Kassandra
Elisa Wächtershäuser
Der Horizont brannte.
Die Flammen leckten wie gierige Zungen am düsteren Nachthimmel. Rauchschwaden, gelb verfärbt wie ein schreckliches Zerrbild der Morgenröte, hatten die Sterne verschluckt. Der Boden unter ihren Füßen war rissig und trocken. Flach und ohne jede Vegetation lag die Ebene vor ihr, bis sie jäh in der Flammenwand endete. Hier war von dem tobenden Inferno nichts zu spüren. Die Entfernung war zu groß, als dass der Wind das Brüllen des Feuers bis zu ihr hinübertragen konnte.
Auch von der Hitze merkte sie nichts. Sie fror in ihrem dünnen Kleid und schlang die Arme um ihren Körper. Müde setzte sie einen Fuß vor den anderen. Gerne hätte sie sich hingesetzt und ein wenig ausgeruht, aber die leere Ebene machte ihr Angst. Trotz des Brandes lag ein graues, drückendes Zwielicht über dem Ödland. Sie senkte den Blick, um sich nicht in der Unendlichkeit zu verlieren und ging langsam weiter, als plötzlich neben ihr ein leises Lachen erklang.
*
Kassandra erwachte zitternd und mit pochenden Kopfschmerzen.
Mühsam richtete sie sich auf und wickelte die dünne Decke fest um ihre Schultern. Noch immer hielt der düstere Traum sie gefangen und sie musste einen Augenblick innehalten, um den Schwindel niederzukämpfen.
Dann richtete sie sich mühsam auf und verließ das Zelt. Es war kalt auf dem Schiff. Spritzwasser und Regen hatten Kleidung und Decken durchtränkt, die der kalte Nachtwind nicht trocknen konnte. Der Großteil der Besatzung schlief und auch die Gefangenen waren eng aneinander gedrängt auf den nassen Planken vor Angst und Erschöpfung eingeschlafen.
Vorsichtig, um niemanden zu wecken, trat sie an die Reling.
Das Meer lag ruhig da, der Nachthimmel spiegelte sich auf der glatten Wasserfläche. Dennoch verursachte das Schwanken des Schiffes Kassandra Übelkeit. Schaudernd dachte sie an die endlosen Tage, als Stürme und Unwetter die See aufgepeitscht hatten, an meterhohe Wellen mit schäumenden Kämmen, die sich wie Poseidons Schlachtrosse auf das Schiff zu stürzen schienen, während dieses hilflos durch die Wellentäler taumelte.
Doch nun war alles ruhig, der Himmel sternenklar.
Fast lautlos glitt das Schiff durchs Wasser, nur hin und wieder drang das Schnarchen der Schlafenden an Kassandras Ohr. Es würden noch einige Stunden vergehen, bevor Phoibus mit seinem Sonnenwagen die Dämmerung brachte.
Kassandra schauderte.
Phoibus Apollon ...
*
Ein großer, schlanker Mann mit hellem lockigem Haar.
Die grelle Mittagssonne ließ es schimmern wie flüssiges Gold.
Niemand schien den Fremden zu bemerken, der auf den Stufen zum Tempel saß und mit geübten Fingern an den Seiten seiner Lyra zupfte. Kassandra ging zu ihm herüber, gebannt von seiner Schönheit und Fremdartigkeit. Er sah zu ihr auf und beendete sein Spiel.
»Setzt dich zu mir, mein schönes Kind.«
Die Stimme des Gottes was sanft und leise, seine hellen Augen freundlich.
Die junge Priesterin nahm neben ihm Platz.
»Du weißt, wer ich bin?«
Sie wagte es nicht, den Blick zu heben und ihn anzusehen. »Mein Gebieter ...«, begann sie mit rauer Stimme.
Phoibus Apollon legte seine Hand auf ihren Arm. »Nicht doch, mein schönes Mädchen. Sieh mich an. Es stimmt also, was die Leute sich erzählen. König Primos hat eine Tochter, so schön, dass sich alle Männer Griechenlands und Trojas in sie verlieben würden. Und doch hat sie ihr Leben den Göttern geweiht.« Er legte eine Hand an ihr Kinn und hob es an, um ihr Gesicht zu betrachten. Der Blick seiner blauen Augen nahm Kassandra gefangen. Sanft streichelte er ihren Rücken, ließ seine Hände über ihre Wangen gleiten, über ihre Schultern, ihren Nacken. Seine Berührungen jagten einen Schauer über ihren Rücken und sie konnte nicht sagen, ob vor Wohlgefühl oder Furcht.
»Und fürwahr«, hörte sie Apollons Stimme an ihrem Ohr. »Sie ist eines Gottes wert.«
Dann lachte er.
Ein leises, helles Lachen.
*
»Mein Kind, was tust du hier?«
Kassandra blieb nicht stehen und sah sich nicht um.
In der Ferne loderte der Horizont in geisterhaftem Licht.
»Du weißt, dass dies nicht dein Weg ist.«
»Es ist der Weg, den alle Menschen einmal gehen müssen«, erwiderte sie leise. Ihr Mund war trocken, ihre Stimme klang rau und kratzig. Sie zuckte zusammen und dachte schmerzlich daran, wie sehr ihr Vater ihre klare Singstimme geliebt hatte.
»Ja, mein Kind, das ist wahr. Aber bist du das denn noch? Ein Mensch?«
Wieder lachte der Gott.
Mit einem Mal erschien er vor Kassandra. Der gleiche schöne Mann, der vor all den Jahren auf den Stufen des Tempels in Troja gesessen hatte.
»Hast du denn nichts gelernt, meine Liebste?«
Wie gelähmt blieb Kassandra stehen und sah zu ihm auf.
In dieser Einöde schien er in einem bleichen Licht zu strahlen, umgeben von einer Aura des Lebendigen. Er trat einen Schritt auf sie zu und schloss sie in seine Arme. Die Wärme seines Körpers sickerte durch den dünnen Stoff ihres Kleides.
Dennoch fror sie.
Es war nicht die Wärme, die man bei der Umarmung eines Menschen verspürt, es war etwas gänzlich anderes. Wie ein Nachhall von Sonnenstrahlen, die die glatte Haut des Gottes aufgesogen hatte.
»Ich bedaure sehr, dass dir in Troja so viel Leid geschehen ist. Es war nötig, damit die Geschichte ihren Lauf nehmen konnte.«
Mit unendlich weichen Lippen küsste er ihren Hals. Seine Hände lagen auf ihren Hüften, dann ließ er sie ihren Bauch hinaufwandern und dort verharren.
*
»Meine Herrin? Was ist mit Euch? Was ist geschehen?«
Wie aus weiter Ferne wehte die Stimme zu ihr hinüber. Mühsam öffnete sie die Augen. »Marpessa?«
»Ja, Herrin, ich bin hier. Was ist passiert?« Eine kühle Hand schob sich unter ihren Nacken und half ihr, sich aufzurichten.
»Nichts, ich habe geträumt.«
»Eine Vision, Herrin? Ihr habt an der Reling gestanden und Euch vorgebeugt und dann habt Ihr angefangen zu schreien. Ich hatte Angst, Ihr könntet hinunterstürzen! Was habt Ihr vorausgesehen?«
»Nichts, Mapessa«, sagte Kassandra müde und strich sich die vom Salzwasser steifen Haarsträhnen aus dem Gesicht. »Ich habe nichts mehr gesehen, seit wir Troja verlassen haben.«
Marpessa musterte sie und ihr Blick schien einen Moment zu lang an Kassandras Bauch hängen zu bleiben. Dann stand sie auf und reichte Kassandra die Hand. »Agamemnon wird mit Euch speisen wollen. Kommt ... ich werde Euch die Haare flechten.«
*
Kassandra hatte keinen Appetit. Sie tunkte das helle Brot in den Wein und kaute langsam darauf herum. Ihr Magen schien sich gegen jeden Bissen, den sie schluckte, mit Übelkeit und krampfartigen Schmerzen zu wehren.
»Schmeckt es Euch nicht, meine Liebe?«
Agamemnon schenkte sich Wein nach, stellte den Krug ab und sah zu ihr hinüber.
