Nach Hause
Annika Dick
Die Blätter an den Bäumen haben schon vor Wochen ihre grüne Farbe gegen das Rot und Gelb und Braun eingetauscht, das meine Mutter so liebt. Sie sagt, sie tue es für mich. Als Geschenk. Um mir zu zeigen, wie sehr sie mich liebt. Und doch erzwingt sie jedes Jahr diesen Weg von mir. Jedes Jahr bin ich aufs Neue gezwungen mein Zuhause zu verlassen und alles, was mir lieb und teuer ist, für diese quälend langen Monate hinter mir zu lassen.
Heute hat sie mich mitgenommen zu einem Fest, dass die Menschen zu Ehren der Ernte feiern. IHR zu Ehren.
Immer geht es um sie! Immer muss es nach ihrem Willen gehen! Manchmal frage ich mich, wer die Mutter und wer das Kind ist.
Sie ist aufgeregt. Springt umher wie ein kleines Mädchen, als wir uns den Menschen nähern. Sie danken für die reiche Ernte, die sie über den Winter bringen wird. Doch das Lächeln meiner Mutter verblasst rasch, und es dauert nicht lange, bis ich den Grund erkenne: Die Menschen haben Statuen errichtet, um die Götter zu ehren. Zwei Statuen - einen Mann und eine Frau. Sie rufen nicht nach meiner Mutter, danken nicht IHR für die reiche Ernte. Nein, sie beten unsere Namen; den meines Ehemannes und meinen eigenen. Die plötzliche Kälte neben mir zeigt nur zu deutlich, was meine Mutter davon hält. Sie wendet sich ab; lässt mich und die Menschen stehen.
Ihre Liebe ist launisch. Sie ist da, wenn es ihr nützt - wenn es sie gut aussehen lässt. Jetzt tut sie das nicht.
Ich darf gehen, werde für heute nicht länger gebraucht. Das heißt, ich werde für die nächsten Monate nicht mehr gebraucht. Denn heute ist der Tag an dem ich zu meinem Ehemann zurückkehre.
Ich drehe mich um und sehe meiner Mutter nach. Normalerweise würde sie mich jetzt rufen. Würde mich ihre Kore nennen – ihr Mädchen. Ich schüttele schweigend den Kopf und gehe an den feiernden Menschen vorbei. Ich laufe den Rest des Tages und pünktlich zum Sonnenuntergang erreiche ich das Ufer des Styx.
Charon legt gerade mit seinem Boot am Ufer an und lässt mehrere Verstorbene einsteigen. Sie achten auf nichts um sich herum. Ich betrachte sie kurz, bevor mein Blick wieder auf den Fluss fällt. Charon lässt das Boot in die Fluten gleiten und während ich zusehe, wie es das gegenüberliegende Ufer anstrebt, breitet sich ein Lächeln auf meinen Lippen aus.
So lange habe ich darauf gewartet, ihn wieder zu sehen.
Der Styx ist in jedem Jahr das Letzte, was ich von der Unterwelt sehe. Und kaum lasse ich ihn hinter mir, sehne ich mich auch schon zurück. Nach ihm und nach allem, was er für mich bedeutet.
Wenn Charon die Seelen sicher an das andere Ufer geleitet hat, wird er zurückkehren, um auch mich über den Fluss zu bringen. Die Wellen werden sanft gegen das Boot schlagen, wie das freudige Hallo eines Freundes, der mich erwartet.
Die Vorfreude lässt mein Herz beinahe so schnell schlagen, wie es Hades' Anblick vollbringen wird, wenn ich ihn zum ersten Mal nach unserer erzwungenen Trennung wiedersehe.
Was meine Mutter nie begriffen hat und auch nie begreifen wird - weil sie es nicht begreifen will – ist die Tatsache, dass ich nicht mehr ihr kleines Mädchen bin.
Kore ist schon lange tot!
Die Zeiten, in denen ich Demeters Tochter war, sind Vergangenheit. Ich bin Persephone, Hades' Gemahlin, die Herrin der Unterwelt; auch wenn ich jedes Jahr aus meinem Zuhause gerissen werde, um bei meiner Mutter zu sein, und von ihrer Selbstsucht gequält zu werden.
Doch die Wahrheit hat sie nie interessiert. Es ist ihr einfach unvorstellbar, dass ich freiwillig ging. Dass ich nie wieder von der Unterwelt weg möchte, nie wieder von Hades Seite weichen möchte.
Und so sehne ich mich jedes Jahr diesem Augenblick entgegen. Diesem ersten Anblick des Flusses, der mich dorthin bringen wird, wo ich wirklich hingehöre: Nach Hause.