Der dunkle Fluss

Dennis Huber

Ich war nicht immer verrückt.

Es gab eine Zeit, in der ich sogar ziemlich durchschnittlich war oder zumindest dachte, es zu sein. Eine Zeit, in der ich jeden Morgen aufwachte und an nichts anderes denken musste als an den Tag vor mir. Keine irrationalen Ängste, keine Bilder, die mein Verstand nicht zu vergessen im Stande war.

Man konnte sagen, dass der heutige Morgen diesen wunderbaren, längst vergangenen Tagen noch am nächsten kam.

Normalerweise mochte ich Montage nicht. Sie rissen meinen Verstand aus der Freiheit des Wochenendes, zwangen ihn zurück in die Bahnen des banalen Alltags. Und doch, dieser Montag hatte gut begonnen, wenn man so etwas über einen Montag sagen konnte.

Durch das offene Fenster begrüßte mich eine Brise frischer Morgenluft. Sie trug das Versprechen eines wunderbaren Tages auf ihren Schwingen. Ich blieb noch eine Weile im Bett liegen und lauschte dem Gesang der Vögel. Wenn ich meine Fantasie nur genügend anstrengte, konnte ich in ihrem Zwitschern die Sehnsucht nach der aufgehenden Sonne hören. Der Lärm der Autos, das Stimmengewirr der Menschen – all das war weit weg.

Ich lebte in dem Vorort einer großen Stadt, weit draußen, wo die Menschen nur hinfuhren, wenn sie wirklich mussten. Eine kleine Gemeinde. Manche wohnten freiwillig dort. Andere waren Flüchtlinge; vor sich selbst, der Wirtschaft, die langsam unter ihrem eigenen Gewicht zerbröckelte, oder einfach nur der Vergangenheit. Manchmal vermisste ich die Anonymität der Großstadt, einem Ort, an dem du einfach nur ein Gesicht unter Millionen sein kannst. Ein einsamer Punkt mitten im Sturm. Auch ich war hierher geflüchtet und nicht freiwillig gekommen. Ich hatte Angst vor dem Alleinsein. Nichts wäre mir lieber gewesen, als einfach nur von der Welt vergessen zu werden. Ignoriert von der eigenen Vergangenheit, wie in jenen Tagen, da ich noch nicht verrückt gewesen war. Und doch hatte sie mich eingeholt: an diesem schönsten aller Tage.

Als Redakteur einer kleinen Zeitung mit kaum nennenswerter Auflage begann mein Tag in der Regel sehr früh und endete spät. Obwohl ich gern noch etwas liegen geblieben wäre, um den Vögeln zu lauschen und mich unter der Bettdecke geborgen zu fühlen, ergab ich mich der Notwendigkeit des Alltags und stieg hinaus. Der kalte Boden saugte gierig die Wärme aus meinen Fußsohlen und ließ mich kurz erschauern, ehe ich meine Zehen in die flauschigen Pantoffeln rettete.

Wahrscheinlich war sie schon immer da – diese eigentümliche Energie in der Luft, diese knisternde Spannung. Ein Gefühl wie in jenem Sekundenbruchteil, bevor ein Blitz einschlägt, sich das unsichtbare, elektrische Feld entlädt und die Naturgewalt uns erschauern lässt. Nur dass an diesem Tag kein Blitz irgendwo einschlagen würde. Der Himmel war klar und die Frühjahrssonne würde schon eine Stunde später so stark sein wie schon lange nicht mehr. Das Gefühl traf mich somit unvorbereitet – mitten in die Magengrube.

Die feinen Härchen auf meinen Unterarmen stellten sich auf und ich schlang die Arme um meinen Oberkörper. Plötzlich wurde mir kalt. Eiskalt. Etwas Schlimmes lag in der Luft. Dieses Gefühl war mir nicht neu. Und vielleicht hätte ich es sofort erkennen müssen, denn von dieser Energie hatte ich schon einmal gekostet. Der Preis wäre beinahe mein Leben gewesen. Das war vor einer Ewigkeit, in einem anderen Leben.

Doch an diesem Morgen dachte ich mir nicht viel dabei. Vielleicht ein Albtraum, der erst jetzt zu mir aufschloss, oder ein verdorbenes Abendessen und dessen Nachwirkungen. Dutzende Erklärungen kamen mir in den Sinn, jede einzelne davon beruhigend und sicher. Nur die eine nicht. Die Naheliegende. Möglicherweise wollte ich auch nicht sehen, was sich aus der Dunkelheit näherte.

Das Frühstück war eine kurze und wenig befriedigende Angelegenheit, die ich mehr oder weniger einfach ertrug. Mit jedem Bissen stieg jene innere Unruhe in mir auf, die mich seit dem Anfall nicht mehr aus ihrer Umklammerung entlassen hatte. Als ich ein Minimum verzehrt hatte, um mein Gewissen zu beruhigen, zog ich mich an und trat hinaus in eine Welt, die ihr Schlafgewand noch nicht abgenommen hatte. Der Mond war schon im Begriff hinter den Bergen zu versinken, die Sonne jedoch noch nicht aufgegangen. Ich mochte die Dunkelheit irgendwie; vor allem diese Minuten vor Sonnenaufgang – die Grenzbereiche zwischen Tag und Nacht, wenn man so will. Der Tag und ich waren keine wirklichen Freunde. Er war mir immer zu laut, zu heftig und zu nah. Bisher konnten wir uns nur auf einen Waffenstillstand einigen: ich ertrug ihn und er mich.

Auf dem Weg zur Arbeit stieg meine Nervosität noch einmal an. Alle bevorstehenden Aufgaben, Sitzungen und Besprechungen der Woche rasten durch meinen Verstand, wie ein viel zu schnell heruntergeblättertes Daumenkino. Ich konnte mich einfach auf keine Details konzentrieren. Und während ich, mit nervös aufs Lenkrad klopfenden Fingern, an einer Kreuzung darauf wartete, dass die Ampel endlich auf Grün umschaltete, sah ich ihn. Einen alten Mann auf seinem noch viel älteren Fahrrad. Eigentlich nichts Besonderes. Wäre da nicht dieses Licht gewesen. Kein einfaches Weiß oder Rot wie die meisten Fahrradlichter. Nein. Dieses Licht strahlte violett. Unangenehm und von einer Intensität, wie man sie wohl nirgendwo sonst findet. Plötzlich stiegen uralte Erinnerungen in mir auf.

Der Alte auf dem Fahrrad sah nur kurz zu mir herüber. Als aber seine Augen die meinen trafen, erstarrte ich. Obwohl er so weit weg war, konnte ich jede Einzelheit darin erkennen. Das Weiße, die Pupillen und schließlich die schwarzen Abgründe, aus deren Tiefen dieses violette Licht brannte. Die Zeit hörte auf, durch mich hindurchzufließen, und ich erstarrte zu einem Fels.

Doch der Mann auf dem Fahrrad fuhr einfach weiter – über die Kreuzung, an mir vorbei. Jede Einzelheit seines Gesichtes hatte sich in mein Hirn gebrannt. Die Haut, so faltig wie das rissige Muster auf ausgedörrtem Lehmboden. Das weiße Haar, welches wie silberne Flammen um seinen Kopf flatterte. Was mich jedoch zutiefst erschreckte, war die Gewissheit, diesen Mann zu kennen. Und auch in seinen Augen flackerte für einen Moment diese Erkenntnis. Jedenfalls bildete ich mir das ein.