»Oh ... doch mein Herr, es ist vorzüglich.«
Es war ihr unangenehm, wie er sie betrachtete. Seine dunklen Augen musterten sie freundlich und wohlwollend, stets war er bemüht, für ihr Wohlergehen zu sorgen. Und doch konnte sie nicht vergessen, was er getan hatte. Sie brauchte nur die Augen zu schließen und schon sah sie ihn vor sich, wie er hoch aufgerichtet auf seinem Wagen stand, in goldener Rüstung und mit gezücktem Schwert, und wie ein Kriegsgott in das brennende Troja einzog.
Jetzt wirkt nichts an ihm erhaben oder übermenschlich. Sein Haar war in den Jahren des Krieges grau geworden, die Haut von tiefen Falten durchzogen, und als er den Kelch hob, sah sie, dass seine knotigen Finger zitterten wie bei einem Greis. War das der Kriegsheld, der siegreiche Feldherr, der nach Jahren des Kampfes in sein lange verlassenes Land zurückkehrte? War das alles, was der Krieg übrig gelassen hatte? Eine Handvoll alter Männer, gebeugt von der Last vieler Jahre, die am Feuer ihre gichtgeplagten Glieder wärmten, hastig den Wein wegtupften, der ihnen übers Kinn rann, und dabei mit ihren Heldentaten prahlten. Was war aus den jungen Männern geworden, die vor Trojas uralten Mauern Ruhm und Unsterblichkeit finden wollten?
Sie sind tot, wisperte eine leise, klare Stimme in Kassandras Kopf. Sie sind alle tot.
»Wir werden Mykene in wenigen Tagen erreichen, wenn die Götter uns gnädig sind.« Agamemnons Stimme riss sie aus ihren Gedanken.
»Warum sollten sie Gnade mit uns haben? Wir sind für sie nicht mehr als Spielzeuge«, murmelte sie leise und stürzte ihren Wein herunter, obwohl ihr Magen sich schmerzhaft zusammenzog.
»Ihr seid verbittert, meine Teure. Hadert nicht mit den Göttern! Ihr seid eine Priesterin der Pallas, vergesst das nicht.«
»Ich bitte darum, mich zurückziehen zu dürfen. Mir ist nicht wohl.«
Agamemnon nickte und Kassandra erhob sich und verließ hastig das Zelt, das man für den König an Deck des Schiffes errichtet hatte.
*
Es war eine Stunde nach Sonnenuntergang, als der Gott ihre Kammer betrat. Kassandra bestickte ein Gewand für Helenos, ihren Zwillingsbruder, mit einem Saum aus goldgewirkten Fäden, als hinter ihr das helle Lachen des Unsterblichen erklang.
»Hast du auf mich gewartet, mein schönes Mädchen?«
Sie wagte es nicht, sich umzudrehen, hielt den Blick zu Boden gerichtet und senkte demütig den Kopf. »Mein Gebieter, warum kommt Ihr zu mir? Ich bin nur eine einfache Priesterin, nicht wert, Euch auch nur unter die Augen zu treten.« Sie hörte ihn nicht näher kommen, spürte aber seine Hand, die über ihren Nacken glitt, sich an ihre Wange legte und sie sanft zwang, ihn anzusehen.
»Warum sollte so viel Schönheit eines Gottes nicht wert sein?«, fragte er leise und küsste sie.
*
»Ihr solltet höflicher zu Agamemnon sein. Wir verdanken ihm unser Leben und er ist es, der entscheiden wird, was weiter mit uns geschieht.« Marpessa löste Kassandras langes, schweres Haar aus dem Knoten, zu dem sie es am Morgen aufgesteckt hatte und begann, ihre Kopfhaut mit den Fingerspitzen zu massieren.
»Was soll schon mit uns geschehen? Wir werden mit ihm nach Mykene gehen, als seine Dienerinnen. Er mag freundlich und zuvorkommend erscheinen, aber sobald wir sein Land und seinen Palast erreicht haben, werden wir nur noch dazu da sein, seinen Triumph vollkommen zu machen. Eine Prinzessin Trojas als Dienerin in seinem Hause wird für ganz Griechenland ein Zeichen seines Sieges sein.«
Kassandra schloss die Augen und überließ sich Marpessas geschickten Fingern. Seit dem Morgen quälten sie Kopfschmerzen, die wie feine Nadeln hinter ihrer Stirn in ihren Schädel stachen.
Marpessa schien einen Moment nachzudenken.
»Es fällt mir manchmal schwer, zu glauben, dass Agamemnon für Trojas Untergang verantwortlich sein soll«, brachte sie schließlich hervor. »Wenn ich ihn hier auf dem Schiff sehe, scheint er einfach nur ein gütiger alter Mann zu sein. Ich kann nicht glauben, dass er wirklich dieses Ungeheuer ist.« Marpessa stockte und Kassandra hörte, dass sie schluckte und den Tränen nah war.
Ihre Dienerin war noch sehr jung. So jung, dass sie sich kaum an die Zeit vor dem Krieg erinnern konnte. Die wenigen Jahre ihrer Kindheit, in denen Frieden in Troja geherrscht hatte, mussten ihr vorkommen wie ein verlorenes Paradies. Nacheinander hatte der Krieg ihren Vater, die Brüder und schließlich den Geliebten geraubt.
Kassandra seufzte. »Er ist kein Ungeheuer. Das war er nie. Keiner von ihnen war es. Odysseus nicht, Diomedes nicht, Achilles nicht. Nicht einmal Ajax.« Sie spürte, wie Marpessa bei diesen Worten zusammenzuckte. »Letztlich waren sie alle nur Werkzeuge der Götter.«
*
»Ich möchte dir ein Geschenk machen«, sagte der Gott und legte die Lyra zur Seite, auf der er ihr vorgespielt hatte.
»Mein Herr ...«
»Ich würde dir Schönheit schenken, aber schon jetzt bist du schöner als eine sterbliche Frau es sein sollte. Selbst Aphrodite würde neidisch werden, wenn sie dich erblickte.« Er kicherte und wirkte einen Augenblick lang nicht mehr ganz so anbetungswürdig.
Dann kehrte der fremdartige Glanz in seine hellen Augen zurück und er sprach weiter: »Ich verleihe dir die Gabe der Voraussicht, wie es einer Priesterin gebührt. Du bist mehr als nur eine schöne Frau, du bist auch klug und stark. Nutze diese Gabe weise und viel Leid kann Troja erspart bleiben.«
Er beugte sich vor und küsste sie auf die Stirn.
Dann erhob er sich und verschwand in einem goldenen Licht, welches plötzlich das dunkle Zimmer erfüllte, als sei der Morgen hereingebrochen. Sein Lachen schwebte noch einen Lidschlag lang im Raum, dann verklang es und Kassandra war allein.
*
Der Tag war viel zu schnell vorbeigegangen.
Man hatte die Lichter an Deck gelöscht und Kassandra lauschte Marpessas gleichmäßigem Atem neben sich. Sie fürchtet sich vor dem Schlaf und vor den Träumen, die er bringen würde. Hypnos, der Traumbringer, galt nicht umsonst als Bruder des Todes. Seit sie Troja verlassen hatte, war Kassandra dies schmerzlich bewusst geworden.
Sie schloss die Augen, um den Kopfschmerzen zu entkommen, die sie noch immer peinigten.
*
Die Ebene war wieder so kahl und leer, als wäre Apollon niemals hier gewesen.
Die Feuerwand war näher gekommen. Oder vermutlich war sie selbst es, die immer weiter auf die Flammen zu gegangen war, ohne es zu merken, während ihr Körper und mit ihm ein Teil ihres Geistes auf dem schaukelnden Schiff durch die Ägäis fuhren.
Das Prasseln der Flammen war so laut, dass sie ihren Atem, der lange das einzige Geräusch in der unheimlichen Stille gewesen war, nicht mehr hören konnte. Es war, als verlöre sie dadurch die letzte Erinnerung, die ihr noch von ihrem Leben geblieben war.
Das Feuer tobte laut wie ein Gewittersturm.
Rauchfetzen trieben vorbei, um sich über der weiten Ebene hinter ihr zu verlieren. Einige schienen an ihrem Kleid hängenzubleiben, faserten auseinander und hüllten sie ein wie ein düsterer Mantel.
Die Hitze war kaum noch zu ertragen.
Sie spürte, wie ihre trockenen Lippen aufplatzten.
Mit der Zunge leckte sie das Blut ab, das träge aus der schmalen Wunde quoll und befeuchtete damit ihrem Gaumen.
