufgewacht bin.

Der Monitor habe das gemeldet. Und da war keine Schwester zu erkennen.

Eine Schwester, die wie jene berühmte Sängerin Donna Jackson aussieht, die vor kurzem ...

Ah, das sei doch seine Gemahlin gewesen? Herzliches Beileid.

Und man wirft sich gegenseitig vielsagende Blicke zu.

Gesundgepflegt, aufgepäppelt, liebevoll betreut von Ärzten, Krankenschwestern, Psychologen, darf Luciano endlich das Krankenhaus verlassen. Seine körperlichen Schmerzen sind geheilt. Seine Stimme ist wiederhergestellt. Nur, sein seelischer Schmerz ist alles andere als geheilt, und seine Gedanken gelten alle seiner Donna und ihrer geheimnisvollen Anwesenheit an seinem Krankenbett. Falls dies nicht eine bloße Halluzination war. Oder besitzt Donna eine Doppelgängerin, die zufällig gerade an seinem Bett stand und ihn süß anlächelte, als er aufwachte? Nein, ausgeschlossen. Auf dem Monitor war keine Schwester zu erkennen. Außerdem, so süß lächeln, das kann, das konnte nur seine Donna. Wie soll er, wie kann er ihren Verlust überleben? Nein, er kann es nicht, wird es niemals können. Es drängt ihn, zu ihr in den Hades zurückzukehren, und sei es auch in einer glashellen, fast durchsichtigen Seelenform. Soll doch, wie der Todesengel meinte, die ganze Welt trauern, soviel sie will, weil er verstummt sein wird. Seine Liebe zu Donna wird er sicher nie vergessen, und wenn er noch so viel vom ekligen Wasser des Verhassten Flusses trinken müsste. Und dann wird er ihre Liebe zu ihm wieder wecken, sollte ihr diese jemals abhandengekommen sein; denn das bezweifelt er mittlerweile gar heftig. Wieso hätte sie ihm sonst einen so langen, so traurigen Blick zugeworfen, ehe sie in den Hades zurückkehrte? Nur, welche Todesart soll er wählen? Er kann sich nicht entscheiden. (Oder die Angst vor dem Sterben ist zu groß.)

Aber dann entscheidet er sich doch. Er entscheidet sich fürs Springen. Im Höllental. Von einer Felswand, nahe jener Höhle, durch die er zuerst so hoffnungsfroh zu Donna in die Unterwelt pilgerte und dann erfolglos, enttäuscht, des Lebens überdrüssig, in die Welt der Lebenden zurückkehrte. Von diesem Felsen aus werde ich ihr gewissermaßen in die Arme springen, sagt er sich. Nur, heute noch nicht. Aber morgen. Morgen ist auch noch ein Tag. Mein letzter in der Welt der Lebenden.

Lucianos letzte Nacht. Eine quälende innere Unruhe hält ihm lange Zeit den Schlaf fern. Spät erst nickt er ein, erwacht bald wieder durch einen geheimnisvollen Lichtschein, durch einen geheimnisvollen und doch irgendwie vertrauten Duft, versucht geblendet die Augen aufzuschlagen, erkennt, dass der Lichtschein nicht durchs Fenster hereinkommt, sondern dass sich seine Quelle im Inneren des Zimmers befindet. Sie hat die Form eines Menschen. Sie hat die Form einer schlanken, anmutigen jungen Frau. Sie hat die Form seiner Liebsten, erleuchtet von einem geheimnisvollen inneren Licht. In der Tat, wieder steht Donna an seinem Bett. Wieder ist sie wie eine Krankenschwester gekleidet. Wieder verströmt sie ihren lieblichen Duft. Wieder lächelt sie ihn süß an. Wie drängt es ihn, sie zu berühren, zu umarmen! Aber durch bittere Erfahrung gewitzigt, hält er seine Hände im Zaum.

»Liebster«, sagt sie lächelnd, aber mit ernster, eindringlicher Stimme. »Hör zu. Tu's nicht. Du sollst wissen: Ich habe dich nicht vergessen. Meine Liebe ist unsterblich. Sie ist stärker als der Tod. Ich werde geduldig auf dich warten. Danach werden wir eine ganze Ewigkeit zusammen sein. Drum: Tu's nicht. Versprichst du mir das?«

Lucianos Zunge ist gelähmt. Er kann nur nicken. Tränen schießen ihm in die Augen. Wieder lächelt ihm Donna zu. Dann verblasst ihre anmutige Gestalt.

Am nächsten Morgen fragt er sich: Habe ich geträumt? Oder war ich wach, und die Erscheinung war real?

Er weiß es nicht. Doch er weiß, was er versprochen hat.

Er hat es nicht vergessen.