Doch warum berichte ich von dieser Begegnung?

Welche Bedeutung besitzt sie?

Nun, ich will es erzählen:

Das Licht des alten Mannes war mir nicht fremd.

Ich kannte es von einem anderen Ort, einer anderen Zeit.

Es war das Licht des Fährmannes – das Licht des Todes.

Wer einmal dieses Violett gesehen hatte, würde nie mehr derselbe sein.

Es begann vor ungefähr acht Jahren, kurz nachdem ich meinen ersten Roman veröffentlicht hatte. Ein beinahe gescheiterter Schriftsteller, der am Ende doch noch einen Verleger und späten Ruhm fand. Ein Märchen und doch wahr. Eine Geschichte, wie man sie seinen Enkeln erzählen konnte. Von der Presse gierig aufgesogen und in die Welt geschrien, nannten sie mich plötzlich vielversprechend. Aber wie so viele Versprechen wurde auch dieses nicht gehalten. Doch genug davon.

Eines Tages lud mich mein Lektor zu einer Party bei sich zu Hause ein. Obwohl ich schon damals eine strenge Abneigung gegen solche Anlässe hatte, blieb mir leider keine Wahl. Eine Menge Leute, die sich gerne in den Mittelpunkt stellten. Kubanische Zigarren und Kaviar. Jede Frage ein Anlass, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Versteckte Anspielungen, geschliffene Duelle in plattem Wortwitz, intellektuelle Überheblichkeit und das Ganze garniert mit Häppchen, die niemand gegessen hätte, wenn nicht jeder ein noch größerer Feinschmecker und Ästhet als der andere hätte sein wollen.

Nach meiner Ankunft wurde ich durch den Raum gereicht, wie ein Hundewelpe auf einem Kindergeburtstag.

Ich schüttelte Hände, beantwortete geduldig die tausendste Nachfrage nach der Grundidee meines Werkes und wie ich denn darauf gekommen sei, und versuchte währenddessen möglichst interessant und vielschichtig zu wirken. Die ganze Tortur bereitete mir einerseits einen nicht zu leugnenden Nervenkitzel, andererseits aber auch ein schlechtes Gewissen. Als mir der Rummel letztlich zu viel wurde, zog ich mich zurück und versuchte etwas zu essen.

So stand ich am kalten Buffet – vergeblich bemüht, mich so klein wie möglich zu machen, um mich einiger Damen jenseits der Vierzig zu erwehren. Deren erklärtes Ziel war es, den armen Schriftsteller verbal zu überrennen, mich regelrecht tot zu quatschen. Bei der Abwehr dieser Attacken hätte ich beinahe den jungen Mann am anderen Ende des Raumes übersehen. Er war etwa in meinem Alter, mir jedoch in der Kunst der Unsichtbarkeit offenbar weit überlegen. Schlussendlich war es wohl gerade diese Aura der Abwesenheit, die mich auf ihn aufmerksam machte. Es schien, als wäre dort, wo er stand, ein großes Loch mitten im Raum. Nicht, dass rein äußerlich etwas Besonderes an ihm gewesen wäre: Mittellange, blonde Haare, die in leicht fettigen Strähnen ins Gesicht hingen, waren nicht besonders anziehend. Dennoch beschlich mich eine gewisse Ahnung. Und als er zu mir herübersah spürte ich, dass dies nicht unsere letzte Begegnung sein würde. Minuten später verlor ich ihn aus den Augen.

Ein Strudel von belanglosen Gesprächen, zu Themen, an die ich mich kurze Zeit später nicht einmal erinnern konnte, begann mich erneut unter die Oberfläche zu ziehen. So versank der Rest des Abends in diffusem Nebel. Nur der einsame Fremde blieb mir im Geiste haften.

Gegen Morgen, als sich die Party ihrem Ende näherte und nur noch wenige Gäste durch die Räume geisterten, übermannte mich die Neugier und ich kam nicht umhin, meinen Lektor nach dem Namen des Unbekannten zu fragen. Ich begann damit, diesen in allen Details zu beschreiben und stellte zu meiner Überraschung fest, dass die einzig nötige Information jene über den Sitzplatz des Unbekannten war. Offenbar hatte mein Lektor einige Erfahrung mit dieser speziellen Person.

»Er sitzt immer genau an dieser Stelle«, bemerkte er mit leichter Belustigung in der Stimme. »Auf all meinen Partys.«

Ich erfuhr, dass es sich bei diesem Mann um einen gewissen Jack Wagner handelte, einen gebürtigen Amerikaner der mit seinen Eltern, beides Soldaten, vor vielen Jahren ausgewandert war.

Auch eine Warnung bekam ich mit auf den Weg. Wagner sei ein Exzentriker allererster Güte. Ein hervorragender Schriftsteller, der unter Pseudonym einen äußerst erfolgreichen Roman veröffentlicht hatte, aber offensichtlich einem schleichenden Wahnsinn anheimgefallen war, der jeden in seinem Umfeld langsam vergiftete. Alles in allem eine Person, mit der man privat besser nichts zu tun hatte.

War mein Interesse an Wagner zuvor ein leichtes Glimmen in kalter Asche gewesen, so loderte es nun, gleich einer Stichflamme, heiß auf. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich schon, dass ich mehr über ihn erfahren wollte. Ein Schauer lief mir über den Rücken, aber ich ließ es für den Moment dabei bewenden. Lediglich den Namen des Buches ließ ich mir von meinem Lektor noch geben.

Die Tage vergingen und ich begann den Grundstein für einen neuen Roman zu legen. Die ersten Seiten waren für mich immer die schlimmsten. Zwar hatte man dabei alle Freiheiten, aber leider auch keinen klaren Kurs. So sehr einem die Freiheiten die Möglichkeit gaben, etwas wahrlich Großes zu schaffen, so leicht konnte man sich auf dem offenen Ozean auch verirren und niemals zurückfinden.

Eines Tages – ich hatte Wagner beinahe schon vergessen – klingelte es spät in der Nacht an meiner Tür. Es war zu jener Zeit nicht ungewöhnlich, mich auch im Morgengrauen noch am Computer vorzufinden – auf Buchstaben konzentriert und ringend um Worte. Erst als die Türglocke das dritte Mal läutete, begriff ich, woher dieses Geräusch überhaupt kam. Nur mit einem Morgenmantel bekleidet, sah ich von der Arbeit auf und ging zur Türe. Ich hatte mit meinem Lektor gerechnet, vielleicht auch dem einen oder anderen Freund, der mir betrunken einen Besuch abstatten wollte. So blickte ich sehr verwundert, nachdem ich die Türe öffnete und jener junge Mann vor mir stand, um den meine Gedanken so lange gekreist waren.

Er befand sich augenscheinlich in einem mitleiderregenden Zustand. Die langen Haare vom Regen durchnässt. Die Kleidung, bestehend aus Maßanzug und Krawatte, am hageren Körper hängend, wie an einer Vogelscheuche. Das Bild war auf eine bitterböse Art witzig. So, als hätte der Schauer ihn auf dem Weg zu einer wichtigen Besprechung erwischt.