Sie fühlte sich unendlich müde.
Mit gesenktem Kopf ging sie weiter, Schritt für Schritt, über den Boden, der so heiß war, dass ihre Fußsohlen in den dünnen Sandalen zu schmerzen begannen. An einigen Stellen quoll Rauch aus dem Boden und breitete sich wie eine Decke aus, bevor er langsam nach oben stieg, so dass sie das Gefühl hatte, über Wolken zu gehen.
Das Atmen fiel ihr immer schwerer.
Jeder Atemzug brannte in ihrer Kehle und der Rauch schien sich in ihrer Lunge festzusetzen, dass sie glaubte, ersticken zu müssen.
Dennoch ging sie weiter.
Dies war der Weg, der ihr vorgezeichnet gewesen war; von jenem Tage an, da Hekabe, ihre Mutter, sie in ihrem Leib empfangen hatte. Sie würde nicht zögern, ihn zu Ende zu gehen. Sie zog ihren Schleier vor Mund und Nase und zwang ihre wunden Füße, weiterzugehen. Ihre Augen tränten und die Hitze ließ ihre Tränen auf der Haut verdunsten.
Plötzlich blieb sie stehen.
Vor ihr hatte sich das Erdreich aufgetan, fiel steil in eine tiefe Schlucht hinab.
*
Es waren schrille, panische Schreie, die Kassandra weckten.
Es kostete sie viel Mühe die verklebten Augenlider zu heben. Erst, als sie ein erschrockenes Gesicht in der Dunkelheit über sich entdeckte, wurde ihr klar, dass sie selbst es war, die schrie.
»Prinzessin Kassandra, beruhigt Euch. Keiner will Euch etwas zu Leide tun.«
Die alte Dienerin redete sanft und bestimmt auf sie ein, bis Kassandras Atem sich beruhigte und die Spannung aus ihrem Körper wich. Erschöpft ließ sie sich auf ihr Lager zurücksinken und schloss einen Moment die Augen.
»Wo ist Marpessa?«, fragte sie schließlich.
Die alte Dienerin tat, als habe sie nichts gehört, und setzte ihr einen Becher Wasser an die Lippen.
Kassandra trank gierig. Ihr Mund war trocken, ihre Kehle schmerzte beim Schlucken, als hätte sie tagelang nichts getrunken. Erst als der Becher leer war, setzte sie ihn ab und richtete sich vorsichtig auf. Es war noch tiefe Nacht, doch Kassandra hörte am Atem der anderen an Deck, dass kaum jemand wirklich ruhte. Ihr Anfall war nicht unbemerkt geblieben.
Nachdem die Griechen Troja eingenommen hatten, und Kassandras Visionen sich erfüllt, hatte sie geglaubt, man werde aufhören, sie als verrückte Priesterin zu betrachten – die schöne Tochter des Königs Priamos, die leider schon in jungen Jahren ein Opfer des Wahnsinns geworden war.
Doch die Glut in den zerstörten Straßen war noch nicht erloschen, der schwarze Qualm der Totenfeuer gerade erst entfacht, als die ersten Stimmen – zunächst im Geheimen, dann immer lauter – davon flüsterten, sie, Kassandra, die Seherin, habe die Götter erzürnt und das Unglück über die Stadt an den Ausläufern des Ida-Gebirges gebracht. Vermutlich glaubten sie, die Schreie Kassandras seien nur die Vorboten weiterer Schrecknisse, die über sie hereinbrechen würden.
Doch Kassandra wusste es besser: Die Träume, die sie quälten, waren keine Visionen.
»Wo ist Marpessa?«, wandte sie sich wieder an die Dienerin. Die Frau war vor vielen Jahren die Amme ihrer Schwester Polyxena gewesen und hatte ihr später als Zofe gedient. Sie hatte hinter der Prinzessin gestanden, als diese sich einen Dolch in die Brust stieß, und hatte sie aufgefangen, als sie mit blutverschmierten Händen zusammengebrochen war. Kassandra biss die Lippen zusammen und kämpfte gegen die grausame Enge an, die ihr die Kehle zuschnürte.
»Ich weiß es nicht, Prinzessin«, sagte die Alte.
Etwas in ihrer rauen Stimme machte Kassandra stutzig.
Doch sie gab der Dienerin mit einem Wink zu verstehen, sie alleine zu lassen, wickelte sich in die Decke und starrte zu der grauen Zeltplane hinauf.
*
Sie musste wieder eingeschlafen sein, und als sie von der Sonne geweckt wurde, konnte sie sich an keinerlei Träume erinnern.
Fast kam es ihr vor, als seien die vergangenen Nächte mit ihren Schrecken, diese ganze qualvolle Schiffsreise, nur ein Fiebertraum gewesen. Die See war noch immer ruhig und ein sanfter, stetiger Wind blähte das weiße Segel, sodass sie schnell vorankamen. Wie jeden Morgen half Marpessa ihr beim Ankleiden und steckte ihr die Haare auf. Doch heute sah sie müde und abgespannt aus, hatte dunkle Ringe unter den Augen und ihre Finger waren fahrig und ungeschickt. Kassandra wartete schweigend ab bis Marpessa fertig war, dankte ihr dann und ging zu Agamemnons Zelt herüber.
Der König trug ein langes Gewand aus rotgefärbtem Leinen, mit feiner Silberstickerei am Hals und an den Ärmeln. Das graue Haar, das trotz seines Altern noch immer dicht wie die Mähne eines Löwen war, hatte er sich aus der Stirn gekämmt und mit einem schmalen Goldreif fixiert.
Kassandra nahm ihm gegenüber Platz, ließ sich von einer Dienerin Wein einschenken, nahm aber nichts von dem Brot und dem mit Honig gesüßten Kuchen. Kaum war ihr der Geruch der vergorenen Trauben in die Nase gestiegen, hatte sich ihr Magen verkrampft. Sie musste die Lippen aufeinanderpressen, um nicht zu würgen.
Agamemnon beachtete sie nicht, kaute ungerührt auf dem süßen Kuchen und stürzte seinen Wein in einem Schluck herunter. Dann sagte er unvermittelt: »Bald ist diese anstrengende Reise vorbei, meine Liebe.«
Kassandra blickte nicht auf.
Seine Freundlichkeit stieß sie ab.
Dachte er, sie könnte ihm verzeihen, was sein Krieg ihr und ihrem Volk angetan hatte?
»Es wird Euch gefallen in Mykene. Ihr werdet es dort gut haben.«
»Als Eure Dienerin, mein Herr?«, fragte sie spöttisch.
Agamemnon schüttelte den Kopf.
»Wie könnte ich Euch zu einer Dienerin machen, wo Ihr doch eine Prinzessin Trojas seid? Habt keine Sorge, Ihr werdet keine niederen Arbeiten verrichten müssen. Ihr sollt vielmehr meiner Frau und meinen Töchtern Gesellschaft leisten. Man sagt, Ihr seid bewandert in der Kunst der Stickerei. Auch Eure schöne Stimme und Euer Talent für das Leierspiel haben sich in Griechenland herumgesprochen. Klytaimnestra wird entzückt von Euch sein.«
»Man sagte mir, dass Eure Frau Euch hasst«, erwiderte Kassandra ruhig.
Das Gesicht des alten Königs schien zu erbleichen und seine schmalen Lippen bebten merklich. Dann erlangte er wieder die Gewalt über sich zurück und schüttelte den Kopf. »Ihr irrt Euch, Kassandra. Klytaimnestra hasst mich nicht. Sie mag voller Wut und Trauer gewesen sein über Iphigenies Verlust, aber mit der Zeit hat sie begriffen, dass es der Wille der Götter war, gegen den wir Sterbliche nicht aufbegehren können. Meine Boten haben mir berichtet, dass sie unsere Rückkehr mit Ungeduld erwartet.«
Kassandra erschauderte bei den Worten des Königs.
Der dunkle Schatten einer Vorahnung schien sich über ihren Geist zu legen, doch die Vision, die sie schon halb erwartet hatte, kam nicht. Vielleicht war es die Ruhe, mit der Agamemnon vom Tod seiner Tochter Iphigenie erzählte, die ihr eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Jener Tochter, die er selbst der Artemis geopfert hatte, um mit günstigem Wind nach Troja zu segeln. Sie suchte in seinem Augen nach der Grausamkeit, von der seine Taten kündeten, aber sie sah nur klare schwarze Spiegel, aus denen sie selbst sich entgegenblickte.
»Ich bitte darum, mich zurückziehen zu dürfen«, murmelte sie und stand auf, ohne seine Antwort abzuwarten.
Als sie sich erhob wurde ihr schwindelig und sie merkte, dass ihre Beine zitterten.
Sie hielt einen Moment inne, drückte den Rücken durch und wandte sich, schon am Zeltausgang, noch einmal Agamemnon zu. »Wenn ich wirklich Euer Gast und nicht Eure Gefangene bin, wie Ihr sagt, warum holt Ihr Euch dann meine Dienerin ins Zelt?«
Entschlossen zog sie die Plane zurück und wollte das Zelt verlassen, da wurde ihr schwarz vor Augen.
*
Kassandra stürzte.
Das Brüllen des Feuers fraß ihre Schreie, die Glut versengte ihre Kleidung und die Funken brannten sich in ihre Haut. Tief unter ihr brodelte der Phlegethon, der Flammende, der erste Fluss der Unterwelt. Sein Wasser brannte, hunderte Meter loderten die Flammen in den rauchgeschwängerten Himmel auf.
Im Fallen begriff Kassandra, dass es kein Wasser war, das diese unverlöschlichen Flammen nährte. Es war kochendes Blut.
*
Ein kühler Wind zupfte an Kassandras Haar und einige Strähnen lösten sich aus dem kunstvoll aufgesteckten Knoten. Der Wind trocknete ihren Schweiß, war angenehm erfrischend nach der drückenden Schwüle in der Stadt und dem anstrengenden Aufstieg.
Sie hatten eine saftige grüne Wiese erreicht, von der man einen weiten Ausblick über das Ida-Gebirge hatte und über die weite Ebene, die vor Troja lag. Einige Schafe weideten hier und hinter der Wiese stieg der Hang steil an. Ein lichter Kiefernwald hatte den Gipfel erobert.
Kassandra wandte sich um und wartet auf ihre Begleiter, die keuchend und mit Schweißperlen auf der Stirn die letzten Meter des steilen Bergpfades erklommen und die Wiese erreichten. Ihre Schwester Krëusa ließ sich ins Gras fallen und rang nach Atem.
Ihr Mann Aeneas setzte sich grinsend zu ihr. »Wir sind noch nicht oben, meine Liebe. Du wirst wohl noch ein wenig durchhalten müssen.«
Krëusa lachte und wieder einmal wurde Kassandra schmerzlich bewusst, wie sehr sie die Schwester vermisste. In den letzten Jahren hatten ihre Pflichten als Priesterin ihr nur wenig Zeit für ihre Familie gelassen. Und seit Krëusa vor wenigen Wochen geheiratet hatte, sah sie die Schwester kaum noch.
»Nichts und niemand kann mich dazu bewegen diese herrliche Wiese zu verlassen, um auf einen kahlen, windigen Gipfel hinaufzuklettern. Ich bleibe hier!«, verkündete Krëusa und wehrte alle Überredungsversuche ihres Mannes entschieden ab. Jetzt hatte auch Kassandras Zwillingsbruder Helenos, der die kleine Polyxena auf den Schultern trug, die Wiese erreicht. Jauchzend ließ sich Polyxena von Helenos Schultern heben und begann sofort damit, einen bunten Blumenstrauß zu pflücken.
»Ich werde mir einen Kranz daraus flechten, wie die Krone der Göttin Persephone!«, rief sie und Kassandra musste schmunzeln. Polyxena, die jüngste Tochter von Priamos und Hekabe war ein lebhaftes Kind und trotz ihrer neun Jahre fiel es ihr noch immer schwer, stundenlang still da zu sitzen, um mit den anderen Frauen zu sticken, zu weben oder das Leierspiel zu erlernen. Viel lieber spielte sie in den Gärten oder sah ihrem großen Bruder Hektor zu, wie er auf der Ebene seine wilden Pferde zähmte. In vielen Dingen erinnerte sie Kassandra daran, wie sie selbst als Kind gewesen war.
»Ich würde gern noch bis zum Gipfel hinaufsteigen«, sagte Kassandra und blickte sehnsüchtig zu dem kleinen Kiefernwäldchen hinüber. Es war lange her, dass sie den höchsten Berg des Ida-Gebirges erklommen hatte, und sie wusste noch, wie nah sie sich den Göttern dort gefühlt hatte. Als könnte sie ihren Lufthauch in Wind spüren und brauchte nur die Hand auszustrecken, um sie zu berühren. Ein Nähe, die sie in den Tempeln Trojas niemals empfunden hatte.
»Dann werde ich mich hier ausruhen bis du zurückkommst. Der Abstieg wird schon anstrengend genug werden. Willst du meine Schwester begleiten, Aeneas?«, sagte Krëusa und streckte sich im Gras aus. Ihr Mann sah einen Moment unschlüssig zwischen ihr und Kassandra hin und her, nickte dann jedoch.
»Dann werde ich wohl hier bleiben und auf unseren Wildfang aufpassen«, rief Helenos und rannte hinter Polyxena her, die das Interesse an den Blumen bereits verloren hatte und damit begann, die Schafherde auseinanderzutreiben.
Kassandra und Aeneas machten sich an den Aufstieg. Im Schatten der Kiefern war es angenehm kühl und Kassandra genoss den Duft des Nadelholzes. Aeneas war schweigsam. Und da sie nicht wusste, worüber sie mit ihm reden sollte, blieb auch sie still. Sie überlegte, was sie über diesen Mann wusste, der vor kurzem ihre Lieblingsschwester geheiratet hatte. Er stammte aus dem Herrscherhaus der Dardaner und war der Sohn des Königs von Dardania. Sein Vater Anchises galt als so schön, dass sich angeblich sogar die Liebesgöttin Aphrodite in ihn verliebt hatte und ihm einen Sohn, Aeneas, geboren hatte. Kassandra wusste nicht, ob sie diese Geschichte glauben sollte. Sicherlich war Anchises ein schöner Mann, obwohl er schon ein stattliches Alter erreicht hatte und sein Rücken zunehmend steif von einer Krankheit wurde. Und auch Aeneas war ein schöner Mann musste sie sich eingestehen, als sie ihn von der Seite beobachtete. Sein Gesicht war fein geschnitten, mit ausgeprägten Wangenknochen, dunklen Augen und langen schwarzen Wimpern, die an jedem anderen Mann weibisch ausgesehen hätten. Ihm jedoch verliehen sie eine ruhige Sanftheit und einen klugen, nachdenklichen Blick. Seine Haut war von der Sonne gebräunt und bei jedem Schritt konnte sie das Spiel der Muskeln an seinem Rücken und seinen Beinen durch sein Gewand hindurch beobachten. Nicht umsonst galt Aeneas nach Hektor als Trojas stärkster und tapferster Krieger. Sowohl sein Erscheinungsbild als auch seine erhabene Art waren für viele ein Beweis seiner Göttlichkeit. Doch Kassandra war der Meinung, dass die Leute in zu vielen Dingen eine Einmischung der Götter sahen.
»Gleich sind wir oben«, riss Aeneas Stimme sie aus ihren Gedanken.
Als sie ankamen war Kassandra überrascht, dass ihr Atem nicht schneller ging und ihr Herz nicht schmerzhaft pochte. Nicht einmal das Ziehen in den Waden, das sie sonst sogar beim Aufstieg zum Tempel der Athene in Troja überkam, war zu spüren.
Aeneas lachte. »Für eine Dienerin der Götter seid Ihr gut zu Fuß!« Er trat an ihre Seite und gemeinsam blickten sie über die Wiesen und Wäldchen, die sich tief unter ihnen erstreckten, und über die weite Ebene bis zum Meer, das als leuchtendes Band in der Ferne sichtbar war.
»Man sagt, hier sei mein Vater meiner Mutter begegnet«, sagte Aeneas leise.
»Aphrodite?« Kassandra konnte spüren, dass er nickte, ohne sich zu ihm umdrehen zu müssen.