Trotz seines offensichtlich aufgelösten Zustandes stellte er sich in aller Höflichkeit bei mir vor. Er drängte nicht, die Wohnung zu betreten und gab sich sehr gelassen. Obwohl er mir den Grund seines Erscheinens nicht verriet, bat ich ihn einzutreten und führte ihn zu einem Stuhl neben dem großen Kachelofen in meinen Wohnzimmer. Sodann reichte ich ihm trockene Kleidung und ein Handtuch. In jener Nacht erschien mir das völlig normal und vertraut. Nicht eine Sekunde kamen mir Zweifel, ob ich das Richtige tat.

Nachdem er sich abgetrocknet und umgezogen hatte, bot ich ihm ein Glas meines besten Rotweins an und setzte mich in den weichen Ohrensessel vor den Kamin. Erst danach wagte ich die Frage zu stellen, die mir unter den Nägeln brannte, seit er durch meine Tür getreten war. Was hatte ihn zu mir geführt, obwohl wir uns gar nicht kannten?

Er blickte mich lächelnd an und antwortete, dass er meine Blicke auf der Party sehr wohl bemerkt habe, es fehlte ihm lediglich der Mut, seine sichere Ecke zu verlassen und mich anzusprechen. Vielmehr hatte er sich mühsam durch seine wenigen Freunde meinen Namen verschafft und diesen Besuch lange geplant. Auf die Frage, warum er denn nun gerade jetzt hier sei, antwortete er, dass ihm meine Ge- schichten gut gefallen hätten, auch jene, die nur in billigen Zeitschriften als Kurzgeschichten abgedruckt worden waren und er gerne mit mir plaudern wollte. Meinen Roman hatte er noch nicht gelesen.

Obwohl ich spürte, dass mehr dahinter stecken musste, schwieg ich über meine Zweifel und redete stattdessen über neue und alte Werke, über unsere Ziele als Schriftsteller und vielerlei andere Dinge. Die Zeit verging so schnell, wie sie es nur tat, wenn man sich bestens amüsierte und es war lange nach Mittag des folgenden Tages, ehe er mich wieder verließ.

Von da an blieben wir in loser Verbindung: Er kam vorbei, wir redeten und er ging wieder. Obwohl wir über alles Mögliche sprachen, kam ich ihm nie wirklich nahe. Wann immer es um seine neuesten Pläne als Schriftsteller ging, erwachte er zu blühendem Leben und konnte stundenlang ohne Punkt und Komma reden. Wenn ich das Thema aber auf Privates lenkte wurde er still, schien in sich zu versinken, so als gäbe es neben dem Schriftsteller keinen Menschen unter seiner Haut. Er wirkte dann verloren und einsam.

Was mich an Jack besonders faszinierte war seine Art der Konversation. Makellos, elegant und mit wohl bedachten Argumentationen von bestechender Logik. Oft fragte ich mich wie mein Lektor auf die absurde Idee gekommen war, dass dieser Mann an einer Geisteskrankheit litt. Er war geistig so wach und rege wie ein Mensch nur irgendwie sein konnte. Dass ein solcher Mensch sich und seine Umwelt vergiften sollte, blieb mir unverständlich. Dabei hätte ich den Sturm sehen müssen, der da vor meiner Veranda aufzog. Es lag alles vor mir, sozusagen »zwischen den Zeilen«. In der Art wie seine Augen unruhig umherschweiften, als würden sie den Raum nach etwas durchsuchen, das nur er sehen konnte. Wie er manchmal schneller zu sprechen begann, gehetzt und atemlos. Doch ich bemerkte es nicht.

Die ersten Böen des herannahenden Sturmes wurden spürbar, als Jack eines Abends völlig atemlos vor meiner Haustür stand und mit lautem Klopfen und panischen Rufen Einlass verlangte. So wie ein Zugvogel wusste, in welche Richtung er im Herbst zu fliegen hatte, so ahnte ich instinktiv, dass dieses Ereignis in direktem Zusammenhang mit dem stand, was er mir bisher verschwiegen hatte. Ich öffnete die Tür und ließ meinen sehr derangierten Freund hinein – mein eigenes Schicksal dicht auf seinen Fersen.

Um Luft, Worte und Selbstbeherrschung ringend, stolperte er ins Wohnzimmer und hinterließ eine dunkle Spur feuchter Erde auf dem teuren Teppich.

Ohne ihn eine Sekunde aus den Augen zu lassen, folgte ich ins Wohnzimmer und setzte mich ihm gegenüber auf die Couch. Eine kleine Ewigkeit des Schweigens verging. Er schluckte immer wieder laut, ließ mich glauben, dass er endlich etwas sagen würde, nur um dann doch wieder in beschämtes Schweigen zu verfallen. Dabei zupfte er nervös an seinem Hemd, was meine Neugier nur steigerte und beinahe in Ungeduld umschlagen ließ. Schließlich wagte er es doch und mit ängstlichem Blick, fast so als wäre ich es, der ihn in Panik versetzt hatte, sah er zu mir auf.

»Ich weiß, dass du dich fragst, was mit mir los ist.« Seine ganze Verlegenheit manifestierte sich in einer unbeholfenen Geste mit den Händen, die wohl eine Entschuldigung ausdrücken sollte.

»Leider kann ich mich nicht gut verstellen. Und Geheimnisse konnte ich nie gut bei mir behalten.« Er senkte den Blick und fuhr mit stockender Stimme fort: »Es gibt da eine Sache von der du wissen solltest. Aber versprich mir bitte, dass du mich zu Ende sprechen lässt, bevor du mich aus deiner Wohnung und deinem Leben wirfst.«

Er sah wohl, dass ich widersprechen wollte, winkte daher energisch und kopfschüttelnd ab. »Nein, versuch es erst gar nicht. Du wirst mich auslachen, wenn du alles gehört hast.«

Wie ich ihn so betrachtete – ein zitterndes Nervenbündel von Kopf bis Fuß –, fragte ich mich, ob mein Lektor nicht doch Recht gehabt hatte. Vielleicht war mein Freund doch wahnsinnig geworden? Angewidert schob ich den Gedanken beiseite. Nein, egal wie es ihm ging: Er war mein Freund – ein lieb gewonnener Gesprächspartner –, und nichts konnte daran etwas ändern. Also gab ich ihm mein Ehrenwort und er begann, mit atemloser Stimme seine haarsträubende Geschichte zu erzählen:

»Ich habe, wie andere auch, Dinge getan, auf die ich nicht sonderlich stolz bin. Meistens habe ich aber gute Gründe dafür gehabt.« Er sah zu mir herüber, wohl um sich zu versichern, dass ich ihm wirklich zuhörte. »Während der Arbeit an meinem ersten Buch hat es angefangen. Wenn du es gelesen hast, wirst du sicher wissen, dass es eine Albtraumreise durch okkulte Zirkel und der Suche nach Erlösung ist.«

Schweigend begegnete ich seinem Blick. Ich hatte das Buch gelesen und – auch wenn ich es so nicht ausgedrückt hätte – seine Beschreibung war treffend. Dieses Buch, brillant geschrieben, knapp und atmosphärisch dicht, hatte mich noch mehrere Tage nach der Lektüre beschäftigt. Eine Albtraumreise. Sehr treffend.

»Es sollte ein gutes Buch werden«, bemerkte er schulterzuckend. »Ich wollte endlich Erfolg haben. Um in die Thematik hineinzufinden, hatte ich andere Bücher gelesen, ohne Erfolg. Die Theorie des Stoffes brachte mich nicht weiter. Natürlich hätte ich es dabei belassen können, doch ich wollte mehr! Was die Recherche für ein Buch betraf, war ich immer sehr gründlich, aber das konnte ich nicht.« Unruhig sah er zum Fenster. »Kannst du das schließen?«, fragte er schließlich.