»Ich kann verstehen, dass sie sich in ihn verliebt hat, an einem Ort wie diesem.«
Wieder sprach er sehr leise und einem unwiderstehlichen Drang folgend, wandte Kassandra sich zu ihm um. Sein Gesicht war näher, als sie gedacht hatte. Und als sie seinen Atem an ihrer Wange spürte, glaubte sie die unerbittliche Hand der Götter zu spüren, die an diesem Ort so stark waren und sie zwangen, den nächsten Schritt zu tun.
Kassandra sah in Aeneas dunkle Augen und küsste ihn.
*
Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war.
Sie saß am Ufer eines träge dahinfließenden Flusses.
Als sie sich zögerlich umdrehte, sah sie weit hinter sich die Flammenwand, die sich über dem Phlegethon in den Himmel emporhob. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie schrecklichen Durst hatte. Ihre Lippen waren rissig, die ausgedörrte Zunge fühlte sich fremd und viel zu groß für ihren trockenen Mund an.
Sie ging zum Ufer hinunter und watete einige Schritte in den Fluss hinein. Er war flach und das Wasser reichte ihr kaum bis über die Knie, dennoch war es dunkel und undurchsichtig wie ein tiefer See. Mit beiden Händen bildete sie eine Schale, schöpfte etwas Wasser und trank gierig davon. Kühl rann es ihre Kehle hinab, viel erquickender als jedes andere Wasser, das sie je getrunken hatte. Als ihr Durst gestillt war, setzte sie sich ans Ufer. Sie wusste nicht, was sie nun tun sollte. Eine unerklärliche Traurigkeit überkam sie. Plötzlich rannen Tränen über ihre Wangen und sie musste schluchzen, ein Laut, der sich mit dem leisen Plätschern des Wassers vermischte. Rasch wischte sie die Tränen fort. Als sie die Hände vom Gesicht nahm, sah sie, wie bleich ihre Finger waren, weiß wie die Augen blinder Fische, beinahe durchsichtig. Ihre Beherrschung fiel endgültig in sich zusammen. Sie fing an zu weinen. Weinte um Troja, um all die Menschen, die in einem zehn Jahre dauernden Krieg gestorben waren, um ihren Vater und ihre Mutter, um Krëusa, Helenos, die kleine Polyxena, um ihren Bruder Hektor und seinen Sohn, um all ihre Brüder und Schwestern, die entweder tot oder in Gefangenschaft geraten waren, sogar um Paris. Sie weinte um all die griechischen Soldaten, deren Mütter und Ehefrauen vergeblich auf ihren Heimkehr warten würden, um die blühenden Landschaften ihrer Kindheit, die in Feuer und Blut ertränkt worden waren. Sie weinte um Aeneas, von dem sie nicht einmal wusste, ob er noch am Leben war.
Doch am meisten weinte sie um sich selbst. So unendlich viel hatte sie verloren. Im grauen Zwielicht der Unterwelt weinte sie um ihr verlorenes Leben und ihre Tränen vermischten sich mit dem dunklen Wasser des Flusses.
*
Als Kassandra den Kopf hob, sah sie, dass sie auf dem Boden lag. Das stachelige, kurze Gras stach durch ihr Kleid und kitzelte die nackte Haut an ihren Armen.
Neben ihr lag Aeneas, die Augen geschlossen, sodass seine langen Wimpern auf seinen Wangen ruhten. Kassandra konnte sich nicht erinnern, dass sie sich hingelegt hatten. Sie erinnerte sich an den Kuss am Rande des Abgrunds, war sich aber sicher, dass sie nicht mit ihm geschlafen hatte.
Was war geschehen?
Sie wollte gerade aufstehen, als sich eine warme Hand auf ihre Schulter legte und sie sanft zu Boden drückte.
»Bleib doch liegen, mein schönes Kind«, sagte Apollon und setzte sich lautlos neben sie.
Verlegen strich Kassandra ihr Kleid glatt, das an den Beinen hochgerutscht war. Der Gott griff nach ihrer Hand und sie erschauderte.
»Du hast deine Gabe weise genutzt, meine Liebste. Das Volk von Troja spricht voller Ehrfurcht von seiner schönen Prinzessin, die im Athene-Tempel die Zukunft weissagt.«
»Ich danke Euch für dieses Geschenk, mein Gebieter.«
»Es macht mich stolz, dass du es würdig nutzt. Doch bist du glücklich mit dem Schicksal, das du gewählt hast, Kassandra? Die Priesterinnen der Athene haben gewisse Pflichten ...«
Seine Worte ließen Kassandra zusammenzucken und unwillkürlich huschte ihr Blick zu dem schlafenden Aeneas hinüber.
Apollon lachte. »Oh, nicht einmal du bist gefeit vor den Verlockungen der irdischen Welt!«
Kassandra sah verschämt zur Seite. »Ich habe meine Wahl getroffen und werde den Weg meiner jungfräulichen Göttin bis zum Ende gehen.«
Wieder lachte Apollon.
Dann beugte er sich vor, sodass seine Lippen beinahe ihre Wange berührten. »Wenn du dich schon keinem Sterblichen hingeben darfst, warum dann nicht einen Gott? Meine Schwester Pallas Athene wird es dir nicht verübeln.« Er sprach leise, kaum mehr als ein Flüstern, und seine Stimme schien Kassandra zu lähmen. Ihr Herz begann wild in ihrer Brust zu hämmern, doch sie konnte sich nicht rühren. Der Gott strich über ihren Hals, ließ seine Hände über ihre Schultern gleiten, über ihren Bauch und ihre Hüfte. Dann sah er sie lange an und küsste sie schließlich. Seine Lippen waren so warm wie seine Hände. Eine seltsame Wärme, die in keiner Weise menschlich war. Kassandra dachte an Aeneas, dessen Lippen rau und härter als die des Gottes gewesen waren, und doch war sein Kuss tausendmal schöner gewesen. Sie sah Apollon an, und als sie in seine hellen Augen blickte, fand sie dort keine Liebe, nicht einmal Freundlichkeit, sondern nur unendliche Gier.
Panik durchströmte sie, ihre Brust schien plötzlich wie von Fesseln zusammengeschnürt zu sein, ihr Atem ging schnell und stoßweise und die Lippen des Gottes auf den ihren verursachten ihr einen unbeschreiblichen Ekel.
Sie stieß ihn von sich, sprang keuchend auf und rannte los, doch eine unsichtbare Hand schien sie festzuhalten, sie stolperte, fiel, wollte sich erneut aufrappeln und brach wieder in die Knie. Zitternd wandte sie sich zu Apollon um. Der Gott hatte sich erhoben, stand übermenschlich groß da, die Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Ein unheimliches Licht schien um ihn herum zu leuchten.
»Du weist mich ab, Priesterin?«
Seine Stimme war dunkel und drohend.
Es fiel Kassandra unendlich schwer, zu sprechen. Ihre Kehle war eng und ihr Mund konnte kaum die Worte formen.
»Ich habe meiner Göttin gelobt, jungfräulich wie sie zu bleiben. Ich werde meinen Eid nicht brechen.«
Sie sah noch, wie Apollon einen Schritt auf sie zukam, dann verlor sie das Bewusstsein.
*
»Du hast damals die falsche Wahl getroffen.«
Unvermittelt war Apollon neben ihr aufgetaucht. »In gewisser Weise trägst du allein die Schuld an Trojas Untergang.«
Kassandra starrte weiter auf den Fluss. »Wo bin ich hier?«
»Weißt du das denn nicht, schöne Priesterin?« Seine Stimme war weich, als redete er mit einer Geliebten. »Die ist der Kokytos, der Fluss des Wehklagens. Du hast von ihm getrunken und erkannt, dass du dein Leben verloren hast. Du hast geweint, und der Fluss hat deine Tränen aufgesammelt und bringt sie zum Acheron, in den er mündet. Der Acheron ist der Fluss der Trauer, gefüllt mit den Tränen der Verstorbenen. An seinem Ufer wartet Charon, der Fährmann, um die Seelen der Toten sicher in den Hades zu geleiten.«
»Ich muss weitergehen«, sagte sie leise.
Apollon schüttelte den Kopf.
»Nein, mein Kind, du solltest umkehren.«
»Von hier gibt es keinen Weg zurück. Hierher kommen nur die Toten«, antwortete Kassandra und stand auf.
Sie durchquerte den seichten Fluss und kurz bevor sie außer Hörweite war, murmelte Apollon: »Die Toten und die Götter.«
*
Kassandra fuhr aus ihrer Ohnmacht auf.