Zwar wusste ich nicht, was ihn daran beunruhigte, aber ich tat, worum er mich gebeten hatte; zog sogar die Vorhänge zu, was ihn ungemein zu beruhigen schien.

Er nickte dankbar und fuhr mit seiner Erzählung fort: »Schließlich fand ich sie. Oder vielleicht wäre es richtiger zu sagen: Sie fanden mich. Eine Gruppe von Personen, die mit dem Okkulten wesentlich mehr Erfahrung hatten als ich. Irgendjemandem war wohl aufgefallen, dass ich Fragen stellte und Bücher auslieh, die üblicherweise unbeachtet in Regalen herumstanden. Möglich, dass sie ständig alles beobachten und auf eine Gelegenheit warten. Ich weiß es nicht ...«

Seine Stimme wurde mit jedem Wort leiser und ich konnte förmlich spüren, wie er geistig wegdriftete, von den Gedanken überwältigt.

»Wer sind die?«, fragte ich, um ihn zurückzuholen.

Mit gerunzelter Stirn ließ er sich meine Frage durch den Kopf gehen, ehe er nickte und antwortete: »Du würdest sie nicht erkennen. Nicht auf der Straße. Ganz normale Menschen, wie du und ich. Nun... vielleicht nicht wie ich. Unter ihresgleichen sind sie aber ganz anders. Dabei strahlen sie eine Art Autorität aus, weil sie wissen, dass sie in etwas eingeweiht sind, wovon sonst niemand auch nur den Schimmer einer Ahnung hat. Wenn du genau hinsiehst, auf den Straßen, dann kannst du ihre Symbole erkennen. Die Städte sind voll davon, an jeder Ecke. Manche Symbole sind Warnungen. Andere sind Hinweise und Wegbeschreibungen; getarnt als Graffiti, verschmutzte Stellen an den Wänden, oder sonstige Schmierereien. Aber sie sind da. Und sie haben eine Bedeutung.«

Meine Verwunderung muss wohl offensichtlich gewesen sein. »Sie sind eine Art Bruderschaft«, fügte Jack erklärend hinzu und nickte vielsagend. »Und sie behaupten eine lange Tradition zu haben, vielleicht zurück bis zu den ersten Menschen überhaupt. Sie sagen, dass man ihre Zeichen in allen alten Bauwerken finden kann.«

Während seiner Ausführung musste er wohl bemerkt haben, dass ich immer weiter von ihm weggerückt war, eher instinktiv als mit berechnender Absicht. Doch ich spürte dieses Unbehagen in mir. Und irgendwie begann ich tatsächlich zu glauben, dass dieser Mann vollkommen verrückt war, vielleicht sogar gefährlich. Jack blickte mich traurig an und nickte resigniert mit dem Kopf.

»Es ist okay ... du bekommst Angst vor mir.«

Ohne meine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: »Natürlich habe ich gedacht, das wäre alles nur Theater. Lichter, Rauch und das alles. Aber sie nahmen mich mit. Auf eine Reise in Tiefen, die ich vorher nie gekannt hatte. Alles lief so unglaublich gut. Ich kam mit dem Buch voran wie nie zuvor. Und die nächtlichen Treffen, die Theorie über das, was hinter der Welt verborgen lag, das alles war einfach ein ... Riesenspaß. Damals.« Er sah erneut zum Fenster hinüber. Seine Blicke gruben sich förmlich in den Stoff der Vorhänge, als würde er versuchen, sich hindurch zu brennen – zu sehen, was auf der anderen Seite verborgen war. Ein Seufzer entsprang seiner Brust. »Bis zu dem Zeitpunkt, als sie mir einen Vorschlag machten. Sie sagten, dass es da draußen noch Dinge gäbe, die jenseits jeder Vorstellungskraft lagen. Dass ich mir danach wie ein Kind im Sandkasten vorkommen würde, das zum ersten Mal den großen Baukran bemerkt. Wahrscheinlich habe ich sie so angesehen wie du mich jetzt; mit einer Mischung aus Angst, Neugierde und Abscheu. Aber ich bin kein starker Mensch, lasse mich gerne zu etwas hinreißen. Verdammt, es war wie eine Sucht. Und ich wollte mehr, immer mehr!«

Wieder hielt er inne, doch diesmal nicht, um mich traurig anzublicken. Nein, in seinem Blick lag etwas Fiebriges, Dunkles. Es waren die Augen eines Junkies, der sich nach einer Droge verzehrte, die Augen eines Ungeheuers und sie brannten vor Gier.

Für eine Sekunde hielt der Eindruck, dann kippte er und der alte Jack war wieder da – zusammengesunken, erschrocken. Bestürzt blickte er mich an und schüttelte verzweifelt den Kopf.

»Es tut mir leid. Manchmal versinke ich in den Erinnerungen, dann bin ich wieder dort.« Dieses »dort« sprach er flüsternd aus und ein Ausdruck von Ekel trat in seine Züge. »Du bist der Einzige mit dem ich darüber sprechen kann, die Anderen sind alle längst fort.«

Schluchzend rollte er sich in dem Sessel zusammen. Ich weiß nicht mehr warum, aber aus irgendeinem Grund wollte ich diese Geschichte zu Ende hören. Ich wollte wissen, was ihn so zerstört hatte. Also tat ich das Einzige, wozu ich imstande war: Ich legte ihm meine rechte Hand auf die Schulter und war einfach nur da. Ich weiß nicht, wie lange wir in dieser Position verharrten – ich zu ihm hinübergebeugt, meine Hand auf seiner Schulter, er zusammengerollt, das Gesicht tief in den Polsterstoff gedrückt. Immer wieder versuchte ich ihn anzusprechen, eine Reaktion zu bekommen. Aber es dauerte lange, beinahe eine kleine Ewigkeit, dann endlich setzte er sich auf, sprach aber kein Wort. Ein angebotenes Getränk lehnte er ab, ließ das Glas auf dem kleinen Couchtisch stehen, als würde es gar nicht existieren. Nur seine geröteten Augen suchten wieder nervös das Wohnzimmer ab, fixierten jeden Schatten zweimal. Er war ein furchterregender Anblick: Die Haare standen wirr von seinem Kopf ab, tiefrote Augen und Spuren getrockneter Tränen, die er nie weggewischt hatte, auf seinen Wangen.

Mit vorsichtig formulierten Worten gelang es mir schließlich, den Rest der Geschichte aus ihm herauszulocken. Doch vielleicht hätte ich es bleiben lassen sollen.

Ein Zittern lag in seiner Stimme, als er den Bericht fortsetzte: »Ich war neugierig ... oder einfach nur gierig! Also habe ich »ja« gesagt, ohne zu fragen, worum es eigentlich ging.«

Wieder schüttelte er den Kopf und blickte mich entschuldigend an. »Mein Buch war immer dabei. Jedes Wort, jede Bewegung wurde darin aufgezeichnet. Sonst war ich immer nur mit zwei oder drei von ihnen zusammen gewesen, diesmal war es eine ganze Gruppe. Auch jene, denen ich bislang nie begegnet war. Sie übten eine unglaubliche Faszination auf mich aus. Wie hätte ich mich weigern sollen? Ehrlich gesagt fiel es mir im Traum nicht ein, die Dinge zu hinterfragen. Ich war wie in Trance. Wir fuhren mit den Autos hinauf in den Norden, in eine der abgelegensten Gegenden, die man heute noch finden kann. Irgendwo um Crystal Lake herum.« Er machte eine wegwerfende Geste in meine Richtung. »Versuch erst gar nicht, den Ort auf einer Karte zu finden. Der ist nirgendwo verzeichnet.«

Ich konnte nicht sagen, was mich mehr ängstigte: Die wilde Kraft, mit der er mich unvermittelt an den Schultern packte, der irre Blick in seinen Augen oder sein kehliges, beinahe tierisches Lachen, das einen Schauer über meinen Rücken jagte. Es war ein Anfall und so schnell vorbei, wie es begonnen hatte. Entsetzt über sich selbst ließ er sich schluchzend in den Sessel zurückfallen.