Jemand rüttelte unsanft an ihrer Schulter. Sie fühlte sich, als irrte ihr Geist durch einen dichten Nebel, der all ihre Sinne verschleierte. Mühsam versuchte sie, sich aufzurichten. Aeneas hatte sich über sie gebeugt und sah sie besorgt an. »Kassandra, was ist passiert?«
Sie wusste es selbst nicht. »Ich glaube, ich hatte einen Traum«, begann sie zögerlich. »Nein, kein Traum. Es war eine Vision.«
Aeneas sah sie gebannt an. »Was hast du gesehen?«
»Schiffe«, murmelte Kassandra.
Während sie versuchte, sich zu erinnern, flackerte die Vision bruchstückhaft vor ihrem inneren Auge auf. »Viele Schiffe ... Hunderte. Sie kommen nach Troja. Sie bringen Krieger. Tausende Krieger!« Ihre Stimme wurde schrill, Aeneas Gesicht verschwamm vor ihren Augen, überdeckt von einem Kaleidoskop aus Bildern voller Feuer, Blut und Tod. Ihr wurde schwarz vor Augen. Doch bevor sie erneut das Bewusstsein verlor, hörte sie Apollons sanfte Stimme in der Dunkelheit: »Du hast mich gekränkt, Priesterin. Von nun an soll mein Geschenk dein Fluch sein. Wann auch immer die Zukunft sich dir offenbart, von nun an wird keiner dir Glauben schenken!«
*
Sie musste lange ohne Bewusstsein gewesen sein, gefangen in der zwielichten Scheinwelt düsterer Träume und verlorener Erinnerungen. Man hatte sie in ihr Zelt gebracht, ihr ein Kissen in den Nacken geschoben und warme Decken über sie gebreitet. Das Licht der Nachmittagssonne drang durch die Zeltplane und tauchte den Innenraum in warmes Gelb. Marpessa saß neben dem Lager und betrachtete ihre Herrin. Kassandra verzog die Lippen zu einem schwachen Lächeln.
»Ich bin wach, Marpessa«, sagte sie und erschrak darüber, wie kraftlos ihre Stimme klang.
Marpessa nickte. Sie sah unglücklich und bedrückt aus. »Herrin, ich muss mit Euch reden.«
Es fiel ihr sichtlich schwer, diese Worte auszusprechen. Kassandra sah sie abwartend an. Die Dienerin schien einen Moment mit sich zu ringen, schließlich riss sie sich zusammen und begann leise und stockend zu reden: »Herrin! Nach dem, was in Troja passiert ist, im Tempel ...« Sie hielt inne, warf Kassandra einen beinahe flehenden Blick zu und senkte beschämt den Blick, bevor sie weitersprach. »Ihr habt es mir nicht gesagt, aber alle wissen, was der Lockrer Euch angetan hat. Bitte Herrin, sagt mir ... sagt mir, ob ...« Marpessa rang hilflos die Hände und suchte nach Worten. Kassandra griff nach ihrer Hand und bedeutete ihr, zu schwei- gen.
»Ihr wollt wissen, ob ich ein Kind erwarte?«, fragte sie schließlich und lächelte traurig.
Marpessa erstarrte, wagte nicht Kassandra anzusehen und nickte schließlich.
»Wer hätte gedacht, dass ich als Priesterin der Athene jemals ein Kind bekommen würde?«, lachte Kassandra leise.
»Herrin, warum habt Ihr es mir nicht früher gesagt? Ihr hättet eine der Ammen um Hilfe bitten können!« In Marpessas Augen schwammen Tränen. »Sie hätten gewusst, was zu tun ist! Wer wollte schon ein solches Kind haben?«
Kassandra richtete sich auf und legte Marpessa beruhigend den Arm auf die Schulter.
»Es ist gut so wie es ist, Marpessa. Ich wünschte nur, dieses Kind könnte geboren werden.«
Dann schickte sie ihre Dienerin hinaus.
*
Der Weg schien endlos weit gewesen zu sein.
Es kam ihr vor, als sei sie tagelang gewandert, doch die Unterwelt unterschied nicht zwischen Tag und Nacht.
Vor ihr lag ein breiter, reißender Fluss.
Erschöpft ließ sie sich an seinem Ufer auf den harten Boden fallen. Die Erde war hier grau und fest und sie überlegte, ob es sich um festgetretene Asche handelte. Am liebsten wäre sie auf der Stelle eingeschlafen, aber es schien ihr kein guter Platz zum Ruhen zu sein. Außerdem hatte sie Durst. Der lange Marsch über die wasserlose Ebene hatte sie ausgedörrt. Misstrauisch betrachtete sie das Wasser. Irgendetwas in ihr sträubte sich, davon zu trinken. Das schwache Echo einer Erinnerung, das ihr einflüsterte, es sei nicht klug aus den Flüssen der Unterwelt zu trinken.
Doch das Verlangen war zu groß und ihr Wille zu schwach.
Vorsichtig tastete sie sich an dem abschüssigen Ufer entlang. Das Wasser des Flusses war hell und klar, floss jedoch ungewöhnlich schnell, bildete wilde Strudel, als hielten sich tückische Untiefen und große Steine unter der Oberfläche verborgen. Mit Mühe fand sie eine Stelle, die ihr einigermaßen sicher erschien. Vorsichtig suchte sie Halt auf einem rauen Stein, ging dann in die Knie und schöpfte etwas Wasser mit den Händen. Obwohl sie spürte, wie es ihre Lippen und ihren Mund nässte, und sie gierig schluckte, stillte das Wasser nicht ihren Durst. Sie beugte sich erneut vor, trank, doch der Durst wich nicht. Das Verlangen nach Wasser wurde übermächtig. Kassandra legte sich auf den Bauch, kroch weiter nach vorn an den Rand des Felsen, bis sie ihr Gesicht ins Wasser tauchen und trinken konnte. Sie schluckte hastig, musste husten. Wasser drang in ihre Lunge, floss durch ihre Nase, nahm ihr den Atem.
Sie wollte schreien, verlor den Halt und stürzte in den reißenden Strom.
*
Am Morgen erblickten sie in der Ferne die Küste. Sie hatten Mykene erreicht.
Marpessa wirkte gelöst und glücklich, obwohl sie müde sein musste. Kassandra hatte gesehen, wie sie sich in den frühen Morgenstunden heimlich aus Agamemnons Zelt geschlichen hatte.
Sie seufzte und schob die Sorgen um ihre Dienerin beiseite.
Marpessa gab sich besonders viel Mühe, Kassandras Haare zu frisieren. Sie kämmte sie so lange und gründlich, bis sie glänzten als habe der Salzatem, der See, sie niemals stumpf werden lassen. Danach flocht sie mehrere dicke Zöpfe, die sie miteinander verdrehte und zu einem eleganten Knoten am Hinterkopf aufsteckte.
Sie half Kassandra in eines der Kleider, die Agamemnon als Kriegsbeute aus Troja mitgebracht hatte. Kassandra selbst hatte nur wenige Kleider besessen, da sie schon viele Jahre das Gewand der Priesterinnen trug. Sie überließ es Marpessa, in den Kisten zu wühlen und etwas Passendes auszusuchen. Als ihre Dienerin zurückkam, wünschte sie jedoch, sie hätte es nicht getan.
Marpessa hatte ein dunkelblaues Kleid ausgewählt, das man mit türkisfarbenem Garn bestickt hatte. An den Schultern wurde es von silbernen Spangen in der Form von Tauben zusammengehalten und der schmale Gürtel war mit stilisierten Weinblättern und Reben verziert.
Dieses Kleid hatte einst Polyxena gehört, bevor diese wie Kassandra in den Dienst der Göttin Athene getreten war.
Dennoch ließ sich Kassandra von Marpessa einkleiden, stumm und willenlos wie eine Puppe. Als das Schiff in den Hafen einfuhr, ließ Agamemnon sie rufen, um mit ihm an der Reling zu stehen.
Kassandra gehorchte. Als sie aus dem Zelt trat, zog sie einen durchsichtigen Schleier tief übers Gesicht.
*
Die Menschen von Mykene empfingen ihren König mit Jubel. Hoch aufgerichtet schritt Agamemnon von seinem Schiff, gerüstet, wie es sich für einen siegreichen Feldherr gehörte, mit stolzen Augen und einen Goldreif auf der Stirn. Huldvoll winkte er den jubelnden Menschen zu.
Kassandra ging einige Schritte hinter ihm, wie er es befohlen hatte. Sie nahm den Trubel kaum war.
Fast schien es ihr, als ob ein unsichtbarer Schleier sie vom Rest der Welt trennte, ihre Sinne betäubte, alle Geräusche dämpfte, die Zeit nach einem anderen Rhythmus verstreichen ließ. Helfende Hände geleiteten sie durch die Menge und halfen ihr, auf einen wartenden Wagen zu steigen, ohne das Kassandra zu sagen vermochte, wem sie gehörten.
Sie stand mit gesenktem Kopf da, während sie durch die fremde Stadt fuhren, und durch den Schleier vor ihrem Gesicht konnte niemand bemerken, dass ihr Blick leer und abwesend wurde und ihr Geist sich davonstahl.
*
Sie wusste, wohin sie gehen musste.
Es gab keinerlei Orientierungspunkte in der Einöde, nur graue trockene Erde und einen genauso düsteren Himmel. Hätten die Götter beschlossen die Erdenscheibe umzudrehen, so hätte man hier nichts davon bemerkt, denn das Oben unterschied sich nicht vom Unten.
Die Frau ging langsam aber zielstrebig, obwohl sie selbst nicht zu sagen vermochte, wohin sie ging.
Plötzlich erschien ein Mann auf der kahlen Ebene vor ihr.
Sie blieb verwundert stehen und sah ihn näherkommen. Seine Kleidung strahlte stechend weiß an diesem grauen Ort, sein Haar schimmerte als fiele Sonnenlicht darauf und seine hellen Augen leuchteten. Er blieb stehen und musterte sie.
»Kassandra, mein schönes Kind, warum bist du nicht umgekehrt?«
Sie antwortete nicht, sah ihn nur fragend an.
»Die Götter haben andere Pläne für dich. Warum willst du diese Qual auf dich nehmen? Hast du nicht genug gelitten? Es ist sinnlos, was du tust, du kannst den Göttern nicht trotzen.«
»Ich werde nicht länger ihr Spielzeug sein«, sagte sie leise.
Ein ungläubiger Ausdruck erschien auf dem schönen Gesicht des Mannes.
»Du erinnerst dich?«
Sie runzelte die Stirn, schien einen Moment nachzudenken, dann schüttelte sie traurig den Kopf.
»Werdet Ihr mich gehen lassen?«, fragte sie schließlich.
*
Feuer in Troja.
Feuer und Schreie und Tod.
Das Klirren der Schwerter, die Schreie der Verwundeten und das Wimmern der Sterbenden. Der Zorn der Sieger, die sich nahmen, worauf sie ein Jahrzehnt voller Entbehrungen hatten warten müssen.
Kassandra rannte.
Immer wieder stolperte sie auf dem unebenen Boden, mehrere Riemen an ihren Sandalen waren gerissen und kleine Steine, die in die Schuhe gerutscht waren, hatten sich in ihre Fußsohlen gebohrt, sodass die Schuhe glitschig von ihrem Blut waren.
Doch Kassandra bemerkte es kaum.
Der Rauch brannte in ihrer Lunge. Dicker schwarzer Qualm, als habe man schon die Totenfeuer entzündet. Jeder Atemzug schmerzte. Jeder Schritt, jeder Herzschlag war eine Qual. Hände packten sie, doch sie riss sich los, spürte wie die Nähte an ihrem Kleid aufrissen und rannte weiter. In ihrem Kopf hallten die Schreie ihrer Schwestern wider, als die Griechen mit gezückten Schwertern in den Palast gestürmt kamen, sie sah die Tränen in den Augen ihres Vaters in dem Moment, in dem sein Blick brach. Sie hörte das Flehen der Diener und das Weinen der Kinder.
Sie stolperte erneut und als sie sich mühsam aufrappelte, sah sie, dass es der reglose Körper eines Menschen war, an dem ihr Fuß hängengeblieben war. Schaudernd wollte sie sich abwenden, doch wie von einer grausamen Macht gezwungen, wandte sie sich noch einmal um und betrachtete den Toten. Er trug das Gewand der Priesterschaft, auf dem sich leuchtend rote Blutflecken ausbreiteten.
Grauen befiel sie.
Machten die Griechen nicht einmal vor den Dienern der Götter halt? Wohin sollte sie fliehen, wenn diesen Bestien nichts heilig war?
Dennoch rannte sie weiter, die Treppe hinauf, die unzähligen Stufen, die zum Tempel führten.
*
Als sie den Palast erreichten, legte Marpessa ihrer Herrin eine Hand auf den Arm.
Kassandra schreckte auf.
Vor ihnen erhob sich ein mächtiges Tor, flankiert von steinernen Löwen. Die Wagen fuhren durch das Tor in den gepflasterten Hof, der vor den Palastgebäuden lag.
Agamemnon sprang von seinem Wagen und eilte auf eine Gruppe Leute zu, die sie hier erwartet hatten. Kassandra sah, wie er eine kleine, zierliche Frau mit dunklem Haar umarmte. Das musste Klytaimnestra, die Königin sein. Sie hatte wenig Ähnlichkeit mit ihrer Schwester Helena. Die Jahre hatten deutliche Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen, aber auch in ihrer Jugend war sie wohl keine Schönheit gewesen. Sie empfing Agamemnon lächelnd, mit Tränen in den Augen und Kassandra begann an den Gerüchten über ihren Hass auf ihren Gatten zu zweifeln.
Dann kam eine junge Frau auf Agamemnon zu. Ihr Gesicht war schmal, umrahmt von lockigem Haar und ihre Augen mandelförmig. An der Hand hielt sie einen Knaben, der scheu zu Agamemnon aufblickte. Hinter den beiden stand ein Mädchen mit hellem Haar, auch sie unsicher, wie sie dem König begegnen sollte. Das mussten Agamemnons Kinder sein. Elektra, nach Iphigenie seine älteste Tochter, Chrysothemis und Orestes, sein Sohn und Thronfolger, den er als Kleinkind zurückgelassen hatte, als er mit seiner Flotte gen Troja aufbrach.
Hinter der Königin bemerkte Kassandra einen dunkelgekleideten Mann.
Sie schauderte.
»Marpessa, wer ist das?«, fragte sie und nickte leicht in Richtung des Fremden.
Marpessa beugte sich vor und richtete die Frage an den Wagenlenker.
»Das ist Aigisthos, der Sohn von Agamemnons Bruder und Statthalter, während seiner Abwesenheit.«
Schließlich schickte Agamemnon einen Diener zu ihnen, mit der Bitte, Kassandra möge zu ihm herüberkommen. Sie ließ sich von Marpessa vom Wagen helfen und schritt dann langsam über den gepflasterten Hof.
Ihr war schwindelig. Die Sonne brannte erbarmungslos vom Himmel und die Wochen auf See hatten ihre Beine schwach werden lassen. Sie fiel vor der Königsfamilie auf die Knie und murmelte einen Dank dafür, dass man sie, eine Heimatlose, hier aufnehmen werde.
Klytaimnestra nahm ihre Hand, forderte sie auf, sich zu erheben, und umarmte sie wie eine Schwester. Auch Chrysothemis und Orestes begrüßten sie. Als Elektra sie umarmte, hörte sie deren leise Stimme an ihrem Ohr: »Seid vorsichtig, Prinzessin Kassandra.«
Dann geleitete man sie ihn den Palast.
Eine Dienerin brachte sie in ein Zimmer, wo sich Kassandra erschöpft auf das harte Lager warf und sofort einschlief.
*
Ein weiterer Fluss lag vor der Frau.
Sein Ufer war mit rauen Felsen gesäumt, an denen man einige Meter steil hinabklettern musste, um ans Wasser zu gelangen. Das Wasser selbst war pechschwarz.
Auch der Himmel war dunkel geworden.
Das ewige Grau hatte sich zunehmend verdüstert und hier war es so dunkel, dass sie nicht mehr ausmachen konnte, wo das dunkle Wasser aufhörte und der Himmel begann. Es schien, als ob der Fluss sich bis zum Horizont und noch darüber hinaus erstrecken würde.
Wie sollte sie ihn überqueren?