»Sie zeigten mir einen Ort voller Symbole. Tief unter der Erde. Danach führten sie mich auf eine Lichtung. Dort sollte es geschehen oder zumindest haben sie mir das so erklärt. Fragen wurden keine mehr beantwortet. So stand ich also auf der Lichtung und wartete, während ringsum die Dämmerung heraufzog und sich schwer auf die Kronen der Bäume legte. Solche Bäume hast du wirklich noch nie gesehen. Alt und starr, unverrückbar. Und sie flüsterten miteinander im Wind. Dort oben wehte ein beständiger, kalter Wind.«

Mir war als würde ich den Wind selbst spüren, obwohl ich sicher in meinem Haus auf der Couch saß. Und ich konnte den Wind in Jacks Stimme hören, welche allmählich in die Unendlichkeit verweht wurde, immer leiser.

»Mit einer gespenstischen Langsamkeit wuchsen die Schatten der Bäume ins Unermessliche. Eine Art kriechende Dunkelheit, der man nicht entfliehen konnte, bis die ganze Lichtung ein Trog war – ein Behältnis, eigens für diese Dunkelheit. Ich war dumm, gedankenlos, zu sehr damit beschäftigt, neue Eindrücke für mein Buch zu gewinnen. Schließlich führten mich die Anderen in die Mitte der Lichtung und bildeten zwei Kreise um mich herum. Ein Symbol jenes unterirdischen Ortes, den wir zuvor besucht hatten: Zwei Kreise und im Innersten ein Punkt.«

Wieder stockte mein Gast in seiner Erzählung. Gedankenverloren malte er das Symbol mit seinem Zeigefinger auf die Lehne des Sessels. Zwei Kreise und einen Punkt. Immer und immer wieder. Schließlich sah er zu mir auf, ein befremdliches Glitzern in seinen Augen. Offenbar erwartete er eine Reaktion. Vielleicht schallendes Gelächter – unter normalen Umständen hätte er das auch bekommen –, doch von dem Moment an, da ich das Funkeln in seinen Augen gesehen hatte, waren es keine normalen Umstände mehr. Diese Augen hatten Dinge gesehen, die nicht für menschliche Augen bestimmt waren.

»Es geschah lautlos«, fuhr er schließlich fort, da ich nicht reagierte. »Wie ein samtener Vorhang legte sich die Dunkelheit über die Lichtung. Sie war das substanzielle Dunkel, überall um uns herum. Sie lag auf meinen Augen, ich atmete sie ein und sie durchdrang jede Pore meines Körpers. Doch das war nicht alles: Viel schlimmer und gruseliger war die Dunkelheit, die in mein Herz eindrang; die Dunkelheit, die in mir war.«

Plötzlich sprang er auf und begann unruhig im Raum auf und ab zu laufen. Dabei hielt er aber in seiner Erzählung nicht eine Sekunde inne. In seiner Stimme lag so eine Gewalt, so eine Inbrunst, dass sich seine Nervosität auch auf mich übertrug. In meinem Inneren hin und her gerissen zwischen der Gewissheit, dass ich Jack aus dem Haus werfe sollte – schon um meiner geistigen Gesundheit willen – und der plötzlichen Unruhe, die dem Wunsch entsprang, zu hören wie es weiterging, konnte ich nur eines tun: Dasitzen und ihm zuhören.

»Du kannst dir keine Vorstellung von dem Ort machen an dem ich war, schwebend im Nichts. Alles was ich war, hatte sich einfach aufgelöst. Je mehr Zeit verging, umso transparenter wurde die Dunkelheit, doch richtig lichtete sie sich nie. Ich sage dir, ich habe die Welt hinter dem Spiegel gesehen. Wie durch Rauchglas sah ich die seltsamsten Bilder, mehr Gefühle denn optische Eindrücke. Ich konnte das Alter der Welt spüren – Äonen dunkler Zeitalter. Und etwas sprach zu mir: Millionen finsterer Stimmen in der Nacht. Sie trugen mich in eine Höhle, so groß, dass wohl die ganze Welt hineingepasst hätte. Die Wände waren schwarz, durchzogen von silbrigen Adern. Die glänzten und funkelten als würden sie fließen wie Blut durch die Adern eines Körpers. Ich schwebte hinab, knapp über den Boden der Höhle. Tropfsteine wuchsen dort empor, manche so groß und breit wie ein Hochhaus, andere dünn und spitz. Doch da war auch etwas anderes. Als ich über den Boden glitt waren sie plötzlich da, überall um mich herum.«

Ich konnte spüren, dass mein Freund jetzt nicht mehr bei mir, sondern mit seinem Geist an einem fernen, dunklen Ort festsaß. Glasige Augen blickten durch mich hindurch, sahen nur mehr das Grauen seiner Halluzination oder zumindest, was ich zu jenem Zeitpunkt für eine Halluzination hielt.

Was haben sie diesem armen Mann nur eingeflößt, dachte ich bei mir.

»Zuerst erkannte ich sie gar nicht. Hielt sie für ein weiteres Flackern dieser silbernen Adern in den Wänden. Doch dann sah ich sie: menschliche Gestalten, furchtbar verzerrt. Es müssen Milliarden gewesen sein. Überall krochen sie durch das Gestein, drückten ihre schreienden, verunstalteten Gesichter zu mir hinaus. Ihre Hände, von lebendem Stein umschlossen, reckten sich mir entdecken, Worte durchschossen mich wie Pfeile. Die Gestalten im Fels erzählten mir ihre Geschichten. Von uralten Dingen, älter als jede bekannte Legende oder Sage. Sie gaben ein beklagenswertes Schauspiel, jenseits dessen, was wir uns vorstellen können. Meine Begleiter hingegen spielten mit jenen armen Seelen im Stein – jagten sie, trieben sie zusammen. Warnungen wurden mir zugeflüstert, aber auch Versprechungen. Sie kannten meine tiefsten Sehnsüchte, meine verbotensten Gelüste. Nichts was ich bin, war oder jemals sein könnte, schien ihnen verborgen zu bleiben.«

Ich starrte meinen Freund an. Sein Gesicht war zu einer Fratze der Angst geworden, bar jeder Menschlichkeit. Dass er mit mir spielte – mir einen Bären aufband –, schloss ich aus. Entweder erzählte er die Wahrheit oder er hatte den Verstand verloren. Dazwischen gab es nichts.

Melancholie schlich sich in seine Stimme. »Ich trieb weiter hinunter, den abschüssigen Höhlenboden entlang, bombardiert von den Gedanken dieser armen Seelen, bis ich an ein Wasser gelangte. Einen dunklen Fluss, der träge dahinfloss wie zähes Öl, schwarz und schmierig. Ein kleiner Bootssteg, morsch und windschief, hing mehr schlecht als recht über die spiegelglatte Oberfläche hinaus. Eine kleine Laterne am Ufer spendete genug Licht, um die Fähre zu sehen, die in der Brühe trieb. Dort stand er: gekleidet in einen wallenden, schwarzen Umhang, eine Kapuze über den Schädel gezogen. Dürre, verbogene Finger ragten aus den Ärmeln des Umhanges hervor und hielten eine weitere altmodische Lampe, einen quadratischen Klotz mit vier großen, runden Glasscheiben an den Seiten. Es war der Fährmann, der Verräter – und gleichzeitig der Träger ihres Lichtes.«

Ich beugte mich zu Jack hinüber, starrte ihn ungläubig an und flüstere ihm eindringlich zu: »Wessen Licht?«

Für einen Sekundenbruchteil kehrten seine Augen in die Gegenwart zurück und schüttelten den glasigen Blick ab. »Jene, die die armen Seelen im Stein gefangen halten. Oh nein, unser begrenzter Verstand kann sicher nicht erfassen, wie furchtbar es sein muss, so lange Zeit gefangen zu sein. Doch sie haben mir davon erzählt – von ihrer Qual seit Anbeginn der menschlichen Existenz. Doch auch sie wurden müde, träge, teilten das Bestehende in zwei Sphären: Ihre eigene und den unwissenden Rest ringsum. Dennoch brauchen sie uns, die Leidenschaft der kurzen Explosion, die Ekstase, die unsere Existenz darstellt. Wir Menschen sind der Wirt auf dem diese Schmarotzer leben. Die Ironie ist, dass unser Geist – jenes Futter nach dem sie sich verzehren – gleichzeitig eine Barriere gegen ihr Eindringen in unsere Welt darstellt, denn wir sind es, die die Mauern der Realität errichtet haben. So halten wir sie fern, seit Ewigkeiten schon. Verbannen jene Wesen an den ausgefransten Rand des Daseins. Dort lauern sie, wie Haie in seichtem Gewässer, und holen sich jene, die sich zu weit hinauswagen: Die Verrückten, die Wahnsinnigen, jene, die gerade geboren werden und jene, die im Sterben begriffen sind. Dort an diesen Ufern am Rande des Daseins war ich und habe den Träger des Lichtes gesehen. Und sie ... sie haben mir zugeflüstert, dass er mich holen wird ... irgendwann.«

Er deutete zuerst auf sich selbst und dann auf mich. »Menschen wie wir sind es, die sie wollen, denn wir haben den sicheren Strand verlassen und sind ins tiefe Wasser hinausgewatet, haben uns herbeilocken lassen.«

Seufzend lehnte er sich zurück, einen dünnen Schweißfilm im Gesicht. Nun konnte ich die Dunkelheit ins Jacks Gesicht sehen.

»Was auch immer mich dort unten in der Höhle gepackt hatte, verschwand allmählich aus mir; zog sich Schritt für Schritt zurück, jedoch äußerst widerwillig. Ich konnte spüren, wie sie sich an mich klammerten, wie sie versuchten, mich zu halten und schlussendlich kreischend kapitulierten. Zusammengekauert wie ein scheues Kitz kam ich auf der Waldlichtung zu mir. Stunden mussten seitdem vergangen sein. Ich war alleine, fror erbärmlich und hatte schreckliche Angst. Meine Begleiter waren nirgendwo zu sehen. Was aus ihnen geworden sein mag, weiß ich bis heute nicht. Vielleicht zog sie dieselbe Kraft in die Höhle hinunter und sie fanden nicht mehr herauf. Es könnte auch eine Falle für mich gewesen sein. Wie dem auch sei – seit jener Zeit trage ich viele dunkle Geheimnisse mit mir herum. Ich habe mein Buch schreiben können. Ein sehr erfolgreiches Buch, wie du sicher weißt. Aber mein Leben wurde zerstört!«

Er schien mit seiner Erzählung am Ende und setzte sich wieder in den Sessel. Mit schwirrendem Kopf nahm ich all meinen verbliebenen Mut zusammen (und das war wirklich nicht mehr viel) und stellte die Frage, die mir schon seit geraumer Zeit auf der Zunge brannte: Warum er sich denn nun noch ängstigte? Ich sah ihm fest in die Augen und erklärte im Brustton der Überzeugung, dass ihm diese Leute ganz gewiss einen üblen Streich gespielt hatten. Schließlich gab es sehr wohl Substanzen, die in der Lage waren, solch lebendige Halluzinationen hervorzurufen und keine davon hatte auch nur das Geringste mit dem Übernatürlichen zu tun. Rückblickend war ich wie ein Kind, das bei einem Gewitter im See schwamm und dabei einem anderen Kind zu erklären versuchte, warum die Blitze auf keinen Fall – niemals und unter keinen Umständen gerade jetzt – ins Wasser schlagen konnten. Ich beendete meinen kleinen, überheblichen Vortrag mit der Anmerkung, dass, wenn er wirklich in jener Höhle gewesen wäre, er wohl nicht wieder auf der Lichtung hätte erwachen können.

Zitternd saß er da, beide Hände vor dem Gesicht, nur eine kleine Ritze freilassend, damit er mich sehen konnte, und schüttelte den Kopf.

»Nein, nein! Der Träger des Lichts, des Todeslichts, eilt schon umher auf Erden. Du kennst mein dunkelstes und grausamstes Geheimnis noch nicht. Ich habe dir erzählt, dass die Dunkelheit von mir abfiel und wie sie sich dagegen wehrte, doch das ist nur die halbe Wahrheit.«

Er schluckte schwer. »Es gibt einen Ort von dem sie nie gewichen ist, wo sie sich eingenistet hat und gedeiht!«

Bedeutungsschwer blickte er mich an und deutete auf sein Herz. Nie in meinem Leben lief mir je ein solcher Schauer über den Rücken und lieber würde ich mich vierteilen lassen, als diesen Augenblick noch einmal erleben zu müssen. Meine Reaktion mit einem Seufzer quittierend fuhr er fort: »Dort lebt sie weiter, denn wer einmal mit dieser Dunkelheit in Berührung kam, wird sie nie wieder los. Und deshalb weiß ich, dass er gekommen ist. Eines Nachts, nach dieser seltsamen Begebenheit, erwachte ich schweißgebadet aus traumlosem Schlaf. Irritiert setzte ich mich auf, wusste nicht einzuordnen, was gerade mit mir geschah. Weder ein Albtraum noch ein Geräusch im Haus hatte mich geweckt. Bis ich auf meine Brust blickte. Dort war sie, die pulsierende Dunkelheit. Selbst im finsteren Schlafzimmer war sie tausendmal intensiver als die Schwärze der Nacht. Und ich spürte, wie der Lichtträger das Portal öffnete und durch die Wand stieg, hinüber in unsere Welt. Die Dunkelheit in meinem Herzen ist eine Verbindung – und mein Untergang. Durch sie wird er mich finden, es gibt keine Rettung. Dennoch musste ich mit jemandem darüber reden. Vielleicht war es nur das letzte Klammern an einen Strohhalm, aber vielleicht wird er auch von mir ablassen, wenn wir zu zweit sind. Keiner kann sagen, wie er reagieren wird.«

Es wurde ruhig in meinem Kaminzimmer, sehr ruhig. Man hätte wahrscheinlich das Fallen einer Stecknadel gehört, aber auf jeden Fall das Ticken der Uhr in der Küche, zwei Zimmer weiter. Und unser Atmen. Es war das Atmen zweier Psychopathen, die kurz davor waren, vollkommen durchzudrehen. Ich war mir sicher, dass ich noch an Ort und Stelle den Verstand verloren hätte, wenn ich nicht aufgestanden wäre, um etwas zu sagen. Ich weiß nicht mehr warum, aber ich bot ihm an, für einige Zeit bei mir zu wohnen. Obwohl ich zuerst nicht glaubte, dass er mein Angebot annehmen würde, sagte er überraschend schnell und enthusiastisch zu. Für einen kurzen Augenblick wich die Resignation echter Freude. Ich konnte durch den Schleier aus Angst, Einsamkeit und Panik den richtigen Jack Wagner sehen; einen jungen Mann, mit dem ich sehr wohl eine lebenslange Freundschaft hätte eingehen können, wenn da nicht diese speziellen Umstände gewesen wären.