Ratlos und erschöpft setzte sie sich auf das harte Vulkangestein. Ein goldenes Licht erschien mit einem Mal und eine bekannte Gestalt schälte sich aus der Dunkelheit.
»Hier bist du nun angelangt, meine Liebste. Am Styx, der Grenze zu Hades Reich.« Der Gott ließ sich neben ihr zu Boden gleiten. »Ich werde dir eine Geschichte erzählen über diesen Fluss, schöne Priesterin. Die Styx, die dem Gewässer ihren Namen gab, ist eine Flussgöttin. Eine dunkle Göttin, so mächtig, dass sogar die anderen Götter sie fürchten. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Welt der Toten von der Welt der Lebenden zu trennen. Wenn du dich von den schwarzen Wassern ans andere Ufer tragen lässt, wirst du die schattigen Gefilde betreten, auf denen die Toten darauf warten, dass Charon, der Fährmann, sie sicher über den Acheron in die Unterwelt geleitet. Dort warten all jene, denen man bei ihrem Begräbnis keine Münze unter die Zunge gelegt hat, bis in alle Ewigkeit. Bis hier hin konnte ich dich begleiten, mein Kind, aber wenn du den Styx überquerst, wirst du allein sein. Dorthin gehen nur die Toten. Es gibt für uns Götter andere Wege in die Unterwelt, doch den Styx überqueren wir niemals. Sie würde uns nicht mehr gehen lassen.«
Die Frau starrte auf den Fluss hinunter, dann wandte sie sich dem Gott zu. Apollon lächelte. »Geh nur, Liebste, wenn das die Wahl ist, die du getroffen hast. Wir hatten große Pläne für dich. Für dich und dein Kind. Aber vielleicht hast du Recht, vielleicht ist deine Rolle vorüber. Andere werden kommen. Andere Menschen und andere Geschichten. Andere Schicksale, die sich erfüllen mögen. Ich kann dich hinunter zum Wasser geleiten, dann musst du den Rest des Weges allein gehen. Dies ist die letzte Etappe. Am Phlegthon hast du dein Blut zurückgelassen, am Kokytos deine Tränen, am Lethe deine Erinnerungen. Dies ist der Styx, das Wasser des Grauens. Hier musst du deine Furcht zurücklassen.«
Die Frau sah ihn an. Ein langer Blick, als versuche sie, sich zu erinnern, was zwischen ihnen gewesen war.
Dann erhob sie sich.
Auch Apollon stand auf, legte einen Arm um ihre Taille und zog sie nah an sich heran. Er strich über ihr Haar, küsste sie sanft auf die Stirn. Dann lachte er leise. »Ich werde dich vermissen, mein Kind. Keine Sterbliche hat mich jemals so überrascht wie du.«
Dann trat er einen Schritt über den Abgrund hinaus. Seine Füße schwebten auf der Luft. Und so, als ginge er auf einer unsichtbaren Treppe, trug er sie zum Wasser hinunter. Es floss dunkel und beunruhigend schnell dahin.
Apollon lächelte ihr noch einmal zu, dann ließ er sie unvermittelt los und der Fluss riss sie mit sich.
*
Sie erreichte den Tempel und brach auf dem Stufen vor dem Eingangsportal zusammen. Die Welt ringsum drehte sich in einem rasenden, wahnsinnigen Tanz. Der Boden unter ihr verschwand, sie stürzte durch einen dunklen Schacht und Feuerspiralen wirbelten um sie.
Kassandra schloss die Augen und versuchte, ruhig zu atmen. Das Herz hämmerte gegen ihren Brustkorb, dass sie fürchtete, ihre Rippen könnten bersten. Sie hörte Schreie hinter sich, weiter unten am Hang. Schreie und das Klirren von Metall. Schritte. Schwere Schuhe, die die Treppe hinaufstürmten. Ein Brüllen wie von einem zornigen Stier.
Panik stieg in ihr auf.
Sie nahm alle Kraft zusammen, die sie noch in ihrem ausgelaugten Körper finden konnte und stemmte sich auf die Knie. Mühsam kam sie auf die Füße. Kurz wurde ihr schwarz vor Augen, dann taumelte sie halb blind vor Rauch und Tränen vorwärts, hinein in den Tempel. Sie lauschte hinter sich, konnte jedoch nichts hören außer dem Rauschen des Blutes in ihrem Kopf. Schritt für Schritt quälte sie sich weiter. An der langen Säulenreihe vorbei, durch die Gänge und Säle. Bis hinein ins Herz des Tempels, das nur die Priesterinnen der Athene betreten durften. Vor dem Standbild der Göttin fiel sie auf die Knie, lehnte den Kopf an den kalten Stein und betete stumm.
Es war still im Tempel. Wie durch einen Zauber, der verhinderte, dass der heilige Ort entweiht würde, drang der Lärm der Schlacht nicht durch die dicken Mauern.
Plötzlich hörte Kassandra Schritte hinter sich.
Sie umklammerte das Standbild, flehte zu Athene, sie zu beschützen. Die Schritte kamen näher, hielten dann inne. Langsam drehte Kassandra sich um.
Da stand er. Eine dunkle Gestalt, vom flackernden Feuer der Fackeln in unstetes Licht getaucht. Von seinem Schwert tropfte Blut, seine muskulösen Unterarme waren mit Schnitten übersäht, sein ganzer Körper schien in Blut getaucht worden zu sein. Er trug keinen Helm, sein verschwitztes Haar hatte sich aus dem Lederband gelöst und fiel wirr in sein Gesicht. Seine Augen lagen im Schatten, die Flammen tanzten darin wie Feuernymphen.
Er musterte Kassandra wie eine Jäger seine Beute. Ajax der Lockrer. Sie kannte ihn aus ihren Visionen. Sie schloss die Augen, schrie nach der Göttin, der sie ihr Leben geweiht hatte. Doch Athene blieb stumm.
Ajax kam auf sie zu. Ihre Visionen logen niemals.
*
Kassandra wusste, was sie sehen würde.
Sie schob die Tür auf und trat ein.
Die Bodenplatten waren mit Blut getränkt. Die Lache hatte sich fast bis zur Tür ausgebreitet. Kassandra stand in dem Blut, es war noch warm.
Vor ihr lag Agamemnon. Er war nackt. Das Badewasser in dem Bottich hinter ihm dampfte noch.
Man hatte dem König die Kehle durchgeschnitten. Wie einem Lamm, das den Göttern geopfert wurde. Sein alter Körper war bleich, fast gräulich. Die weit geöffneten Augen starrten stumpf zu ihr hinauf.
Sie kniete sich neben ihn. Der Saum ihres Kleides saugte das Blut auf. Sanft schloss sie seine Augen.
Dann blickte sie auf.
Neben dem Bottich stand Klytaimnestra, gekleidet in ein schlichtes Leinenkleid, als habe sie ihrem Gatten beim Baden helfen wollen. Jetzt war das helle Kleid blutverschmiert, rote Spritzer waren auf den nackten Armen der Königin, auf ihrem Hals, auf ihren Gesicht, sogar auf ihren Lippen, als habe sie von dem Blut getrunken. Sie hielt ein Messer in der Rechten. Von der schmalen Klinge tropfte Blut und zog dunkle Schlieren auf dem Boden.
Neben ihr, eine Hand auf ihrer Schulter, stand Aigisthos. Sein Gewand war sauber. Nur auf seinen schmalen Lippen schimmerte feuchtes, rotes Blut, als habe er Klytaimnestra geküsst. Ein dünnes Lächeln lag auf seinen Lippen, als er Kassandra musterte.
Klytaimnestra lachte.
Ein schrilles, hohes Lachen wie von einer Wahnsinnigen. »Habt Ihr nicht voraussehen können, was geschehen würde?« Ihre Stimme überschlug sich. »Konntet Ihr nicht einmal Euer eigenes Ende erblicken, Seherin?«
Sie hob das Messer und kam auf Kassandra zu.
Kassandra lächelte.
Apollon nahm die Hand von ihrer Schulter.
Erst jetzt begriff sie, dass der Gott immer bei ihr gewesen war, jeden Tag ihres Lebens, seit er sie erwählt hatte.
Sie konnte ihn nicht mehr dafür hassen.
Jetzt war sie frei.
Sie hob den Kopf und sah in Klytaimnestras vor Wahnsinn glühende Augen.
»Doch«, sagte sie leise. »Das habe ich.«