Es würde zu weit führen, die nächsten Tage ausführlich zu beschreiben. All diese kleinen Dinge, die passierten, wenn man plötzlich mit einem fremden Menschen zusammenlebte; manche banal, andere einschneidend. Die Anfälle von Panik, unter denen Jack litt, und die vielen schlaflosen Nächte, wenn er wie ein Geist im Haus umherirrte und mich wach hielt, weil er Angst vor dem Alleinsein hatte. Aber alles in allem kamen wir überraschend gut miteinander aus, obwohl ich ehrlich zugeben musste, dass es mir in den ganzen Wochen, die er bei mir lebte, nie mehr gelungen war, den Schleier dunkler Wolken, der ihn stets zu verhüllen schien, zu lüften. Vielmehr hatte ich den Eindruck, als wäre er langsam auf dem besten Wege das Schicksal, welches er für sich als auserkoren ansah, zu akzeptieren. Und jeder, der schon einmal über sich selbst erfüllende Prophezeiungen gehört hatte, wusste, was für fatale Folgen solch eine Handlungsweise haben konnte. Die ersten Tage verbrachte ich mit beinahe hilflosen Versuchen, ihn aus seiner Angst und Lethargie zu reißen. Ich schlug Ausflüge vor, sogar ein gemeinsames literarisches Projekt.

Aber sein Enthusiasmus währte nur kurz und war schon bald gar nicht mehr zu entflammen. Sorge wich zunächst Ärger, doch bald stumpfte ich ab gegen die Anfälle meines Gastes, gegen die Visionen aus der Welt hinter dem Spiegel, wie er sie hartnäckig nannte. Ich wusste nicht mehr, wann es war – vielleicht im vierten Monat unserer Hausgemeinschaft –, als ich begann die Tür vor ihm zu verschließen, sobald die Sonne im Meer verschwunden war.

Irgendwann war es wieder einmal besonders schlimm mit ihm. Ein ungewöhnlich kalter, langer und depressiver Tag lag über Stadt. Ein Tag, an dem die Menschen mit gesenkten Köpfen durch die Fußgängerzonen huschten, nur mehr Kinder sich an Schaufenstern erfreuten und jeder, der nicht unbedingt musste, keinen Fuß über die Türschwelle setzte. Mein Haus, sonst ein warmer behaglicher Ort, schien kaum angenehmer zu sein, als der bleigraue Himmel über uns. Sogar die Vögel weigerten sich aufzusteigen und blieben in den Bäumen, wo sie zusammenkauerten und warteten. Ich verbrachte den ganzen Tag in meinem Arbeitszimmer vor dem Bildschirm, doch die Worte, die sonst so mühelos flossen, wollten mir nicht einfallen. Irritiert und auch ein wenig beunruhigt verfolgte ich durch das Fenster den Lauf der Sonne. Aber auch dieser Anblick, sonst bunt und immer wieder eine Erfrischung meine Seele, erschien sonderbar fahl und grau. Eine seltsame Energie lag in der Luft.

Jack riss mich aus den trüben Gedanken, als er mehrmals an meine Tür klopfte und versuchte, mich dazu zu bringen, sie für ihn zu öffnen. Aber ich wollte hart bleiben – zu seinem Besten. Keines seiner Argumente vermochte mich zu erweichen. Schließlich zog er auch wirklich unter lautem Gejammer ab und schlich durchs Haus, von einem Zimmer zum anderen. Es ist schon sonderbar, wie laut Schritte in einem vollkommen ruhigen Haus klingen, wenn man sich auf nichts anderes konzentrierte. Als ich schließlich einschlief, wurde ich von seltsamen Albträumen geplagt.

Ich träumte, dass ich in einem dunklen Gang stand. Ich kannte den Gang: Es war mein Elternhaus, an einem weit entfernten Ort, den ich seit mindestens fünfzehn Jahren nicht mehr besucht hatte. Ich versuchte, das Licht anzumachen, fand jedoch den Schalter nicht. Also stieg ich blind eine Treppe hinauf. Unsicheren Schrittes erreichte ich das obere Ende und ging weiter durch mein Kinderzimmer, durch das man ins Elternschlafzimmer gelangte. Dort angekommen versuchte ich wieder Licht anzumachen, doch eine innere Stimme warnte mich davor und ich wusste, wenn ich es tat, würde ich Dinge sehen, die nie gesehen werden durften. Dennoch griff ich nach dem Schalter und ... erwachte schweißgebadet.

Noch immer das laute Pochen meines Herzens im Ohr, fragte ich mich, was der Sinn dieses Traumes gewesen sein mochte. Viele Jahre war ich nicht mehr in diesem Haus gewesen. Meine Familie war lange vor meiner Volljährigkeit dort ausgezogen, dennoch hatte ich mich in dem Traum an jede Einzelheit erinnern können. Selbst an Details, die mein erwachsenes Ich längst vergessen hatte.

Mit Entsetzen wurde mir klar, dass es nicht mein Herz war, welches ich da pochen gehört hatte, sondern Jack an der Tür. Mit nackter Panik in der Stimme rief er um Hilfe, flehte mich an, ihm zu öffnen. Vor den Fenstern tobte ein wilder Sturm. Ich sah ganze Äste im Mondlicht umherwirbeln, Millionen von Blättern, die vom Wind hin und her geschleudert wurden und immer wieder... Jacks heisere Schreie.

Wütend erhob ich mich aus meinem Bett, stellte die Nachttischlampe an und suchte nach meinen Pantoffeln.

Jedoch blieb mir nicht mehr genug Zeit die Tür zu erreichen und Jack die Meinung zu sagen, wie es mein Plan gewesen war. Auf halbem Weg ging das Licht im Zimmer mit einem kurzen Flackern aus. Wie von Geisterhand erlosch auch der Lichtschein der Straßenlaternen und selbst der Mond schien dunkler zu werden. Jack verstummte abrupt. Schwere Schritte, Trauerglocken gleich, hallten die Treppe hinauf. Jemand kam! Wie gebannt starrte ich auf die Wand. Nur wenige Zentimeter zwischen mir und meinem Hausgenossen und doch schienen wir Welten voneinander entfernt zu sein, fast so, als wäre er schon hinter dem Spiegel. Ich weiß nicht, ob ich etwas hätte ändern können, selbst wenn ich eingeschritten wäre, doch ich blieb stehen und blickte durch die Wand –tatsächlich durch die Wand. Jack stand auf der anderen Seite des Spiegels und ich konnte ihn sehen, sollte ihn sehen.

Es war der Lichtträger, der da kam. Jack folgte ihm mit seinen Blicken, wie ein Frosch, der mit einer Taschenlampe angeleuchtet wurde. Der Fremde war ein Jüngling, keinen Tag älter als siebzehn, doch seine Kleidung war unverwechselbar. Eine schwarze, lange Kutte, die leicht über den Boden streifte und eine Kapuze, die er weit in sein Gesicht hineingezogen hatte. Lange, dünne Finger blitzen unter den Ärmeln hervor. Wie Spinnenbeine, dachte ich.

In der linken Hand, fest umklammert, hielt er eine alte Bergmannslampe. Sie hing an einer rostigen Kette und schaukelte mit jedem seiner Schritte. Durch die schmutzigen Bullaugen der Lampe flackerte der Schein einer Kerze. Es war jedoch kein normales Licht. In einem bläulich-violetten Schein funkelnd, der mir in den Augen brannte, fraß es sich förmlich durch das Gewebe der Wirklichkeit hindurch. Es bereitete mir physische Schmerzen und doch konnte ich mein Gesicht nicht abwenden. Ich war wie hypnotisiert. Langsam zersetzte der Schein des Lichtträgers die Realität, löste mein Haus um uns herum allmählich auf. Eine andere Wirklichkeit begann darunter hervorzuschimmern, so als wäre dies alles nur eine Bleistiftzeichnung über einem Bild gewesen. Und der Lichtträger radierte sie unbarmherzig hinfort. Ich wusste sofort wo wir waren. Am Ufer des Flusses, den Jack mir in jener schicksalsträchtigen Nacht beschrieben hatte. Die Höhle war in der Tat unendlich, alleine bei diesem Anblick wurde mir schwindlig. Eines hatte er jedoch vergessen zu erwähnen: Das unerträgliche Kratzen von Fingernägeln auf Fels. Unaufhörlich hallte dieses Schrecklichste aller Geräusche von den Felsen wider. Es waren die Gefangenen, die vergeblich versuchten, sich aus dem Fels zu graben. Ihr Anblick bereitete mir tiefste Verzweiflung und ich verstand, wieso Jack den Lichtbringer als Verräter bezeichnet hatte. Mit einem Schlag wurde mir alles klar. Er war der Fährmann gewesen und dies sein Fluss, jene dunklen Wasser namens Styx. Sein Boot lag immer noch träge in der öligen Flüssigkeit. Eigentlich viel zu tief. Ich sah genauer hin und erkannte wieso: Goldmünzen stapelten sich darauf. Der Obolus war entrichtet worden, aber niemand erreichte mehr die andere Seite. Der Fährmann war zum Lichtträger jener uralten Scheußlichkeiten geworden, die jenseits der Mauer darauf warteten, unsere Welt in Besitz zu nehmen. Die Seelen im Stein gaben ihnen Kraft, ihr Schmerz war Nahrung, nicht mehr und nicht weniger.

Tränen rannen mir über die Wangen, als ich die Ungeheuerlichkeit dieser Entdeckung erkannte.

Beinahe hätte ich Jack vergessen. Erst sein Flehen und Betteln, bar jeder Menschlichkeit, pure Verzweiflung, erinnerte mich an ihn. Ich sah hinüber. Der Lichtträger ging langsam auf meinen Mitbewohner zu und mit jedem Schritt sank Jack mehr in sich zusammen, in gespenstischer, lautloser Zeitlupe. Der Verräter hatte ein überlegenes Lächeln auf den Lippen, wusste er doch, dass ihm seine Beute nicht würde entkommen können. Schließlich sank Jack endgültig zu Boden und blieb liegen. Die Kerze erlosch und der Lichtträger kniete neben Jack nieder. Ohne Hast setzte er die Lampe auf die Brust meines Freundes und mit vor Entsetzen geweiteten Augen wurde ich Zeuge, wie die Seele aus Jacks Körper gezogen wurde. Eine kleine Wolke aus schwarzem Licht glitt zögerlich ins Innere der Lampe. Instinktiv wusste ich, dass Jack nun wirklich und wahrhaftig ausgelöscht worden war; nicht tot, sondern ausradiert aus der Existenz, aufgesaugt und den uralten Grotesken als Nahrung zugeführt.

Der Lichtträger nahm seine Lampe und wandte sich der Fähre zu. Die Höhle begann zu verblassen. Die Welt kehrte zurück, die Barriere schien wieder hergestellt. Doch bevor er endgültig aus meiner Welt verschwand, wandte sich der Fährmann noch einmal um und blickte mich an. Er war zu dem geworden, was ich erwartet hatte. Einem grässlichen Abbild des Todes. In seinen tiefen Augen brannte ein Versprechen. Das Versprechen auf ein Wiedersehen in der Zukunft. Ich wusste es nicht recht zu deuten, nur eines war klar: Es bereitete mir furchtbare Angst.

Als er fort war, erinnerte nur noch Jacks Leiche vor der Tür an die grauenvolle Begegnung. Nachdem ich einigermaßen die Fassung wiedergefunden hatte, rief ich die Polizei und gab an, verdächtige Geräusche im Haus gehört zu haben. Natürlich erzählte ich ihnen nicht, was ich erblickt hatte. All dies sollte mein Geheimnis bleiben, niemand sollte je davon erfahren. Jack war tot, auch wenn der Gerichtsmediziner nicht zu sagen vermochte, woran er eigentlich gestorben war – auch dies blieb also ein Rätsel.

Ich habe das Haus, die Stadt, sogar das Land verlassen. So weit weg, bis die Schatten jener Tage nicht mehr ganz so lang und dunkel erschienen. An manchen Tagen konnte ich mir sogar einreden, sie für immer hinter mir gelassen zu haben. Ich glaubte tatsächlich, die Vergangenheit ausgelöscht zu haben.

Ich lebte also, irgendwie. Glücklich in meiner Einsamkeit. Bis heute.

Ich hätte es spüren müssen, schon an diesem Morgen. Es war dieselbe Energie wie damals, als Jack starb. Hätte ich das Haus nicht verlassen, wäre ich dem Lichtträger vielleicht nicht begegnet. Der Mann schien zwar alt, auf einem ebenso alten Fahrrad, aber ich glaube nicht, dass es für dieses Wesen ein Problem darstellt, alles zu sein, was es will. Und ich glaube, ich weiß auch, warum er wieder da ist: Er will sein Versprechen erneuern.

Wer weiß, vielleicht reicht es ja schon mit jemandem zusammen zu sein, der die Dunkelheit in sich trägt, um selbst davon befallen zu werden. Wir Menschen sind sicher ein guter Nährboden für das Dunkle.

*

Seit heute weiß ich, dass mich der Träger des Lichts mit seiner alten Lampe eines Tages holen wird.

Vielleicht ist das sogar gut so, denn ich habe hier und heute beschlossen, nicht so wie mein alter, toter Freund zu werden: halb wahnsinnig vor Angst, immer auf der Flucht.

Ich werde leben, schreiben und mit beiden Beinen in der Welt stehen.

Wenn er dann kommt – und das wird er – gehe ich in dem Wissen, alles getan zu haben, wozu ich imstande war. Vielleicht ist das die einzige Methode, ihm zu entgehen. Verfolgt werden wir doch alle irgendwie.

Der Vergangenheit kann man nicht entkommen.